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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

618-620

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Mitchell, Jolyon

Titel/Untertitel:

Media Violence and Christian Ethics.

Verlag:

Cambridge: Cambridge University Press 2007. 329 S. gr.8° = New Stud­ies in Christian Ethics, 30. Geb. US$ 99,00. ISBN 978-0-521-81256-6.

Rezensent:

Torsten Meireis

Die Frage nach der Rolle und Wirkung von ›Gewalt in den Medien‹ gehört zu denjenigen Themen, die periodisch ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken – vor allem dann, wenn spektakuläre Ge­waltverbrechen scheinbar oder tatsächlich der Ikonographie oder den Handlungsvorlagen medialer Vorbilder entsprechen.
Der Edinburgher Theologe Jolyon Mitchell, der als ehemaliger BBC-Produzent und Journalist professionelle Erfahrung im Umgang mit der Medienindustrie vorweisen kann, unternimmt es, die Thematik in einen weiteren Rahmen einzustellen. In seinem instruktiven Buch beschäftigt er sich nicht nur mit der Gewaltdarstellung in fiktionalen Werken wie Filmen oder Computerspielen, sondern auch mit der journalistischen Repräsentation von Gewalt in Wort und Bild. Nebenbei erläutert M. die zentrale Bedeutung der Ausblendung bestimmter Formen von Gewalt in Berichterstattung und Werbung. Die Pointe seines Ansatzes besteht dabei in der rezipientenorientierten ethischen Analyse, die gleichsam ›rezeptionsethisch‹ verfährt. Nicht die Tugenden und Pflichten der Produzierenden stehen im Vordergrund, sondern die Möglichkeiten eines durch christliche Moral gekennzeichneten produktiven Um­gangs mit den medialen Angeboten (154). Dabei setzt M. auf die in der christlichen Tradition und Gemeinschaft verwurzelten Praxen von Zeugnis, Gastlichkeit, Freundschaft und Gottesdienst – zentral geht es ihm dabei um die bewusste Förderung kleinerer und größerer Gemeinschaften, die der ›cascade of media violence‹ (291) eigene Bewertungskategorien, Erinnerungen und Traditionen entgegensetzen können, um nicht von ihr überwältigt zu werden.
Einleitend erläutert M. seinen Begriffsgebrauch. Unter ›Medien‹ möchte er die modernen Massenkommunikationsmittel, aber auch ihre Produzenten verstehen; in die Definition von Gewalt in­kludiert er sowohl die unmittelbare, schädliche Einwirkung physischer Kraft wie Galtungs strukturelle Definition (8–10). Als theologische Gewährsleute für seinen Zugang benennt er Iris Murdoch und Stanley Hauerwas (10–11) und betont, dass der genaue und kritische Blick auf die ambivalente Geschichte des christlichen Umgangs mit Bild und Text der Analyse moderner Gewalt in den Medien zu Grunde liegen muss.
Der folgende Hauptteil des Werks ist in sechs Kapitel aufgeteilt. Die drei Kapitel des ersten Abschnitts behandeln den Umgang mit realer Gewalt in Berichten, die drei folgenden Kapitel des zweiten Abschnitts erörtern die Rezeption fiktionaler Gewalt, darauf folgt eine Zu­sammenfassung. Zunächst widmet sich M. der Frage nach der Erinnerung: Was wird erinnert, was vergessen und wie gestaltet sich der Umgang mit dem Erinnerten? Dabei wird deutlich, wie das Interesse der Produzenten an Nähe, Spektakularität und Vereinfachung und die damit einhergehende Dekontextualisierung von Gewalt einer ›Mitleidsermüdung‹ ( compassion fatigue, 33) Vorschub leisten und zur Ausblendung ganzer Themenbereiche (z. B. häusliche Gewalt) und Regionen (z. B. südliches Afrika) führen können. Als Antidot empfiehlt M. die Pflege jüdisch-christlicher Erinnerungskultur, die einerseits ›gefährliche Erinnerungen‹ (J. B. Metz) bewahrt, die aufklärend und subversiv wirken (45–47), andererseits aber Erinnerungsgemeinschaften konstituiert (55–57), die einen veränderten Umgang mit den Nachrichten ermöglichen.
Das zweite Kapitel ist der Inszenierung und Re-Inszenierung durch die ›Rahmung‹ (›framing‹) von Nachrichten gewidmet, wobei M. unter Bezug auf Erving Goffmann und andere mit der ›Rahmung‹ sowohl die Inszenierung einer Nachricht durch Journalisten und Produzenten als auch die Bezugsrahmen der Rezipienten meint, mit deren Hilfe diese die Informationen einordnen (69). Ziel seiner Argumentation ist hier die Sensibilisierung dafür, dass alle Nachrichten stets inszeniert sind, weiterhin die Analyse der konkreten christlichen Deutungspraxis (›re-framing‹) am Beispiel von us-amerikanischen Predigten zum 11. September 2001 und der neutestamentlich überlieferten Deutung des Todes Jesu sowie der Vorschlag einer gemeinschaftlichen, antieskapistischen Deutungspraxis im Rekurs auf die biblischen Erzählungen (108).
