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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

597–599

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Lengerke, Georg von

Titel/Untertitel:

Die Begegnung mit Christus im Ar­men.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. X, 357 S. 8° = Studien zur systematischen und spirituellen Theologie, 43. Kart. EUR 36,00. ISBN 978-3-429-02852-7.

Rezensent:

Ernst Feil

Seine Dissertation »Begegnung mit Christus im Armen« entfaltet Georg von Lengerke in einem breiten Spektrum. Im ersten Teil widmet er sich der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, dann der Münchener Integrierten Gemeinde sowie der in Frankreich entstandenen Gemeinschaft der Arche. Im zweiten systematischen Teil stellt er Hans Urs von Balthasar und Dietrich Bonhoeffer dar. Schon dieser Ausgang von der Praxis und ihr dienenden Reflexionen in Auseinandersetzung mit der Systematik zweier unterein­ander recht verschiedener Theologien vermag Interesse an einer Arbeit zu wecken, in der fundamental von »Gott und dem Leiden des Menschen« gehandelt wird (2). Die »Gegenwart Christi im Armen« (3) bedarf nämlich sehr wohl differenzierter Erörterung.
V. L. beginnt mit einem Vorspann und hier vor allem mit einer ersten Exegese zur Gerichtsrede Mt 25 (5) und Aussagen von Johannes Paul II. (13). Darauf stellt er die »Gegenwart des Erlösers in den (zu) Befreienden« bei Gustavo Gutiérrez dar (29). Im Zentrum stehen die nicht nur im sozialen oder ökonomischen Sinn Armen und auch nicht die einzelnen Armen, sondern alle ausgegrenzten Rassen, Klassen und Kulturen (33). Der Zusammenhang von Erlösung und Befreiung erlaubt keine Vertröstung auf ein Jenseits (38), Erlösung beginnt vielmehr schon jetzt (39). Durch die Menschwerdung existiert »das ›Profane‹ als das, was sich außerhalb des Tempels befindet«, nicht mehr (43). Der Ort für die Gegenwart Chris­ti im Armen ist nicht der Arme, sondern die Geschichte (48). Stattfinden muss eine »Bekehrung zum Nächsten«, die ebenso wohl eine »in­nerliche Begegnung« ist wie die »Veränderung der ge­sellschaft­lichen, ökonomischen, politischen und kulturellen Struk­turen« (49). Ist Gott in Unrecht und Leiden abwesend, so erweist er sich als gegenwärtig im »erlösenden Wirken des Menschen« (53). – Die Überlegungen von Ignacio Ellacuría, besonders nach seiner Ermordung aufgenommen und weitergeführt von seinem Freund Jon Sobriono, stellt v. L. unter das Motto »Die Gegenwart Christi im ›gekreuzigten Volk‹« (59), um so die Ähnlichkeit zwischen dem Schicksal Jesu und dem der Armen zum Ausdruck zu bringen (80), die pointiert als »Gleichsetzung« (in welchem Sinn auch immer) qualifiziert wird (65). Es geht dabei um die »Ent-verharmlosung Christi« im Ausgang vom irdischen Jesus (67). Das Volk aber erweist sich als »Träger der Erlösung«, in dem sich der »Triumph des Lebens« auf Grund der Auferstehung Jesu vorankündigt (70). Die Kirche der Armen aber ist »Sakrament der Befreiung« (81). – Schließlich wendet sich v. L. Clodovis Boff und Jorge Pixley zu unter dem Thema »›Option für die Armen‹ als Option für Christus« (88). Im Ausgang von der »Option Gottes« für die Armen (93) ist diese als »Sakrament« zu qualifizieren, als das »bittere« und »einzige zur Erlösung unbedingt notwendige ›Sakrament‹«, das »unbedingt universale ›Sakrament‹ der Erlösung« (97, so als Zitat). Die »Option für die Armen im solidarischen Armwerden« darf nicht vorschnell »spiritualisiert« werden zu einer »geistig-geistlichen Armut«, so wenig die »materielle oder sozio-ökonomische Armut« und die »spirituelle Armut« voneinander getrennt werden dürfen (104).
Zu diesen ausführlich belegten Positionen fügt v. L. jeweils kritische Anfragen hinzu: für Gutierrez die Frage nach der »Abwesenheit Gottes in Unrecht und Leid« (54) sowie nach der Realität des in Christus geschenkten Heils (58) und nach der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, dass Erstere nicht in Letzterer aufgeht (59), für Ellacuría und Sobrino die Frage nach der »Ineinssetzung« des Schick­sals Jesu und des gekreuzigten Volks (83), verbunden mit der Dependenztheorie (83, vgl. 63), sowie nach der Erlösung durch Christus im Armen (84), der Bedeutung der Auferstehung (85) und dem Verhältnis der Gegenwart Christi im Armen und in der Kirche (87), und zuletzt für Boff und Pixley die Frage nach der Reduzierung der Kenosis auf eine »gesellschaftliche und politische Parteinahme im neutestamentlichen Klassenkampf« (109) und vor allem nach dem Verständnis der »›Sakramentalität‹ der Armen« (110).
