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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

580–582

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Winter, Agnes

Titel/Untertitel:

Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574–1740).

Verlag:

Berlin: Duncker & Humblot 2008. 474 S. m. Abb. u. Tab. gr.8° = Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 34. Kart. EUR 86,00. ISBN 978-3-428-12439-8.

Rezensent:

Alexandra Schotte

Bei diesem Band handelt es sich um die 2004 eingereichte und für die 2008 erschienene Druckfassung geringfügig überarbeitete Dissertation von Agnes Winter, die im Rahmen des DFG-Forschungsprojekts »Historisch-sozialwissenschaftlicher Gesell­schafts­ver­gleich« am Institut für Geschichtswissenschaften am Lehrstuhl von Heinz Schilling an der Humboldt-Universität Berlin entstand. Im Zentrum der Untersuchung stehen die Etablierung und Entwicklung der konfessionell geprägten höheren Schulen, der »Ge­lehrtenschulen«, der Residenzstadt Berlin in der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der allgemeinhistorischen Entwicklungen in Brandenburg-Preußen.
Den entscheidenden Forschungsbeitrag ihrer aktuellen Arbeit erkennt W. in der Erweiterung der Forschungsperspektive, vor allem in quantitativer Hinsicht. Im Gegensatz zu früheren Untersuchungen und eigenen Beiträgen distanziert sich W. nun von einer Einzeldarstellung und führt die verschiedenen Typen der Berliner Gelehrtenschulen unter der Fragestellung ihrer »jeweiligen Funktionen … im konfessionellen und frühabsolutistischen Staat und ihre Einbindung in die Sozial-, Kultur- und Geistesgeschichte Berlins und Brandenburg-Preußens« (11) zusammen – ein nicht ganz einfaches Unterfangen wegen der relativ großen Zeitspanne (1574–1740) und der daraus resultierenden Quellenlage. Doch auf Grund ihrer vorhergehenden Studien zu den Gelehrtenschulen, innerhalb derer sie sich schon einen ersten Überblick über die Quellenlage verschaffen konnte, einschließlich ihrer Kenntnisse in der Archivarbeit – W. ist ausgebildete Diplom-Bibliothekarin – wagt sie sich an dieses Unternehmen. Und dies nicht zuletzt mit dem Anspruch, langjährig bestehende Forschungsdesiderate der neueren Geschichtswissenschaft, aber auch der Historischen Pädagogik auszufüllen.
Hinsichtlich des bisherigen Forschungsstandes weist sie dabei gleich eingangs ihrer Untersuchung auf zwei wesentliche Problemlagen hin. Zum einen auf ein grundlegendes Defizit der neueren Geschichtswissenschaft, innerhalb derer sich im Gegensatz zur Erforschung der Wissenschafts- und Universitätsgeschichte kein eigenständiger Bereich zur Erforschung des Gelehrtenschulwesens herausgebildet hat. Ein zweites, grundlegendes und von W. benanntes Forschungsdefizit in den genannten Wissenschaftsbereichen betrifft den bisher nur wenig erforschten Zeitraum zwischen Reformations- und Aufklärungsepoche (vgl. 20). Einen wesentlichen Mangel sieht W. so in dem Fehlen vergleichender Arbeiten über gymnasiale Lehrpläne, Lehrinhalte und Lehrbücher wie grundsätzlich in der Ermangelung einer Geschichte des frühneuzeitlichen höheren Schulwesens. Auch in Hinblick auf die von ihr vorgenommene institutionelle und territoriale Eingrenzung der Bildungsgeschichte des höheren Schulwesens in Brandenburg-Preußen konstatiert sie in dieser Richtung deutliche Forschungslücken.
Der von W. gewählte Forschungsansatz des Vergleichs mehrerer Institutionen (Gelehrtenschulen) untereinander ist, wie W. in Hinblick auf neuere Darstellungen, die sich mit nur einzelnen Bildungseinrichtungen in Längsschnittuntersuchungen beschäftigen, selbst bemerkt, in der neueren Forschung nicht unbedingt üblich. In der Tat geht der Trend eher dahin, kurz- und mittelperspektivische Ansätze zu wählen. Forschungsleitend war für W. der von Wolfgang Neugebauer formulierte Anspruch, mittels Schulrealität und Bildungswirklichkeit empirisch zu forschen.
