Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

616-618

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Meireis, Torsten

Titel/Untertitel:

Tätigkeit und Erfüllung. Protestantische Ethik im Umbruch der Arbeitsgesellschaft.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2008. XV, 603 S. 8°. Kart. EUR 49,00. ISBN 978-3-16-149647-9.

Rezensent:

Uwe Gerber

Arbeit ist ihrer Definition, ihren Versprechen und Erwartungen und ihren Subjekten nach problematisch geworden (1. Kapitel): Ihre ›Vergeistigung‹ als Theorie und Politik ohne körperliches Ar­beiten bei Aristoteles und in der vita contemplativa z. B. bei Thomas von Aquin wurde in der reformatorischen ›Profanisierung‹ der co­operatio Dei als Bewährung der Berufung zum Erwerb des Notwendigen in der Nächstenliebe aufgebrochen ins Weltlich-Leib­liche und auf den Nächsten hin. Die Aufklärung hat eine Ver­herrlichung der Arbeit gebracht: »Arbeit macht das Leben süß« (Burmann; Schillers ›Glocke‹) und bringt Anerkennung. Mit der In­dustrialisierung wird Arbeit auf die tariflich usw. mehr oder weniger gesicherte Erwerbsarbeit für die Masse fokussiert, die heute durch Verknappung, Prekarisierung u. a. in die Krise geraten ist (4 ff.). Zur Kennzeichnung dieses Umbruches reichen we­der herkömmliche pragmatische noch kommunikative und system­theoretische Arbeitsbegriffe aus (24 ff.). Dabei sollen die Engführung auf Erwerbsarbeit als auch die Überdehnung für alle Tätigkeiten vermieden und gleichzeitig die Fragen »eines individuellen und gemeinschaftlichen guten Lebens wie der als verallgemeinerbar gedachten Prinzipien sozialer Gerechtigkeit – im Jargon der Ethik: des Guten und des Richtigen – bearbeitet werden« (60).
Um die Arbeitsfrage theologisch in den Blick zu bekommen (2. Kapitel), stellt der Vf. die Konzeptionen von Luther, Ritschl, Barth, Rich und Sölle kritisch diskutierend vor und vermisst – außer bei Sölle (220) – eine weiterführende integrative Verhältnisbestimmung des universalisierenden ›Richtigen‹ und des partikularen (begründenden) ›Guten‹ (92–221). Für diese Aufgabe wählt der Vf. ein heuristisches kulturelles Deutungsmuster ›Arbeit‹ mit fünf Problemfeldern, denen die Trias vom unverfügbaren Guten (als Gottes Verheißung und Geistwirken), vom intendierten und vom realisierten Guten quergelegt wird.
Dieses Schema ist dann im 3. Kapitel »Tätigkeit und Erfüllung« leitend für die materialethische Entfaltung der fünf Problemfelder »in evangelischer Perspektive« im genannten Zueinander des bezeugten, argumentativ ›richtig‹ zu vermittelnden partikularen Guten und des verallgemeinernden Richtigen:
1. Arbeit ist Umgang mit der Natur und der eigenen Körper-Natur angesichts der Ressourcen-Endlichkeit, der Fragilität der ökologischen Systeme, der Konzeptualisierungen von Natur (z. B. in Biowissenschaften) und entsprechender Entscheidungswege. Vom unverfügbaren Guten her, wie es in Bildern vom Paradies und der versöhnten Schöpfung erzählt wird (275), geht es nicht mehr um das dominium terrae, sondern um eine schöpfungsorientierte Ökologie in Selbstbegrenzung (311 ff.).
2. Arbeit bringt Anerkennung, aber heute fokussiert auf Erwerbsarbeit, so dass von der Gottesliebe her den ebenso erfüllenden Tätigkeiten wie Hausarbeit und Pflege als ›Frauensache‹ gleichermaßen Anerkennung entgegenzubringen ist. Vom »unverfügbar Guten« her lassen sich »Entsprechungen« formulieren im Sinne geistgewirkter Wahrnehmung des Nächsten in seiner Würde und als Achtung dieser Person in Wertschätzungen seiner ›guten Werke‹ und als »Dienst am Nächsten«, indem ich »einen seiner Zwecke zum Zweck meiner Tätigkeit mache« (367).
3. Chancen der Teilnahme qua Arbeit weiten sich bei »gleicher Berufung zur Freiheit im Horizont des Reiches Gottes« in der modernen Demokratie einerseits aus und bringen Pluralität, »In­klusion und Integration« (399 ff.), und andererseits werden in unserer Gesellschaft laufend mehr Menschen von Erwerbsarbeit ›freigesetzt‹, in Leiharbeit getrieben, aus dem Alltagsleben ausgeschlossen. Unter dem Aspekt der »gleichen Berufung zur Freiheit im Horizont des Reiches Gottes« müssen zur Wahrung der personalen Identität, Würde, Lebensqualität usw. die gegebenen Bildungs- und Förderungsmaßnahmen vor allem für Jugendliche verbessert, eine »nichtkonditionale Grundsicherung« eingeführt u. a. m. zur Sicherung guten Lebens für alle bereitgestellt werden (429).
