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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

599–600

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Reikerstorfer, Johann

Titel/Untertitel:

Weltfähiger Glaube. Theologisch-politische Schriften.

Verlag:

Berlin-Wien-Münster: LIT 2008. IV, 376 S. gr.8° = Religion – Geschichte – Gesellschaft, 35. Geb. EUR 39,90. ISBN 978-3-8258-7480-3.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Dieses Buch enthält 22 unterschiedlich lange Aufsätze des 1945 geborenen Fundamentaltheologen der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Die Beiträge sind zwischen 1996 und 2007 entstanden, wurden in zum Teil fachwissenschaftlichen und zum Teil populären Kontexten publiziert und werden hier – bisweilen überarbeitet und durch einen Exkurs ergänzt – wieder abgedruckt. Auch einer der beiden als »bisher unveröffentlicht« (368) gekennzeichneten Aufsätze ist bereits anderweitig erschienen (in: Evolutionstheorie – Schöpfungstheologie, hrsg. von Rolf Langthaler, Würzburg, Königshausen & Neumann 2008, 101–120), so dass am Ende nur ein Beitrag für die Öffentlichkeit wirklich neu ist.
Der Untertitel (»Theologisch-politische Schriften«), die Widmung (»Johann Baptist Metz in dankbarer Verbundenheit«) und die Einteilung des Buches geben das theologische Profil zu erkennen: Unter der Überschrift »I. Gottesvergewisserung im Paradigma einer neuen politischen Theologie« rekapitulieren zwei Aufsätze das maßgeblich von Metz initiierte Programm. Die meisten (14) Beiträge sind unter »II. Herausforderung und Wagnis der Ge­schichte« versammelt und profilieren das ethische Christentumsverständnis unter der Bedingung (post)moderner Gesellschaftsformationen. Sechs Artikel bilden den abschließenden Teil »III. Zur anamnetischen Sprach- und Denkform der Gottesrede«. Nicht in jedem Fall erscheint die Einordnung der Beiträge zwingend, was auch mit den vielen Wiederholungen zusammenhängt, die einem bei einer durchgängigen Lektüre des Buches begegnen.
In den beiden als bisher unveröffentlicht gekennzeichneten Beiträgen bezieht R. das Programm der Politischen Theologie auf aktuelle Diskurse. In dem Aufsatz »Vom Anfang im Ende. Zu einer politischen Hermeneutik des biblischen Schöpfungsglaubens« (143–165) bahnt das biblische Geschichtsverständnis einen methodischen Weg zwischen weltanschaulichem Evolutionismus einerseits und einem fundamentalistischen Kreationismus andererseits, weil der durch die anamnetische Schöpfungskonzeption hervorgehobene Zusammenhang von Schöpfung und geschichtlicher Erlösungshoffnung jeden Naturalismus ausschließt und den ethischen Sinn des Glaubens als »christliche Hoffnungspraxis« (165) herausstellt. Der schöpferische Weltwille Gottes zielt »auf eine eigenständige und – im Menschen – sich in Freiheit übereignete Welt …, in der der göttliche Heraustritt ins nicht-göttliche Dasein einen besonderen Ausdruck seiner selbst will. In der so entworfenen und strukturierten Schöpfung … ist der Mensch von Gott her dazu berufen, die Welt als Schöpfung anzuerkennen und in ihr den Schöpfer. Weil aber diese Schöpfungsbestimmung des Menschen gerade Inhalt der Bundesgeschichte selber ist, die im Ereignis der Menschwerdung des Wortes kulminiert, weil … Gott selbst ge­schichtlich den Sinn seiner Schöpfung definiert und garantiert, kann man Schöpfung nicht mehr quasi naturalistisch einem übernatürlichen Heilsgeschehen als natürliche Basis voraus- und unterordnen.« (150)
Der soteriologisch begründete und ethisch zugespitzte Ge­schichtsbegriff dirigiert nicht nur die Auseinandersetzung mit neo-naturalistischen Weltanschauungen, sondern klagt auch ge­genüber »einer ungeschichtlichen Diskursrationalität« (358) das Bewusstsein historischer Kontingenz ein, insbesondere »die Un­verzichtbarkeit von Leidenserinnerungen mit ihrem Vermissungswissen« (ebd.). Dies wird in dem Beitrag »Dialektik der Säkularisierung?« (351–365) deutlich, der sich mit den jüngsten religionstheoretischen Äußerungen von Jürgen Habermas auseinandersetzt. R. plädiert hier für »ein dialektisch-vertieftes Verständnis der ›Postsäkularität‹« (356), das einerseits die säkulare Vernunft auf die historische Genese ihres Normenbewusstseins verweist, »weil die Aufklärung mit ihrem geschichtlichen Ringen um einen öffentlichen Vernunftgebrauch selber Geschichte ist, die sich in wechselseitiger Inspiration und Kritik von Religion und sich säkulari­sierender Moderne ereignet hat.« (357) Andererseits wird daran erinnert, dass »auch die Aufklärung mit ihrem öffentlichen Vernunftgebrauch dem Christentum erst abgerungen werden musste« (359) und dass das Christentum erst »im Lichte der politischen Aufklärung« (ebd.) »die biblischen Potentiale einer ›negativen Theologie‹« (ebd.) wieder neu entdeckt hat.
Die in dem Buch versammelten Beiträge vermitteln einen guten Einblick in die große systematische Reichweite und anhaltende Popularität jenes Programms einer politischen Theologie, das der Kritik und in wohltuender Weise auch der theologischen Selbstkritik verpflichtet ist. Freilich werden auch seine Schwächen deutlich. Der Begriff des Politischen wird dominant im Sinne einer negativen Theologie ausgelegt. Affirmative Merkmale und solche, die den Gehalt der negativen Gottesrede zum Beispiel durch gerechte Verfahren positivieren könnten, bleiben unterbelichtet. Eigentümlich stumpf wird die kritische Negation, wenn die Rede auf die Kirche und die Auslegung ihrer Dogmen kommt. Nie wird auf die politisch-theologische Bedeutung der konfessionellen Ausdifferenzierung des Christentums reflektiert. Das erstaunt bei einem Autor, der so viel Wert auf die historische Erfahrung legt. Nach Einschätzung des Rezensenten findet sich hier das größte kategoriale Problem, weil der häufig beschworene Begriff der Geschichte immer schon heilsgeschichtlich konstruiert ist. Damit tut sich ein Vermittlungsproblem zu dem profanen Verständnis von Geschichte auf, dem wissenschaftliche Selbstkritik, Erinnerung an vergangenes Leiden, Schuldkultur, Sehnsucht nach universaler Gerechtigkeit sowie sittliche Impulse für eine humane Gestaltung der Zu­kunft von Haus aus nicht fremd sein müssen. Diese Hinweise mögen genügen, um darauf aufmerksam zu machen, dass die wechselseitigen Zumutungen von Vernunft und Glaube – jedenfalls für einen protestantischen Leser – wohl doch komplexer sind als die Lösungen, die in diesem Buch zur Diskussion gestellt werden.