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Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

562–564

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schnelle, Udo

Titel/Untertitel:

Theologie des Neuen Testaments.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 747 S. 8° = UTB, 2917. Kart. EUR 39,90. ISBN 978-3-8252-2917-7 (UTB); 978-3-525-03618-1 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Rudolf Hoppe

Nach der Erarbeitung der bedeutenden neutestamentlichen Theologien von F. Hahn und U. Wilckens (Letztere ist noch nicht abgeschlossen) stellt sich für einen Autor die Frage nach einem durchgängigen Konzept, unter dem eine »Theologie« stehen kann, soll sie neue Gesichtspunkte in die Diskussion bringen. Der Vf. wählt als Zugang zu seiner Theologie des Neuen Testaments (ThNT) den Begriff der »Sinnbildung«: »Für eine ntl. Theologie ist der Sinn­begriff von großer Bedeutung, denn er vermag Göttliches und Menschliches miteinander zu verbinden, indem er die Sinnstiftung Gottes in Jesus Christus und ihre Bezeugung in den Schriften des Neuen Testaments gleichermaßen erfasst« (16). Damit ist der Pluralität in den unterschiedlichen Erschließungsvorgängen der neutestamentlichen Autoren der Vorzug vor der Suche nach der »Einheit« einer ThNT eingeräumt. Die Konstruktion der Sinnwelten durch die neutestamentlichen Überlieferungen zu erheben, ist die Aufgabe einer ThNT. Das versucht der Vf. über die »klassischen« Themenfelder wie Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie zu erreichen, womit dann doch wieder zumindest zusammenführende Elemente thematisiert werden, die allen neutestamentlichen Schriften ge­meinsam sind.
In der Frage, inwieweit Jesus von Nazareth und sein Wirken als historische Gestalt der Ausgangspunkt einer ThNT sein können, sind die Meinungen nach wie vor geteilt. Der Vf. ist sich im Klaren darüber, dass die Frage nach dem »historischen Jesus« ihre Grenzen hat (»Es gibt die historische Frage nach Jesus, nicht aber den ›historischen‹ Jesus«, 54), gleichwohl setzt er beim Wirken Jesu ein, das dann in den wichtigsten Grundlinien zur Darstellung kommt. Bemerkenswert ist das Maß der Verankerung der Evangelienüberlieferung bereits im irdischen Jesus (Hoheitstitel, Deuteworte der Überlieferung vom letzten Mahl, Sühnetodverständnis Jesu).
Als ausgesprochen gelungen kann die Verbindung der Grundidee »Sinnbildung« als Erschließungsvorgang in der Gleichnisverkündigung Jesu angesehen werden, denn sie fordert wie sonst kaum eine Sprachform den Hörer zum »Mitgehen« heraus. Deshalb hätte die Gleichnisverkündigung gerade unter diesem leitenden Gesichtpunkt höher gewichtet werden können. Ansonsten werden die tragenden Themen der Verkündigung Jesu wie die Wundertätigkeit Jesu oder seine Gerichtsverkündigung ihrer je eigenen Bedeutung entsprechend zur Darstellung gebracht. Auch dass die Konfrontation Jesu mit seiner jüdischen Umwelt in Fragen der Tora sich besonders an der Stellung zu Rein und Unrein festmacht, ist zutreffend gesehen, wenngleich die mitunter schroffe Gegenüberstellung von jesuanischer und jüdischer Position besonders in der Sabbatfrage überakzentuiert erscheint.
Das Auftreten und das Wirken des vorösterlichen Jesus bilden die Basis für vier »Transformationen« einer theologischen Entwick­lung: die Entstehung der Christologie, die beschneidungsfreie Mission mit dem Apostel Paulus als Zentralfigur, die (synoptische) Evangelienliteratur als innovative Krisenbewältigung in den Jahren nach 70 n. Chr. sowie die Etablierung des Evangeliums in der Welt, unter der die Deuteropaulinen Kol, Eph, 2Thess, 1/2Tim, Tit, die Katholischen Briefe (einschließlich Hebr) sowie die johanneische Theologie und die Joh-Offb zusammengefasst werden.
