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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

573–576

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Livingston, James C.

Titel/Untertitel:

Religious Thought in the Victorian Age. Challenges and Reconceptions.

Verlag:

London-New York: T & T Clark International (Continuum) 2006. VI, 304. S. 8°. Kart. £ 15,99. ISBN 978-0-567-02646-0.

Rezensent:

Martin Ohst

Zumal in Deutschland wird die Rede vom Viktorianischen Zeitalter, also der langen Regierungszeit von Königin Victoria von Großbritannien (1837–1901), die seit 1876 auch Kaiserin von Indien war, oft mit Negativbegriffen wie »Prüderie«, »Stillstand« und »Behäbigkeit« assoziiert – ganz zu Unrecht, denn in dieser Zeit erklomm das britische Weltreich die Höhe seiner Macht und Geltung, während sich im Mutterland zugleich grundstürzende wie grundlegende soziale, wirtschaftliche und politische Innovationen ereigneten: Die Industrialisierung schritt weiter fort als anderswo sonst, und sie zeitigte schwere soziale Verwerfungen. Das Regierungssystem demokratisierte sich unter Kämpfen weiter, und auch religionspolitisch brach ein neues Zeitalter an, als die Privilegien der anglikanischen Staatskirche ebenso zurückgeschnitten wurden wie die diskriminierenden Regeln, welche protestantische Dissenter und Katholiken zuvor zu Untertanen/Bürgern zweiter Klasse gemacht hatten. Insbesondere im Bildungssystem waren die Neuerungen tiefgreifend: Es entstanden neue Schulen und Hochschulen, in welchen nicht, wie an den traditionellen Bildungsstätten, in der personellen und institutionellen Verquickung mit der Anglikanischen Kirche ein Stück Mittelalter fortlebte (vgl. z. B. 151!). Livingston, emeritierter Kirchenhistoriker am College of William and Mary in Williamsburg (Virginia), führt in seiner hochkonzentrierten, materialreichen und trotzdem höchst lebendig gestalteten Darstellung eine Reihe von theologischen Debatten vor, welche in den beiden letzten Dritteln des Viktorianischen Zeitalters, also seit etwa 1860, geführt worden sind. Den zeitlichen Anfangspunkt seiner Untersuchung wählt L. auf der Grundlage von bildungsgeschichtlichen und wissenssoziologischen Erwägungen. Er legt dar, dass um 1860 herum in Großbritannien durch Öffnungen und Entschränkungen die literarisch diskutierende Öffentlichkeit sich neu gestaltete. Waren bislang Diskurse relativ fest umgrenzter akademischer bzw. akademisch-kirchlicher Eliten maßgeblich gewesen, deren Teilnehmer in gemeinsamen Bildungsmilieus verwurzelt waren, so meldeten sich nun auch ganz andere Stimmen zu Wort, und zwar auch in Zeitungen und Zeitschriften, die ihre Leserschaft außerhalb des herkömmlichen akademischen Milieus hatten: »The clergy no longer had the pulpits to themselves« (2). An den theologisch-weltanschaulichen Debatten, von denen L. berichtet, nahmen Anglikaner aller Couleur, Katholiken und Dissenter ebenso teil wie kirchlich gar nicht gebundene Autoren. Darin, dass diese Diskussionen die Grenzen der Konfessionen und Denominationen ganz problemlos überschritten, scheint mir eine tiefgreifende Differenz zwischen den britischen Verhältnissen und denen in Deutschland zu liegen, wo ja das Element des »Dissent« keine Entsprechung hatte und Katholizismus und Protestantismus sich gerade im geisteswissenschaftlich-theologischen Bereich im Austausch sehr schwertaten, sobald es um anderes ging als um bloße historische Tatsachenfragen. Ineins hiermit verloren auch inhaltliche Vorgaben die Selbstverständlichkeit ihrer Geltung:

»Before 1860 the Bible and natural theology remained widely assumed contexts within which discussions about creation, anthropology, ethnology, geology, and even history were pursued. … And rather suddenly – within a few decades, at most – there occurred a great reversal. The biblical world-picture and the hum­an story now had to be corrected, revised, even radically reconcieved in the light of other accounts cosmological, geological, biological, ethnographic, and anthropological« (5).

