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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1091–1094

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Peirce, Charles Sanders

Titel/Untertitel:

Religionsphilosophische Schriften. Übers. unter Mitarb. von H. Maaßen, eingel., komment. u. hrsg. von H. Deuser

Verlag:

Hamburg: Meiner 1995. LII, 602 S. 8° = Philosophische Bibliothek, 478. Lw. DM 148,­. ISBN 3-7873-1202-1

Rezensent:

Martin Pöttner

Die kritische Arbeit des Peirce Edition Project, Indianapolis, trägt vor allem seit der ersten Hälfte der 80er Jahre auch hierzulande reife Früchte. Spätestens seit dem Erscheinen von "Phänomen und Logik der Zeichen" ([stw 425], 1983 [21993]) ist klar, daß Ch. S. Peirce´ Philosophieren als ein eigenständiger Entwurf zu bewerten ist, der Aufmerksamkeit verdient. Die "Semiotischen Schriften I-III" (Frankfurt/M. 1986; 1990; 1993) wurden durch den naturphilosophischen Band "Naturordnung und Zeichenprozeß" ([ASSK 18], 1988) ergänzt. Schon diese von H. Pape u. a. hg. und übers. Werke zeigen, daß P.´ phänomenologisch und semiotisch argumentierende Philosophie wohl erst dann genauer verstanden werden kann, wenn ihr zentrales Interesse an "Religion", "Gotteserfahrung", "Liebe" usf. beachtet wird. Die jetzt vorliegenden "Religionsphilosophischen Schriften" (RS) stellen diesen Sachverhalt erstmals editorisch umfassend ins Licht.

Eine kritischen Ansprüchen Stich haltende amerikanische Ausgabe der Manuskripte von P.´ sich in immer wieder neu ansetzender Variation schriftlicher Entwürfe vollziehender philosophischer Arbeit ist erst im Entstehen ("Writings of Charles S. Peirce", Bloomington 1982 ff.). So ist eine deutschsprachige Edition sehr oft auf die Bearbeitung der Original-Manuskripte von P.´ Manuskripten verwiesen. H. Deuser hat sich dieser schwierigen Aufgabe (IX f.) unterzogen. Die unter Mitarbeit von H. Maaßen vorgeschlagenen Übersetzungen von P.´ Texten sind, soweit ich diese nachvollzogen habe, treffend. Sie zeugen von einem verstehenden Zugang zu den Problemen, die P. bewegten, und nicht zuletzt von Begeisterung für "Sache" und Kommunikationsstil der übersetzten Texte.

Die RS sind ausgezeichnet erschlossen. P. gilt nicht ganz zu Unrecht als "schwerer" Philosoph. Doch der Hg. macht es durch eine erhellende "Einleitung" (XIII-XLVII) und die Kommentierung der edierten Texte in umfangreichen "Anmerkungen" (427-550) auch Anfängerinnen und Anfängern leichter, sich mit P. zu beschäftigen. Eine "Bibliographie zur Forschungsliteratur" (551-569) ist beigegeben. Das "Register" (571-602) enthält zahlreiche Einträge zu "Sachen", "Personen" und sogar zu "Bibelstellen". Ein "Manuskript-Index" (421-425) zeigt schließlich Forschenden, welche Manuskripte an welcher Stelle zu finden sind. Das Buch ist also für recht verschiedene Lektüreinteressen ausgelegt.

Der Hg. unterscheidet "drei Hauptphasen" in P.´ Werk (XXIII ff), denen die 35 edierten Texte zugeordnet sind: 10 "(f)rühe Entwürfe zu Religion und Metaphysik" aus den Jahren 1859-1870 bilden die erste Abteilung (3-77), denen im zweiten Teil unter dem Titel "Wissenschaft und Religion" 14 Texte aus den Jahren 1877-1901 folgen (79-281). Die Edition bietet im dritten Abschnitt 11 Texte aus den Jahren 1905-1911 mit P.´ gewichtigen Erwägungen zum "Gottesargument" (283-420). Die kommentierenden "Anmerkungen" erschließen Parallelen zu schon edierten Texten und bieten weitere Übersetzungen, so daß ein klares Bild von P.´ religionsphilosophischer Arbeit entsteht.

Wie Teil I der RS zu erkennen gibt, sind vor allem zwei Einflüsse für P.´ Reflexion maßgebend. P. ist zum einen beeindruckt vom Erfolg der Erfahrungswissenschaften und der (mathematischen) Logik, zu der er selbst bahnbrechende relationenlogische Beiträge beisteuerte. Zum anderen aber bleibt für P. wohl lebenslang der durch den amerikanischen "Transzendentalismus" (Einleitung, XXIII) vermittelte Einfluß der poetisch-philosophischen Versuche der Frühromantik mit ihren Nachfolgetheorien bestimmend. Während deren Naturphilosophie freilich mit der Entwicklung der Erfahrungswissenschaften an Plausibilität verlor, versuchte P., "romantische" Entwürfe kritisch so zu reformulieren, daß sie auch strengen Ansprüchen an experimentielle und gedankliche Kontrolle Stich zu halten versprachen. Dieser Ansatz führt zu scharfer Opposition zum sich ausbildenden "positivistischen" Zeitgeist, der als Exponent des "Nominalismus" wahrgenommen und als wissenschaftlicher Hauptopponent gegenüber ernsthafter gelebter Religiosität und besonnenem Denken begriffen wird (z. B. I.9).