Für ihre Untersuchung zog W. neben älteren ideen- und institutionsgeschichtlichen Gesamtdarstellungen zum höheren Bildungswesen in Deutschland sowie älteren Einzeldarstellungen zu bedeutenden Berliner Gymnasien umfangreiches Archivmaterial heran, das nur in geringer Anzahl in gedruckter Form vorlag. Mit ihrer Forschung begab sie sich auf Neuland insofern, als sie Archivbestände Berlins und Brandenburgs nutzte, die im Zuge der Wiedervereinigung in den 90er Jahren wieder zusammengeführt wurden und so auch erst seit einigen Jahren in ihrer Gesamtheit wieder zugänglich sind (vgl. 25). (Leserfreundlich beschränkt sie sich bei der Wiedergabe von Originalquellen jedoch auf einzelne prägnante Passagen.) Die Eingrenzung des Untersuchungszeit­raums auf die Jahre zwischen 1574 und 1740 begründet W. damit, dass es sich hier um »eine Epoche der brandenburgisch-preußischen Ge­schichte [handelt], die in besonderem Maße von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung geprägt war« (12).
Ihre Arbeit hat W. in sehr differenzierte Kapitel unterteilt. In einem Eingangskapitel legt sie in einem kompakten Überblick die besonderen konfessionellen Entwicklungsverläufe Berlins/Brandenburg-Preußens dar, von denen aus erst die Entwicklung und Einordnung der Berliner Gelehrtenschulen in die deutsche Bildungslandschaft des 16. bis 18. Jh.s (besonders für den regionalgeschichtlich nicht vertrauten Leser) in angemessener Weise verstanden werden kann. In den folgenden vier Hauptteilen nähert sie sich dem Untersuchungsgegenstand unter den Fragestellungen der Genese dieser höheren Schulen vor dem Hintergrund der sich herausbildenden Doppelkonfessionalität von lutherisch geprägtem städtischen Bürgertum und reformierter Hofgesellschaft Berlins, daraus resultierend dem jeweils spezifischen personellen Profil der städtischen und landesherrlichen Gelehrtenschulen sowie dem Lehrprofil dieser Bildungseinrichtungen und abschließend der Außenwirkung, d. h. dem Beitrag dieser Schulen im kulturellen und sozialen Leben der Residenzstadt.
Die wichtigsten Ergebnisse hat W. in einem Abschlusskapitel zusammengefasst. Als generalisierte Forschungsergebnisse hebt sie hervor, dass die Herausbildung eines mehrkonfessionellen höheren Bildungswesens in engem Zusammenhang mit den Konfessionalisierungsbestrebungen Brandenburg-Preußens steht und die aus der Doppelkonfessionalität resultierende Konkurrenzsituation sich äußerst fruchtbar auf den Bildungssektor auswirkte, wobei insbesondere die Zeit des Pietismus und der Frühaufklärung als Blütezeit bezeichnet werden kann (vgl. 386).
Fazit: W. ist es mit ihrer Arbeit gelungen, ein auf Grund seiner Komplexität und Quellenlage durchaus »sperriges« Thema sinnvoll zu bearbeiten. Mit Hilfe eines aufwändigen Quellenstudiums konnte sie ein überzeugendes, vor allem aber auch plastisches Zeitgemälde der Gelehrtenschulen in ihrer konfessionellen und administrativen Einbindung entwickeln.
Für die didaktische Aufbereitung der Untersuchung wäre es stellenweise jedoch ratsam gewesen, die Fülle des Datenmaterials zu reduzieren und stärker analytisch zu verfahren. So verflüchtigen sich für den Leser – sofern dieser nicht unmittelbar in die Regionalgeschichte Berlins/Brandenburg-Preußens eingebunden ist – beispielsweise jene stark quantitativ ausgerichteten Abschnitte, in denen Rektoren der Schulen mehr oder weniger »durchgespult« werden (vgl. Kapitel D, I). Vor dem Hintergrund des sorgfältigen Primärquellenstudiums verwundert gelegentlich auch der relativ ungezwungene Rückbezug auf eine ältere »neuere« Forschungsliteratur, so u. a. an der Person Erhard Weigels. Dennoch bleibt festzuhalten, dass sich mit diesem Band eine wichtige interdisziplinär zu behandelnde Forschungsgrundlage bietet, die nicht nur auf Grund der personellen und konfessionsstrukturellen Verflechtungen überregionale Bedeutung besitzt.