Intensiv befasst sich v. L. dann mit der Integrierten Gemeinde und hier vor allem mit ihrem zentralen Anliegen, die »biblische Sozialordnung« nicht zu einem »humanistischen Gebot der Nächs­ten- und Feindesliebe« einzuebnen (125). Dazu erörtert er die Rede von den »geringsten Brüdern« nach Mt 25, die in der Integrierten Gemeinde als die »Jüngerschaft Jesu und die Gemeinde« verstanden wird (138). Die Gemeinde aber stellt eine »(zu) heilende Gemeinschaft« dar (143), sie ist »Heilsraum« (146), in dem die Jesus Nachfolgenden »einander alle Wunden heilen können« (147, so als Zitat). Kritisch fragt v. L. vor allem nach dem Gemeindeverständnis, ob hier nicht Gott, der Nächste und die eigene Person zu sehr hinter der Gemeinde zurücktreten (157) und ein problematisches Verständnis von Krankheit und der (zu weitgehenden) Annahme der Möglichkeit der Heilung vorliegt (160). – Für die Arche zeigt v. L. die große Bedeutung geistig Behinderter auf, wie zahlreiche in deren verschiedenen Gemeinschaften gewonnene Erfahrungen belegen. Gerade auch ein solcher Behinderter wird zum »Abbild des lebendigen Christus« (175). Kritisch merkt er vor allem das Verständnis des »Leibes Christi« an im Bezug zum Behinderten, zur Gemeinschaft, zur Kirche und zur Menschheit (216).
Im zweiten systematischen Teil hebt v. L. für Balthasar zunächst die »›Herrlichkeitsgestalt‹ Jesu Christi im Nächsten« hervor (225), für die von einem »Hintreten Gottes an die ›Stelle‹ des Geschöpfes« gesprochen werden kann, von einer »Stellvertretung Gottes zum Menschen« (227). Durch sie wird auch der »Nächste zur ›Stelle‹ Gottes in Jesus Christus« (231). Auf Grund der »Gegenwart Jesu Christi im Nächsten« (249) und der »Gleichgestaltung« mit dem Herrn (252) nimmt der Jünger an der Stellvertretung teil (253), wie Balthasar besonders an der kleinen Therese ›vom Heiligen Antlitz‹ exemplifiziert (258). So kann er davon sprechen, dass der Arme, je »ärmer und bedürftiger« er ist, umso mehr »Sakrament Jesu Christi« ist (269, so als Zitat). Bei Balthasar wird die »Begegnung mit Christus im Nächsten« zur »Begegnung des Anderen mit Christus in mir« (275). Die »›Herrlichkeitsgestalt‹ Gottes« in ihrer Stellvertretung lässt Christus auch in den »Abgründen menschlicher Armut« finden (275), in dessen »Mitleiden« sich die christliche Liebe als »vom Jünger stellvertretene Liebe Christi« vollzieht (176).
Für Bonhoeffer hält sich v. L. vor allem an die Frühschriften, in denen Christus als »Grenze« (279) und als »Mitte« qualifiziert wird (282). Von Christus her wird der Andere »Person« (283), für die Chris­tus zugleich »Mitte« und »Mittler« ist (287). Grundlegend ist für Bonhoeffers Theologie, dass der direkt auf Gott gerichtete Akt, der »actus directus«, uneinholbar und vorrangig ist gegenüber der Reflexion, dem »actus reflexus« (291.293). Die Gegenwart Christi aber gründet die Gemeinde, was in der Formulierung »Christus als Gemeinde existierend« zum Ausdruck kommt (296). Christus ist ganz für mich, aber auch für uns und für die Anderen (304.312). Dann wendet sich v. L. besonders den Fragmenten zur »Ethik« (304) und der »Nachfolge« (309) zu, in der die »Christuswirklichkeit« in der »Weltwirklichkeit« grundlegend dargestellt wird (307). »Nachfolge« aber bedeutet Christusnachfolge, im Teilnehmen am Leiden Christi vollzieht sich das Teilnehmen am Leiden der Armen (313).
Das Anliegen, das v. L. vertritt, die Option für die Armen zu würdigen, ist zweifellos wichtig. Ob dies unter der zentralen Formulierung von »Christus im Armen« geschehen sollte, erweist sich mindestens bei den hier berücksichtigten systematischen Theologen als Frage, wozu für Bonhoeffer noch zu fragen ist, ob nicht dessen späte Theologie eingehender hätte einbezogen werden sollen. In seiner Durchführung geht v. L. den Befreiungstheologen und auch den Gemeinschaften detailliert nach und stellt jeweils berechtigte Rückfragen. Immerhin finden sich noch Anknüpfungen an die Dependenz- oder die Klassenkampftheorie, so sehr sie auch inzwischen zurückgetreten sind. Das zeigt sich darin, dass Gutiérrez den wichtigen Abschnitt seiner »Theologie der Befreiung« mit der damaligen Überschrift »Christliche Brüderlichkeit und Klassenkampf« (4. Kapitel II 3) mittlerweile neu geschrieben hat, worauf v. L. nicht mehr eingeht. Die bei dem entschiedenen Engagement gleichwohl übersteigerte Rede vom »Sakrament der Armen« hat er zu Recht kritisiert.
Zustimmen möchte ich v. L. auch in dem Verständnis der Aussagen von den »geringsten Brüdern« in Mt 25, dass hier alle gemeint sind, wobei ich gern gewusst hätte, warum diese Aussage bei denen zur Linken nicht mehr zu finden ist – ob das ein Zufall ist?