4. Waren früher Adel, Landbesitz, Loyalität u. a. Grundlagen materieller Teilhabe, so ist bis in die 1960er Arbeit als Ware zum primären Teilhabe-Mittel geworden. Dann setzte eine rapide Verknappung auskömmlicher Arbeitsplätze bis heute ein, paradox zur gesteigerten Produktivität (430 ff.). Christliche Position wird demgegenüber das »unverfügbare Gute« in einem »Leben in Fülle« wirksam sehen, das alle Güter zum gemeinsamen ausreichenden Gebrauch verwendet bei einem Mindestmaß an Wohlstand einerseits und andererseits einer Begrenzung des individuell verfügbaren Kapitals. Hier muss um der Möglichkeit eines guten Lebens willen im intendierten Guten auf »Chancengleichheit im Bereich politischer Partizipation« gesetzt werden bis hin zur Einführung einer generellen Grund- und Notfallsicherung, damit niemand ›herausfällt‹ (486 ff.).
5. Gutes Leben war Theorie und Politik und vita contemplativa. Die Reformatoren verstanden Arbeit (als ›Beruf‹) als cooperatio Dei in Form des Nächsten-Dienstes. Im kapitalistischen Fordismus gereichte Arbeit beinahe zur Glückseligkeit. Dann ist Erwerbs-Arbeit in die Aufspaltung von postliberaler Unterordnung des guten Lebens unter die Erwerbsarbeit (z. B. Graf), postsozialer Identifizierung beider (z. B. Negt, Hengsbach) und postlaboristischer Trennung beider (z. B. Ruh) geraten (501 ff.). Aus christlicher Perspektive bringt der Vf. fünf Attribute guten Lebens im Sinne von Geist-Wirkungen in Anschlag: z. B. Glückseligkeit der Makarismen als Vorschein der Erlösung im gegenwärtigen Leben; Befähigung zum Tun des Gerechten von Gott aus; das tätige Leben selbst als gutes Leben, z. B. im Erleben der Freude; Charismen im Sinne von Paulus; Liebe als Gottes-, Nächsten- und nachgeordnete Selbstliebe. Das »intendierte Gute« konkretisiert sich in dieser Ausrichtung als »tätiges Leben im Dienst am Nächsten«, je nach der eigenen Berufung, Fähigkeit, Ermächtigung.
Um sowohl der Moralisierung des unverfügbaren Guten als auch der Spiritualisierung des intendierten Guten zu entgehen, wird auf die ›Umsetzung‹ des unverfügbaren Guten als ›Entsprechung‹ auf die Verheißung erfüllten Lebens im Nächsten-Dienst gesetzt im Wissen um die hamartiologische Situation des Menschen. Deswegen wird gefragt, »auf welchen der vielen uns unter modernen Bedingungen zugänglichen Gestaltungen des tätigen Lebens die Verheißung eines erfüllten Lebens liegt, welche Lebensgestaltung nach menschlichem Maß für Erfüllung offen ist« (513). Die damit gestellten Fragen nach dem ›Richtigen‹ in der Spannung von unverfügbar-göttlichem, menschlich intendiertem und realisiertem Guten verlangen Toleranz und Bürgertugenden wie »de­mokratischem Patriotismus«, Selbstkritik, Gemeinschaftsfähigkeit, Zivilcourage u. a. (534 ff.). In einem solchen tätigen Leben in Fülle, »das gleichwohl durch die Ruhe Gottes konstituiert und begrenzt wird, streben Protestanten nicht nach sozial distanzierendem Reichtum oder Prestige. Sie geben sich aber auch nicht mit Wohlstand oder mit bloßem Genuss zufrieden, sondern sie hoffen auf die Erfüllung, die Gott verheißen hat« (538), im Vollzug des Dienstes am Nächsten.
Einem solch umfangreichen Konstruktionswerk der Bestimmungen und den Bedingungen von Arbeit in Geschichte und Gegenwart – als Habilitationsschrift an der Universität Münster – kann man in einer Rezension nicht gerecht werden. Ich stelle einige Positiva heraus und formuliere Nachfragen. Der relativ weite, heuristische, auf konkrete Kontexte bezogene Arbeitsbegriff er­laubt es dem Vf., Arbeit aus evangelischer Perspektive in die gesellschaftlichen Prozesse des Naturumgangs, der humanen Teilnahme und Teilhabe, der Anerkennung als Person und Wertschätzung des Arbeitens so einzuzeichnen, dass die Verheißung des guten erfüllten Lebens leitend bleibt und zugleich ohne diese christliche Vorbedingung ›säkular‹ im Sinne des besten Argumentes diskutiert und gehandelt werden kann. Die darin steckende Frage lautet: Wie sind die »Entsprechungen« des unverfügbaren Guten (Verheißung Gottes) im menschlichen Leben und Zusammenleben rekonstruierbar? – Der Vf. bindet das ›Entsprechen‹ an die Wahrnehmung des Nächsten, der mich zum ›Dienst‹ zwingt und zugleich befreit. So wird das Gute nicht zur Moral und das Zwischenmenschliche nicht spiritualisiert. Zu gegenwärtigen prekarisierenden Tendenzen, Exklusionen, zur mangelnden Gleichstellung der Frauen u. a. m. formuliert der Vf. klare Optionen. Eine detaillierte Fundgrube, klare Stellungnahmen, der Versuch einer dezidiert christlichen Ethik ohne ›Doketismus‹ ... werden dieses Buch im Gespräch halten.