Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

569–571

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Willitts, Joel

Titel/Untertitel:

Matthew’s Messianic Shepherd-King. In Search of ›The Lost Sheep of the House of Israel‹.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 270 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 147. Lw. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-019343-5.

Rezensent:

Matthias Konradt

Bei der Untersuchung von Willitts handelt es sich um die überarbeitete Fassung einer von Markus Bockmuehl an der Universität Cambridge betreuten Dissertation. Forschungsgeschichtlich ordnet sich die Studie zum einen in eine Reihe neuerer Arbeiten ein, die das MtEv konsequent aus seinem alttestamentlich-frühjüdischen Kontext heraus zu verstehen suchen (zum matthäischen Hirtenmotiv s. zuletzt Young S. Chae, Jesus as the Eschatological Davidic Shepherd. Studies in the Old Testament, Second Temple Judaism, and in the Gospel of Matthew, WUNT II.216, Tübingen 2006, zu Jesus als davidischem Messias Lidija Novakovic, Messiah, the Healer of the Sick. A Study of Jesus as the Son of David in the Gospel of Matthew, WUNT II.170, Tübingen 2003). Zum anderen nimmt W. den Impuls auf, stärker die politische Dimension der matthäischen Jesusgeschichte zu beachten (vgl. vor allem Warren Carter, Matthew and the Margins. A Socio-Political and Religious Reading, JSNT.S 204, Sheffield 2000, und J. Riches/D. C. Sim [Eds.], The Gospel of Matthew in its Roman Imperial Context, JSNT.S 276/ECC, London-New York 2005).
Methodisch wendet W. sich gegen Ansätze, die matthäische Jesusgeschichte von ihrem Ende her zu lesen; demgegenüber unternimmt er den Versuch, »to read it narratively and in se­quence allowing the beginning of the Gospel, with its Davidic Messianism, to be the interpretive key for the whole« (30; Kursivierung im Original). Rückt die davidische Messianität Jesu damit ins Zentrum der matthäischen Christologie, so sucht W. insbesondere die konkrete politische Dimension des davidischen Messianismus herauszustellen. Sein zentrales Anliegen ist des Näheren, die dem ersten Evangelisten eigene Rede von den »verlorenen Schafen des Hauses Israel« (10,6; 15,24) vor dem Hintergrund einer »political-national Davidic Messianic expectation« (3) zu lesen. Da die Verwendungen der »Messianic Shepherd-King tradition« in der alttestamentlich-frühjüdischen Literatur immer die beiden Elemente »despair and hope« (45) enthielten, sei bei Matthäus sicher von einem Vorliegen des Motivs des königlichen Hirten auszugehen, wenn drei Elemente vorhanden seien: »(1) specific shepherd/sheep terminology, (2) a political context which contains an element of despair over and/or a critique of (or counter-picture to) the leader­ship of Israel, and (3) a reference to the Davidide, or a citation or direct allusion to a Davidic Shepherd-King prophetic text« (45).
Nach einem Überblick über das Motiv des davidischen Hirtenkönigs im Alten Testament und in frühjüdischen Schriften (47–92) untersucht W. im zweiten Hauptteil unter der Überschrift »The Messianic Shepherd-King in the Gospel of Matthew« (95) die drei Texte, die er neben Mt 10,6; 15,24 auf der Basis der oben genannten Kriterien für das Vorliegen des Hirtenkönigsmotivs herausgefiltert hat: Mt 2,6 (Kapitel 3); 9,36 (Kapitel 4) und 26,31 (Kapitel 5). Zur Textform in Mt 2,6 nimmt W. die These auf, dass zusätzlich zur Zusammenfügung von Mi 5,1 und 2Sam 5,2 mit der Rede von der γῆ Ἰούδα und vom ἡγούμενος Einfluss von Gen 49,10 vorliege. Inhaltlich werde mit der Rede von der γῆ Ἰούδα »the eschatological hope of territorial restoration« (108) einbezogen. Mit der Aufnahme des Motivs des davidischen Hirtenkönigs verbinde sich der Gedanke der Wiedererrichtung des davidischen Reiches im Sinne einer konkreten politischen Erwartung (115). »Matthew’s Shepherd-King is the promised Messiah, the Davidide, who arises from the city of Bethlehem in the territory of Judah, delivers Israel from her enemies and rules over a united kingdom of Israel« (110 f., Hervorhebung im Original). Die zu 2,6 betonte »politisch-nationale« Dimension sieht W. auch in 9,36 vorliegen. Mit dem kontextuellen Zu­sam­menhang von 9,36 mit 4,12–17 klinge der Aspekt der ter­ritorialen Restauration in 9,36 an; ferner werden die zwölf Jünger in 9,36 ff. als »emissaries and constitutional leaders of Israel« (121) eingeführt. Den Aspekt des Schriftbezugs thematisiert W. zu Mt 9,36 vor allem hinsichtlich des Motivs der »Schafe, die keinen Hirten haben« (Ez 34,5.8 sowie Num 27,17; 1Kön 22,17 = 2Chr 18,16; Sach 10,2). Die Metapher der hirtenlosen Schafe bedeute durchgehend, »to be de­feated, oppressed, occupied and scattered by foreign enemies« (131, im Original kursiv). Dieser Sinnzusammenhang sei entgegen der üblichen Matthäusinterpretation auch für Mt 9,36 in Anschlag zu bringen (132). Das Motiv der territorialen Restauration sucht W. schließlich auch zu Mt 26,31 einzuspielen, indem er die matthäische Einfügung von τῆς ποίμνης in das Zitat aus Sach 13,7 als