Dies wird im dritten Kapitel auf den Fotojournalismus ausgedehnt, indem M. nicht nur die Verantwortung der Fotografen und Redakteure, sondern die Macht eines ethisch gebildeten (ethically literate) Publikums betont, das durch öffentlichen Druck Einfluss entfalten kann. Im Falle des christlichen Publikums muss es M. zufolge im Rekurs auf die eigenen Traditionen inhaltlich um eine Deutung gehen, die die Aufmerksamkeit in praktischer Absicht auf den Nächsten und Gott richtet und so in ›compassion expressed through action‹ (155) mündet.
Im zweiten Abschnitt des Buches widmet sich M. den fiktiven Genres, wobei er durch seine Betonung des inszenierten Charakters von Nachrichten und Bildern bereits verdeutlicht hat, dass die Grenzen hier fließend sind (14).
Die nächsten beiden Kapitel sind der Gewalt im Film gewidmet. M. erläutert im vierten Kapitel, das sich auf Filmproduktion konzentriert, Winks Theorie der ›erlösenden Gewalt‹. Im Interesse einer Differenzierung dieser zwar einschlägigen, aber monolinearen These bietet er dann eine kleine Geschichte des ›violent film‹, die von den experimentellen Anfängen, in denen die Sensation den zentralen Reiz des neuen Mediums ausmacht, über eine Phase strikter Regulierung hin zu den verschiedenen Formen der ›ultra-violence‹ des Kinos von Peckinpah oder Tarantino führt, die mit der Ausbildung einer regelrechten Gewaltästhetik einhergeht, deren strikte Ablösung von ethischen Erwägungen er problematisiert (194). Dabei macht M. deutlich, wie viele andere Formen Gewalt im Film neben der von Wink analysierten Gestalt annehmen kann.
Das fünfte Kapitel erörtert die Rezeption von Filmen und Computerspielen. Dabei vertritt M. die These, dass eine simple ›Filmgewalt produziert Zuschauergewalt‹-These oder gar eine Zensurforderung der Komplexität des Themas nicht gerecht werden. Er bietet einen kurzen Überblick der empirischen Rezeptionsstudien, bleibt aber bei der hier zu gewinnenden Einsicht – eindeutige Kausalität ist nicht feststellbar, gegenseitige Verstärkung von problematischer Persönlichkeit in problematischer Umgebung und Ge­waltkonsum jedoch durchaus (214) – nicht stehen. In Rekurs auf die Arbeiten René Girards sucht er vielmehr die These zu stärken, dass gewalthaltige Filme und Spiele als Indikatoren für den jeweiligen kulturellen Status der anthropologischen Gewaltneigung zu sehen sind. Weil es hier um ein anthropologisches Grundphänomen geht, greifen Zensur- oder Individualisierungsstrategien zu kurz – vielmehr, so M., ist hier auf die narrative Vergegenwärtigung Gottes als des Durchbrechers der Gewaltspiralen zu rekurrieren (223–229).
Im sechsten Kapitel wendet sich M. einem Thema zu, das nur selten mit Gewaltdarstellung in den Medien assoziiert wird: der Reklame. In kritischer Auseinandersetzung mit der Kulturkritik der Frankfurter Schule meint M., dass die hochkreative und wirksame Werbeindustrie strukturelle Gewalt in mannigfacher Form fördere. Als angemessene christliche Reaktion empfiehlt er aber weder Rückzug aus der Werbewelt noch Wi­derstand gegen sie, sondern einen aufgeklärten und kritischen Umgang mit ihr, der auch die Werbeaktivitäten der Kirche in den Blick zu nehmen erlaubt.
M. bietet in konzentrierter Form eine luzide Darstellung me­dienethischer Problemlagen im Zusammenhang mit dem Thema Gewalt. Die besondere Stärke des Ansatzes liegt in der rezeptionsethischen und handlungsorientierten Ausrichtung, die die Verantwortung der Produzierenden gleichwohl nicht ausblendet. Es spricht für den anregenden Charakter der Studie, dass sie weitere Fragen provoziert: etwa, ob die Machtverhältnisse zwischen den hervorragend organisierten und ausgestatteten Industrien der Me­dienwelt und den vergleichsweise fragilen Gemeinschaften, de­nen ihr Publikum angehört, tatsächlich ausgeglichen sind. Die Betonung der Handlungsmöglichkeiten eines aktiven Publikums legt weiterhin die Frage nach dem Umgang mit jenen Technologien nahe, die dem Publikum tatsächlich Partizipation und Produktion erlauben. Denn hier zeigen sich neue Probleme – wie etwa die kabellose Übertragung ›selbstproduzierter‹ Gewaltfilme von Handy zu Handy auf den Schulhöfen oder die Einstellung von demütigenden und missachtenden Inhalten im Web 2.0 –, aber auch neue Chancen, wie die Zunahme unabhängiger Öffentlichkeit.
Insgesamt bietet das Werk einen hervorragenden, anregenden und nebenbei sehr gut zu lesenden Überblick, so dass ihm eine baldige Übersetzung zu wünschen wäre.