Teil II der RS zeigt deutlich, daß P. die Auseinandersetzung mit dem "Positivismus" und seiner die tatsächliche wirtschaftliche Dynamik bürgerlicher Gesellschaften beschönigenden "utilitaristischen" Schwester aufnimmt. Weder wird es unserer Realitätserfahrung gerecht, wenn wissenschaftliche Theorien als eher fiktionale Konstrukte betrachtet werden, die einer scheinbar anderen Welt angehören als die einzig zuverlässigen Sinneseindrücke von Ereignissen, noch entsteht gutes Leben durch die Optimierung von Überlebensinteressen der Einzelnen. P. zufolge ist es demgegenüber zutreffend, die Realität als evolutionären Prozeß der universalen Liebe zu verstehen. Philosophisch ist festzuhalten, daß "Realität" nicht auf die "harten Fakten" und das Phänomen des Zwangs reduziert werden kann. Es gibt darüber hinaus Spontaneität, Freiheit und Zufall im Sinne von kreativen realen Möglichkeiten. Zugleich sind Regelmäßigkeiten real. Gerade die Frage, welche Regelmäßigkeit im Universum letztlich bestimmend ist, macht P. religionsphilosophisches Interesse aus. Er beantwortet sie mit einem Teil der christlichen und, wie er meint, der buddhistischen Tradition: die Liebe, die zugleich Gott ist (exemplarisch: II.6). Gegenüber dieser schlichten Wahrheit zeigen sich freilich nicht nur der mainstream wissenschaftlicher Reflexion und wirtschaftliche Saturiertheit eigentümlich verschlossen. Auch die organisierten "Kirchen" verkehren die Religion der Liebe zu einem Hort konfessioneller Engstirnigkeit und schlechter Metaphysik. Das ist vor allem deshalb der Fall, weil in der organisierten kirchlichen und kirchenbezogenen theologischen Kommunikation die Eigenart religiöser Kommunikation verkannt wird. Stellt diese doch vage ein lebensbestimmendes Gefühl, das existenzbestimmende Vertrauen im Sinne der Rede von ðÛÙȗ eines relevanten Teils der ntl. Tradition (vgl. 534-536 [Anm. +3 zu III.9]), als Beziehung "zu einem Ersten und Letzten, dem A und ø", dar, so daß am ehesten "extravagante Formen" religiöser Kommunikation (II.8, 209) sowohl dem Modus der existentiellen Betroffenheit als auch der Vagheit religiöser Erfahrung gerecht werden.

Teil III der RS verdeutlicht schließlich, daß derartige Thesen nur dann aufrecht erhalten werden können, wenn die Realität Gottes zumindest vage sinnlich wahrgenommen wird (z. B. III.10). Dann gilt, daß "Wahrnehmung als eine(r) von Gott ausgehende(n) Offenbarung" (390) zu betrachten ist. P. nimmt damit einen frühjüdischen und frühchristlichen Topos auf (z. B. Sap 13,1 ff.; Mt 6,26.28; Röm 1,19 ff.; Joh 1,1-5a), demzufolge Gott an der als Zeichen fungierenden Schöpfung wahrgenommen werden kann. Wie die genannten Texte begreift P. dies als Selbsterschließung Gottes. P. zufolge ereignet sich diese am ehesten in Situationen meditativer "Versonnenheit", wie der Hg. "musement" kongenial übersetzt (III.6, 332-339). In diesen Situationen wird abduktiv-hypothetisch die Regel erschlossen, die das Universum letztlich bestimmt.

Diese spontan ­ möglicherweise gegen eingefahrene Lebensgewohnheiten ­ erschlossene Regel kann dann deduktiv auf die raumzeitlich bestimmten Situationen unseres Erlebens und Handelns bezogen und so ­ in the long run ­ induktiv überprüft werden. Die Testsituationen für die vage Wahrnehmung "Gott ist Liebe" und deren "extravagante" religiöse Kommunikation sind daher die Konflikte der geschichtlichen Erfahrung. Läßt sich "Gott ist Liebe" als die Regel sowohl unseres individuellen Erlebens und Handelns als auch des Weltprozesses insgesamt verstehen, dann bewährt sie sich. Aus dieser Perspektive thematisiert P. auch das Theodizeeproblem. Es ist ein Satz des Vertrauens im Sinne der ðÛÙȗ, wenn P. behauptet, "daß alles, was ist, das Beste ist" (I.9, 62; u. ö.). Bewährung des spontan Erschlossenen in der geschichtlichen Erfahrung: das ist P.´ existentielle und zugleich philosophisch gehaltvolle religionsphilosophische Botschaft.