eine Anspielung auf Ez 34,31 identifiziert und für Ez 34,22–31 postuliert, »that the passage in the LXX remains focused on Israel’s territorial restoration ›in their land‹« (147). Dieses Postulat geht damit einher, dass W. das Reich Gottes, auf das Jesus in 26,29 ausblickt, kurzerhand mit »the territorial kingdom of Israel« (136) identifiziert. Letzteres wird in Kapitel 6 weiter verfolgt. W. wendet sich gegen den (m. E. zu Recht bestehenden) magnus consensus, dass die Landvorstellung kein maßgeblicher Aspekt der eschatologischen Erwartung im MtEv darstellt. Er verweist dazu auf die frühjüdischen Heilserwartungen und postuliert hier eine »equation of the kingdom of God and the kingdom of Israel in the Davidic Messianic expectation« (171), die er auch für Matthäus geltend macht (173). Misslich ist, dass W. dies nicht durch die Exegese von Texten aus dem MtEv plausibilisiert, sondern sich damit begnügt, Texte aufzulisten, die hier untersucht werden müssten (1,1–17; 2,6; 2,19–23; 4,12–17; 5,3–10; 6,10; 10,5–7; 15,24; 21,33–45; 24,30 f.; 25,31–45; 26,31 f.; 28,16–20). Seine steile These hängt damit in der Luft.
Im dritten Hauptteil wendet sich W. schließlich unter der Überschrift »The Matthean Shepherd-King and the Lost Sheep of the House of Israel« der Auslegung von Mt 10,6; 15,24 zu. Matthäus bezeichne mit der Rede von den »verlorenen Schafen des Hauses Israel« nicht ganz Israel, sondern »Jews living in rural Galilee and the northern region of the ideal Land of Israel who were remnants of the old Israelite population of the Northern Kingdom of Israel« (179, vgl. 31). Als Basis dieses Postulats dient wiederum die geographische Ausrichtung des irdischen Wirkens Jesu auf Galiläa (4,12–17), der er die geographischen Angaben in 10,5 zur Seite stellt. W. übersieht dabei, dass Jesu Wirken in Galiläa nach 4,25 große Volksmengen auch aus anderen Gebieten Israels bei Jesus zusammenkommen ließ. 10,5 f. sagt daher nicht mehr, als dass zunächst Galiläa der Ort der Zuwendung zu Israel ist, ohne dass man die hirtenlosen Volksmengen (9,36), die in 10,6 als »verlorene Schafe des Hauses Israel« bezeichnet werden, auf die Bewohner des »Nordreiches« einschränken kann.
Zu Mt 15,21–28 schließlich vermutet W., dass Matthäus mit »Tyros und Sidon« an die nördlichen Grenzen des davidischen Königreiches (213) und mit der Bezeichnung der Frau als Kana­anäerin an die Landverheißung erinnern wolle (214). »The Cana­anite woman is portrayed as submitting to Jesus’ authority as the Davidic Son in an area where the rule of David once reached« (214). Nicht die Ausweitung des Heils auf die Völkerwelt sei das zentrale Thema, sondern die Erzählung diene »as an apologia for Jesus’ identity as the long-awaited and legitimate monarch of Israel’s soon-to-be restored kingdom« (217, Hervorhebung im Original).
W.s Auslegung läuft darauf hinaus, die matthäische Konzeption in die Nähe von PsSal 17 zu rücken (111.204.224 f. u. ö.). Er geht dabei darüber hinweg, dass die militärischen Züge des davidischen Messias in PsSal 17 bei Matthäus vollständig fehlen. Weder zermalmt der matthäische Jesus ungerechte Fürsten (PsSal 17,22) noch vernichtet er gesetzlose Völker mit dem Wort seines Mundes (17,24). Stattdessen lehrt der matthäische Jesus, die Feinde zu lieben (Mt 5,44), und der davidische Messias zeichnet sich bei Matthäus zentral durch sein heilendes Wirken aus (9,27–31; 12,22 f.; 15,21–28; 20,29–34; 21,14 f.).
W.s ungewöhnliche Lesart der matthäischen Rezeption des Hirtenmotivs verweist auf ein zentrales Problem intertextueller Lektüre: auf die Frage, wie zu kontrollieren ist, welcher semantische Import aus Texten, auf die ein Autor anspielt, von diesem tatsächlich intendiert ist. Ist einerseits nachdrücklich zu unterstreichen, dass die Herausarbeitung des intertextuellen Netzes, in das ein Text eingebettet ist, Wesentliches zum adäquaten Verständnis beizutragen vermag, so wird man andererseits schwerlich im Regelfall davon ausgehen können, dass ein Bezugstext mittels einer Anspielung in allen ihm eigenen semantischen Horizonten eingespielt werden soll. Im Regelfall dürfte vielmehr zum einen von einer selektiven Rezeption auszugehen sein, zum anderen ist mit krea­tiven Momenten im Rezeptionsvorgang zu rechnen. Ein Leitkriterium für die Beurteilung beabsichtigter semantischer Importe kann die Frage der Konvergenz mit Tendenzen im Text selbst gelten. W.s These zur national-politischen und territorial-restaurativen Dimension der matthäischen Rezeption des Motivs des Hirtenkönigs vermag diesen Test schwerlich zu be­stehen.
Dem steht eine weitere Problemanzeige zur Seite: Gegen die These, dass das MtEv von seinem Ende her zu lesen sei, insistiert W. darauf, dem Text in seinem narrativen Duktus zu folgen (29 f.). Gleichwohl kommt man auch so »am Ende« zum universalen Missionsbefehl als dem Zielpunkt der matthäischen Jesusgeschichte, der durch zahlreiche Hinweise in der vorangehenden Erzählung vorbereitet ist. Bei W. bleibt diese universale Dimension der matthäischen Jesusgeschichte deutlich unterbestimmt.