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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

605-607

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Lüning, Peter

Titel/Untertitel:

Der Mensch im Angesicht des Gekreuzigten. Untersuchungen zum Kreuzesverständnis von Erich Przywara, Karl Rahner, Jon Sobrino und Hans Urs von Balthasar.

Verlag:

Münster: Aschendorff 2006. X, 414 S. gr.8° = Münsterische Beiträge zur Theologie, 65. Geb. EUR 54,00. ISBN 978-3-402-02520-8.

Rezensent:

Stephan Schaede

Die im Sommersemester 2006 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster als Habilitationsschrift angenommene Arbeit informiert nach einer über die theologische Grundorientierung, Methode und Zielsetzungen orientierenden Einleitung (1–28) in vier Kapiteln über Deutung und Bedeutung des Kreuzes bei Erich Przywara (29–118), Karl Rahner (123–228), Jon Sobrino (229–257) und Hans Urs von Balthasar (258–353). Untersucht wird bei diesen Autoren, »ob und inwiefern ein etwaig ignatianisch geprägter Kreuzesbegriff ... für die jeweilige konkrete theologische Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch ... zentrale Bedeutung hat« (9). Dabei will L. über die »konkrete ... Materialität des Kreuzes hinaus« nach »einer prinzipiellen Bedeutung des letzteren« fragen (4). Seine Autorenauswahl bestimmten deren jesuitische Herkunft, ein sie untereinander verbindendes Lehrer-Schülerverhältnis, ihre »theologische Ausstrahlung« und deren »Beheimatung in einer nachscholastischen Theologie« (10). L. führt den Nachweis, dass bei den genannten Theologen »der gemeinsame ›Formgrund‹ ignatianischer Theologie ... zu einem gemeinsamen grundlegenden Kreuzesverständnis geführt hat«, und zwar so, dass Raum für unterschiedliche Verhältnisbestimmungen von Gott und Mensch bleibt. Das ist ohne Zweifel ein interessantes systematisch-theologiegeschichtliches Programm.
Es sei empfohlen, die Lektüre des Buches mit der den Band abschließenden Zusammenfassung zu beginnen (357–383). Denn hier sind wesentliche Einsichten zusammengestellt. Zunächst verbinden die vier Theologen sechs theologische »Grundimpulse« des Ignatius, denen sie alle auf ihre Art folgen. Erstens wird das Gottesverhältnis im Horizont eines »deus semper maior« subjektiviert. Zweitens ist die Bedeutung von Analogiebildungen für ein »sprachlich-imaginative[s], interpersonale[s] und ereignishafte[s] Gegenüber von Gott und Mensch« zentral. Drittens wird unterstellt, im Bewusstsein und Gewissen ein unmittelbares »Sich-Wahrnehmen-Lassen Gottes« erlangen zu können. Viertens ist die Metapher des commerciums wichtige soteriologische Figur vor dem Hintergrund der christologischen Zentralbewegung der Ke­nose. Die Kenose erlaubt wiederum Inkarnation und Kreuz nicht als Alternative, sondern als intimen Zusammenhang zu begreifen. Fünftens wird erlösende Stellvertretung in einem ebenso exklusiven wie partizipativen Sinn gedacht. Es kommt dabei sechstens zu einem »ungleichgewichtigen Begegnungsaustausch« zwischen göttlichem und menschlichem Willensakt (357–363). Vor diesem Hintergrund teilen die vier Autoren etwa ihr Interesse an »Ge­schichtlichkeit«, die »Ablehnung einer traditionellen jesuitischen Vorstellung von der Bewusstseinsjenseitigkeit« göttlicher Selbstmitteilung, die »Grundvorstellung einer unmittelbaren Begegnung mit dem gekreuzigten Inkarnierten« oder die Integration der Nachfolge in die theologische Meditation des Gekreuzigten (363–365). Nur sorgt die »›produktive‹ Gestaltoffenheit« (375) der ignatianischen Exerzitien für gewichtige Unterschiede beim »analogisierenden« Przywara, »transzendental-existentialisierenden« Rahner, »trinitarisierenden« Balthasar und »pauperisierenden« Sobrino (380).
Gegenüber einer gestaltvergessenen Neoscholastik entdeckt Balthasar die Dimension des pulchrum für die Interpretation des Kreuzes neu. Dabei dramatisiert er die immanente Trinität in enger Anbindung an die ökonomische Trinität. Er tut dies so konsequent, dass die »theo-dramatische ...« Durchformung des »ge­samten geschichtlichen Gott-Mensch-Verhältnisses« die »inner-göttlich-kenotische ...« Urdramatik entdramatisieren muss. L. diagnostiziert: Eine überkritische Theologie der Trinität verspiele so das Deutungspotential einer kritischen Kreuzestheologie (355). Geschichte werde theologisch umgewertet, sei bloßes Abbild des innergöttlichen Dramas und bekomme so eine »repräsentationsfunktionale Bedeutung für die göttliche Trinität« zugewiesen (356). Balthasar setze zudem bei Christus zu wenig göttliches Lumen und zu viel menschliche Spezies an und stelle so den Ernst der Inkarnation in Frage (275). Zeigt sich Gott hier am Ende im Menschen Jesus zwar intensiv, wird aber entschieden zu wenig Mensch – jedenfalls für römisch-katholische Lehre? Dennoch: Balthasar besteche durch seine »bewusstseinsphänomenologische« Ausrichtung. Er bewege sich damit allerdings nur in scheinbarer Nähe zu den erfahrungsgesättigten ignatianischen Exerzitien. Denn mit