Daß Gott als Liebe die letztlich bestimmende Regel im Universum sein soll, dies in Situationen der "Versonnenheit" vage wahrgenommen, religiös "extravagant" kommuniziert und in den Situationen unseres Erlebens und Handelns überprüft werden kann, ist im Horizont des dominanten Zugs der lebensweltlich sedimentierten abendländischen Metaphysik nicht unbedingt selbstverständlich:

"(D)ie Menschen leben so vollständig im Hause des Stagiriten, daß ihnen das, was sie außerhalb ihrer Fenster sehen, unbegreiflich und metaphysisch erscheint" (II.4, 113). P.´ epochale Grundeinsicht besteht darin, daß Aristoteles irrte, als "er seine Kategorien offensichtlich aus den Bestandteilen der Rede (bezog)", "weil er schrieb, noch bevor der Begriff der Grammatik eingeführt war" (III.10, 399). Zwar kann eine semiotisch informierte Metaphysik Aristoteles insoweit folgen, als sie die Analyse des ÏÞÁԗ als Ausgangsbasis akzeptiert. Doch eine derartige Analyse erkennt, daß nicht die einzelnen Bestandteile von Propositionen als Elementarpartikel zu begreifen sind, die zudem auf die Betrachtung des grammatischen "Subjekts" hin zentriert werden. P.´ Analyse von Propositionen orientiert sich demgegenüber mit Recht an der Syntax von Propositionen. Dann zeigt sich, daß nicht etwa "das Subjekt" als Zentrum der grammatischen Struktur von Propositionen begriffen werden kann. Stattdessen erschließt sich das durch Verben und prädikativ verwendete Substantive oberflächengrammatisch dargestellte Prädikat als relativ primärer Orientierungspunkt der Analyse. Denn Verben und prädikativ verwendete Substantive erzeugen im Zusammenspiel mit Kasus und Präpositionen grammatisch "offene Stellen", in die, durch Namen, Personalpronomina usf. indiziert, die von Aristoteles irrtümlich als semiotisch primär eingeschätzten grammatischen "Subjekte" (und "Objekte") eingesetzt werden. Die Syntax verleiht diesem Ensemble eine regelmäßige Struktur.

Eine "grammatisch" besser als Aristoteles gerüstete Analyse erkennt demzufolge drei nur vage (II.4, 114 f) unterscheidbare Aspekte am ÏÞÁԗ:

1. das Prädikat, das eine vollständige Proposition ermöglicht; 2. die Indices als Repräsentanten der Faktizität und des Zwangs in der Realität; 3. die Syntax als regelmäßige Struktur der Beziehung von "Prädikat" und "Subjekt". Wenn der Satz "Gott ist Liebe" die letztlich bestimmende Regel im Universum bezeichnet, dann muß er alle drei Aspekte der "Erfahrungsuniversen" (III.6) umfassen: 1. das Element der kreativen realen Möglichkeiten, der Freiheit, Spontaneität und des Zufalls; 2. den Bezug auf die Welt der harten Tatsachen und des Zwangs; 3. die Kombination der Elemente 1 und 2 in einer regelmäßigen Struktur, die als "Liebe" zu bezeichnen ist. Jedenfalls avanciertere Formen der christlichen Trinitätslehre (vgl. Einleitung, XLI f.) sehen es ähnlich.

Wer sich der durch den Hg. erheblich erleichterten Mühe unterzieht, die RS zu studieren, wird vermutlich philosophisch und theologisch provoziert. P. stellt verbreitete Denkgewohnheiten in Frage. Seine scharfe Kritik am "Nominalismus" widerspricht der seit Ockham immer wieder, z. T. emphatisch erneuerten wechselseitigen Selbstabschließung von "Theologie" und "Philosophie". Nicht zuletzt P.´ These, daß in Situationen der "Versonnenheit" die Realität als Geschehen der universalen Liebe vage wahrgenommen wird, der nur eine "universale Kirche" entspricht (z. B. II.9), sollte kirchliche, theologische und philosophische Aufmerksamkeit beanspruchen. Die RS ermutigen schließlich zu unabhängigem philosophischen und theologischen Denken, denn sie bezeugen eindrucksvoll, daß sich P., allen lebensgeschichtlichen Problemen, darunter die faktische Exklusion aus dem organisierten Wissenschaftssystem, zum Trotz von seiner 1859 geäußerten Grundüberzeugung niemals abgewandt hat: "Ob nun, daß´alles zum Besten steht´, unveränderlich wahr ist oder nicht, ich bin der festen Überzeugung, es verhält sich in der Welt nicht so, daß die Dinge, die durch einen großen Forschergeist ans Licht gebracht wurden, die Tendenz haben, Menschen, die wirklich die Wahrheit lieben, zu erniedrigen ..." (I.1, 3).