Die damit anhebenden Transformationsprozesse nun, so macht L. klar, verliefen mitnichten als platter Antagonismus, in welchem die »Wissenschaft« die »Religion« bzw. »Theologie« aus ihren Stellungen vertrieben hätte. Vielmehr haben theologische und philosophische Autoren sich vielfach mit durchaus konstruktivem Interesse auf die Ergebnisse und Debatten der modernen Wissenschaften eingelassen, während auf der anderen Seite auch die Wissenschaftler durchaus an Begründungs- und Orientierungsfragen des ethischen und religiösen Bereichs interessiert waren und hier in ganz eigener Weise auf spezifisch christliche Traditionsbestände zurückgriffen. Es gelingt L., diese These höchst plausibel zu ma­chen, indem er ganz dezidiert sein Augenmerk keineswegs nur auf die »großen Beweger« (E. Hirsch) richtet, sondern eine große An­zahl gerade von solchen Autoren heranzieht, die zwar damals viel gelesen und diskutiert worden sind, heute jedoch allenfalls noch in den Fußnoten geistes- und wissenschaftsgeschichtlicher Darstellungen auftauchen. Durch diese Kombination klassisch-geistes wissenschaftlicher Gesichtspunkte mit wissenssoziologischen bzw. mentalitätsgeschichtlichen vermag L., ein ganz außerordentlich detailreiches Bild zu zeichnen, das sich jedem Versuch der vorschnellen Systematisierung widersetzt und in geradezu vorbildlicher Weise einen Eindruck davon vermittelt, dass hier Debatten geführt wurden, deren Ausgang für die Teilnehmer und für die Mitlebenden ganz offen war. L. präpariert aus den Diskussionen in dem von ihm untersuchten Zeitraum sieben Einzelstränge heraus, zwischen denen es natürlich inhaltlich wie personell Überschneidungen gibt. Unter dem Titel »The Religious Background and Contexts of Late Victorian Controversies« erörtert L. einmal die Debatten, die um die Verpflichtung von Theologen auf normative Dokumente geführt wurden, und sodann die Bedeutung der Denkfigur des »Agnostizismus«: Diese Haltung, welche aus einer positivistischen Grundattitüde entsprang und letzte Wahrheits- und Sinnfragen für unbeantwortbar erklärte, konnte als Einfallstor für offenbarungspositivistische Geltungsansprüche dienen, aber auch gleichsam als Puffer zwischen hergebracht-theologischen und modernen wissenschaftlichen Theorien fungieren. Die drei nächs­ten Abschnitte stehen unter dem Gesamttitel »God and the World« und traktieren die Problemkomplexe »göttlicher Weltplan, Vorsehung und Teleologie«, »Vorsehung, das Böse, Theodizee« und »die Herrschaft des Gesetzes und das Wunder«. Der fünfte und sechste Abschnitt stehen miteinander unter dem Leitthema »Humanity’s Place in Nature« und widmen sich zwei »Herausforderungen an die christliche Anthropologie«: Einmal geht es um den Ursprung des Menschengeschlechts, den Sündenfall und die Sünde, zum andern um das Bewusstsein, die Willensfreiheit und die Begründung der Ethik. Das letzte Kapitel führt dann vor, wie das Phänomen der Religion selber auf neue Weise zum Gegenstand wissenschaftlicher Analyse wurde und wie sich so die Frage nach dem Verhältnis des Christentums zu anderen Glaubensweisen neu stellte.
Zwei Beobachtungen drängen sich angesichts dieses Überblicks auf: Die theologischen Debatten hatten in Großbritannien ganz andere Schwerpunkte als in Deutschland, wo zur selben Zeit einerseits unvergleichlich stärker die historisch-kritische Sicht der Bibel und der Dogmengeschichte samt ihren Konsequenzen die Debatten bestimmte, während zumal dort, wo philosophisch der Neukantianismus herrschte, das Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft durch die klare Unterscheidung der Bereiche als be­reinigt galt (W. Herrmann). Viele der Probleme, welche damals die Druckerpressen Großbritanniens in Bewegung hielten, haben das öffentliche Bewusstsein in Deutschland erst mit mehr als 100 Jahren Verspätung erreicht. Man ist beim Lesen von L.s Buch im­mer wieder überrascht, wie alt beispielsweise viele der Argumente sind, welche in den Debatten um die Folgen der modernen Hirnforschung ausgetauscht werden. Und wenn man die gegenwärtigen Voten zu »Intelligent Design« etc. mit denen vergleicht, die L. vorführt, dann kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, dass die damaligen Debatten dem Sachkern der Kontroversen näher kamen, sofern man zumal auf theologischer Seite nicht endlos irgendwelche Binsenweisheiten der Exegese bzw. der biblischen Hermeneutik repetierte, sondern sehr ernsthaft und offen darüber nachdachte, ob und inwieweit das menschliche Bewusstsein angewiesen ist auf die Grundannahme, dass die gegenständliche Welt nicht bloß Resultat eines alles durchwaltenden blinden Kausalmechanismus ist, sondern sich einem Verständnis als sinnvoller, zweckhafter Zusammenhang erschließt.