seiner trinitätstheologischen »Schau göttlicher Herrlichkeit« entferne er sich von ihnen folgenreich (366.370). Demgegenüber verbindet Przywara und Rahner ihr »radikal inkarnationskenotisches Denken« (366). Przywara verfahre dabei derart radikal, dass er die Theologie in die »Krisis der Identifizierbarkeit eines glaubensanalogen Gottesbegriffes« hineinführe (379). Die sich als »Kreuzesrhythmik« vollziehende »trinitarische Rhythmik« (39) en­tpersonalisiere in problematischer Weise den Gottesbegriff. Rahner hingegen reflektiere die »religionsphilosophisch-anthropologischen Möglichkeitsbedingungen« der »schöpfungstheologische[n] Weitung« einer Begegnung mit dem Kreuz bei Ignatius (367–68). Erwähnung verdient hier L.s Interpretationsimpetus. L. urteilt, es sei verfehlt, wenn der frühe autonome gegen den späteren eher heilsgeschichtlichen Rahner ausgespielt werde. Die transzendentaltheologischen Erwägungen Rahners seien christologisch inspiriert (157). Freilich sei Rahner im Unterschied zu den »kommerzialen« Przywara und Balthasar »nachkommerzial« (373). Rahner korreliere also »Kreuzes­ereignis und Transzendenzverfasstheit des Menschen durch ... ›nachkommerzial‹ verknüpfende Existentialisierung« (376). Sobrino hingegen nehme Rahners Begriff des Realsymbols für das Kollektivsubjekt der Armen in den Dienst. Seine kritische Herausforderung liege in durch Marx provozierten sozial-ökologischen Fragen, nicht in Kant. In seiner spezifischen theologischen Reflexion der befreiungstheologischen »Option für die Armen« rezipiere er aber »inkarnationskenotisches« Denken Rahners (367–369). Dabei nehme die »ignatianische Grundgestalt des Kreuzes« die »kontextuell solidarisch-partizipatorische Gestalt« der »gekreuzigten Völker« an. Wichtig bleibt: Bei allen vier Theologen führt die Figur des »deus semper maior« nicht dazu, dass sich Gott in seiner Bestimmtheit unendlich entzieht, sondern unendlich »vertieft«. Auf Gott ist bei aller geschichtlichen Offenheit Verlass.
Die Zusammenfassung der Arbeit ist durch die Interpretationen der vorangegangenen Kapitel bestens vorbereitet. L. setzt freilich voraus, dass seine Leser mit den ignatianischen Exerzitien vertraut sind. So werden Uninformierte mit dem nicht weiter erläuterten Motiv der »dritten Woche« bzw. »dritten Wahlzeit« (208.214) kaum etwas anfangen können. Die instruktiven Deutungen der vier Hauptkapitel zu lesen, lohnt jedoch in jedem Fall. Im Detail lassen sich Anfragen formulieren, weil L. selten seine begrifflichen Be­stimmungen vor den Augen der Leser entwickelt und kaum hart am Argumentationszusammenhang der Autoren entlang interpretiert. So überzeugt nicht, wenn Rahners doch eher kritische Überlegungen zum Stellvertretungskonzept ausgerechnet für eine Stellvertretungskonzeption par excellence vereinnahmt werden (190–193). Und ist denn wahr, dass Eberhard Jüngel Przywara sowie Balthasar zwar geistreich, aber eben doch so gründlich missverstanden hat, wie L. behauptet (41.322)? Auch stören bisweilen theologiegeschichtliche Klischees. Weder ist wahr, dass der »Rekurs auf die besondere Sterbeweise« Jesu im Vergleich mit anderen Sterbeweisen in der Theologiegeschichte den Tod mythologisiert hat noch wurde regelmäßig die heroische Einzeltat leidenspsychologisch hochgeladen (160).
Insgesamt korrespondiert dem klaren Aufbau und der übersichtlichen Gliederung der Arbeit leider keine ebenso klare Sprache. Irritierend ist die nicht enden wollende Reihe von Ketzerhüten, die L. den Theologen aufsetzt bzw. dort, wo er sie für Unrecht hält, vom Kopf reißt: Bei Balthasar droht »die Tendenz zu einem Subordinatianismus« (276), bei Rahner werden trotz eines »strengen Chalkedonismus einzelne Neigungen zu einem Antiochenismus« attes­tiert (276), hingegen ist Przywara trotz seines Selbsterlösungsmo­tivs kein Semipelagianer (59–61) usw. Man würde überhaupt gerne wissen, welche Beurteilungsmaßstäbe den theologischen Urteilen L.s zu Grunde liegen. Der etwas lästigen »gewisse[n] Nähe zu Balthasars ... Wortschöpfungen« (266) – gerade sprachliche Distanz hätte sich der geneigte Leser von einer Interpretation der Texte erhofft – gesellen sich technokratisch-pretentiöse Terminologieschlachten bei: Da ist von »dionysisch-scotistischer Zuspitzung des thomanisch-sapientaltheologischen Anliegens« (68), einem »viktimal-sakrifiziellen Charakter« des Kreuzes (252) oder einer »anamnetisch-compassionalen Israeltheologie« die Rede (256). Skurrilitäten wie »israelsensible« Einsichten (257) oder »sohnliche Freiheit« (327) tun im Verein mit verklausuliert angestrengtem Satzbau ihr Übriges (327), um dieses gewiss kundig geschriebene Buch zu einer Lektüre der anstrengenderen Art werden zu lassen. Das ist schade. Wer sich aber einmal auf diesen Darstellungsstil eingelassen hat, wird durch die Lektüre um einiges klüger. Überhaupt hat L. eine lohnende Perspektive auf eine wichtige Frage vorgeschlagen. Sie ist in Zukunft für den Streit um das spezifisch Christliche einer Schöpfungslehre von Belang.