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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

622-623

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Zimmermann, Rolf

Titel/Untertitel:

Moral als Macht. Eine Philosophie der historischen Erfahrung.

Verlag:

Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2008. 235 S. 8° = Rowohlts Enzyklopädie, 55693. Kart. EUR 12,95. ISBN 978-3-499-55693-7.

Rezensent:

Hartmut Rosenau

Der Konstanzer Professor für Philosophie zeigt in seinem jüngst erschienenen Buch einen interessanten, wenn auch noch nicht geklärten Zusammenhang von (politischer) Ethik und Geschichtsphilosophie auf (187), indem nicht nach dem Sinn oder Ziel der Geschichte, sondern nach ihren treibenden Motiven gefragt wird. Diese werden im Guten wie im Bösen in der Moral als Ausdruck eines »Willens zur Macht« (F. Nietzsche) gefunden, auch wenn sie – je nach eigener moralischer Überzeugung – befremdlich erscheinen mag (7). »Das bedeutet keine Reduktion der Geschichte auf Moral, sondern die Einsicht, dass handfeste soziale, ökonomische oder politische Interessen und Konflikte offenbar der Einbettung in psycho-moralische Selbstverständnisse bedürfen« (13). Fatal wirkt sich dabei jede quasi-religiöse oder säkulare Erlösungsperspektive aus, die nach einem neuen eschatischen oder utopischen Menschentypus Ausschau hält, demgegenüber andere Menschengruppen als defizitär dem Gang der Geschichte anheimgestellt oder gewaltsam – wie z. B. im Nationalsozialismus, Bolschewis­mus, Stalinismus oder auch Jungturkismus – eliminiert werden (8).
Die moralische Bearbeitung und Kritik solcher Motive innerhalb einer »Phänomenologie der historischen Erfahrung« (8) bleibt al­lerdings sowohl methodisch als auch inhaltlich problematisch und vage. Die Leitbegriffe, die Z. in diesem Zusammenhang anbietet: »Gattungsbruch«, »Gattungsversagen« und »Gattungszersplitterung« (10), sind zwar von einem gewissen intuitiv-heuristischen Wert, aber weder phänomenologisch hergeleitet noch ethisch qua­lifiziert. Die Differenzierungen zwischen einer partikularistischen »Erlösungsmoral« und einer universalistischen »Integrationsmoral« (11) bleiben zu pauschal, um z. B. angesichts heilsuniversaler Ge­schichtstheologien vor dem Hintergrund antiker (Origenes) bis mo­derner (Tillich) Apokatastasis-Modellen einerseits und apokalyp­tischer Theodizee-Szenarien andererseits überzeugen zu können. Unklar bleibt auch die Empfehlung der auf formal Unbedingtes setzenden Ethik Kants in Zeiten postmodernen Pluralismus und Perspektivismus als Zentralperspektive (13.100) ohne weitere Diskussion des zum Relativismus führenden Historismus-Problems von Troeltsch bis Lyotard.
Dass die geschichtlich wirksamen Akteure jeweils auf Grund ihrer moralischen Überzeugungen handeln, die ihrerseits in einem impliziten oder expliziten Menschenbild, letztlich in einem reli­giösen oder philosophischen Wirklichkeitsverständnis im Ganzen gründen (17), ist sicherlich richtig, aber wie und nach welchem Maßstab sollen diese »gewichtet« werden? Und wer oder was ist eigentlich Subjekt der Geschichte?
Die historischen Fallstudien, die Z. beispielsweise zu Auschwitz, Holodomor und Hiroshima vorlegt (17 ff.), sind eindrücklich und klärend. Aber ihre geschichtsphilosophische oder gar ethische Interpretation bleibt verhältnismäßig oberflächlich. Z. spricht in diesem Buch mehr als Historiker und Politikwissenschaftler, weniger als Philosoph. Natürlich können wir uns inzwischen alle auf die zu respektierende »Würde« des Menschen verständigen (21), aber worin sie besteht und wer ab wann und bis wann ihr Träger ist, bleibt doch immerhin strittig. Hier lässt Z. eine eigene anthropologische bzw. geschichtsphilosophische Position vermissen. Das Bekenntnis zur »Einheit« und »Universalität« (24 u. ö.) des Menschengeschlechts, das auch und mit Recht den großen Weltreligionen attestiert wird (56), bleibt daher noch unbegründet, wenn auch erstrebenswert. Aber auch diese Kriterien stehen, wie Z. betont, innerhalb, nicht außerhalb eines offenen geschichtlichen Veränderungsprozesses (42) und bleiben somit relativ, wenn »Geschichte als moralische Selbstauslegung des Menschen« (90) verstanden und das Anderssein der Anderen als anthropologische Konstante angenommen wird (94 f.). So können natürlich auch der »Ehrenkodex« der SS und die nationalsozialistische Moral mit ihren Werten von »Treue, Gehorsam, Ehre oder Kameradschaft« (120) gerechtfertigt werden.
Z. mahnt zu Recht eine selbstkritische Sensibilisierung gegen­über moralischen Überzeugungen an, ohne allerdings ein eindeu­tiges Kriterium zur Unterscheidung von Glaube und Aberglaube, richtig und falsch etc. anzubieten. Am ehesten hilft hier noch der Millsche Utilitarismus als selbstkritische universalistische Moral ohne Letztbegründungsansprüche und Heilsvisionen (132) in Zeiten nihilistischer Gottesferne, wie sie Nietzsche festgestellt hat (145). Eine solche universalistische Moral brauchen wir – das lehrt die Ge­schichte (159) –, aber sie ist noch nicht in Sicht (199), auch dann nicht, wenn wir unseren Blick, wie es Z. vorschlägt, auf die »Menschenrechte« lenken (161). Denn gerade weil Menschenrechte ein spezifisches Menschenbild und dieses wiederum ein spezifisches religiöses oder philosophisches Wirklichkeitsverständnis voraussetzen, kann und muss man leider bestreiten, »dass es keine prinzipiellen kulturellen Hindernisse gibt, um Menschen – wo auch immer – in die Lage zu versetzen, sich die universalistische Menschenrechtsmoral zu eigen zu machen« (169). Somit ist Z.s Buch eine lesenswerte Problemanzeige, die aber noch nicht zu überzeugenden Lösungen vordringt.