Die Entstehung der Christologie sieht der Vf. grundsätzlich als Folge des vorösterlichen Anspruches Jesu: »Die Entstehung der Christologie aus der Verkündigung und dem Anspruch Jesu heraus ist ein natürlicher historischer und theologischer Prozess« (172), der durch das Ostergeschehen neu inspiriert wurde.
Die zweite Transformation vollzieht sich in der beschneidungsfreien Mission in der hellenistisch-römischen Welt, für die Paulus als die entscheidende Zentralfigur zu gelten hat. Dieser Teil stellt Paulus als Missionar und theologischen Denker im Kontext der philosophisch-theologischen Reflexionen der Antike in den Vor­dergrund. Hier kann der Vf. seine aus der Arbeit am »Neuen Wettstein« gewonnenen Einsichten umfassend zur Geltung bringen. Mit der Profilierung des Paulus als eigenständigem »Gottes-Denker« im Kontext der Antike hat der Vf. sicher einen Aspekt in den Mittelpunkt gerückt, den es weiter zu bedenken gilt.
Die Zeit des Abtretens der Gründergestalten der christlichen Bewegung (Petrus, Paulus, Jakobus) ist die Zeit der ersten theologischen und politischen Bewährung, der die erzählende Literatur der synoptischen Evangelien und der Apg Rechnung zu tragen versucht (»Dritte Transformation«). Unter diesem Gesichtspunkt werden die Charakteristika der ersten drei Evangelien (und der Apg) behandelt (»Evangelienschreibung als innovative Krisenbewältigung«), unter das Leitthema der Sinnstiftung in geschichtlicher Darstellung gestellt, unter den schon für die paulinische Theologie angewandten Zentralthemen systematisiert und jeweils in ihrer theologiegeschichtlichen Bedeutung skizziert.
So sehr die Zusammenfassung der Deuteropaulinen und der Katholischen Briefe unter die »vierte Transformation« (»Das Evangelium in der Welt«) überzeugt, so sehr mag erstaunen, dass der Vf. das Johannesevangelium von den Synoptikern abtrennt und diesem Teil seiner Theologie zuordnet. Sicher hat das vierte Evangelium seinen eigenen Charakter, es ist aber auch Jesuserzählung, welche Identität in theologischer und politischer Krisensituation schaffen will und zudem auch in zeitlicher Nähe zumindest zu Mt und Lk steht (für Lk/Apg nimmt der Vf. die Zeit zwischen 90 und 95 an). Unabhängig von dieser Frage nach der Einordnung des Joh-Evangeliums bietet der Vf. eine thematisch zentrierte Darstellung der Theologie des vierten Evangelisten.
Es sei ein Fazit gezogen: Der Vf. sucht in seiner »Theologie des Neuen Testaments« nicht die Einheit, sondern »die Gedankenwelt der ntl. Schriften« zu erheben (15) und dem heutigen Leser als sinnstiftenden Deutungsvorgang nahezubringen. Das ist ein plausibler Ansatz, dem er zweifellos gerecht wird. Der Vf. hat ein Werk vorgelegt, das eine theologische Einleitung, eine theologische Jesusauslegung, eine paulinische bzw. johanneische Theologie sowie die theologischen Konsequenzen der sich in der Welt etablierenden Kirche miteinander unter dem Grundaspekt der »Sinnstiftung« zu verbinden sucht. Darin liegt die Stärke dieses Kompendiums. Über manche Fragen wie z. B. der Verhältnisbestimmung Jesu oder des Paulus zum Judentum kann man sicher geteilter Meinung sein. In der Grundbestimmung des Verhältnisses zwischen vorösterlichem Jesus und der Entstehung der neutestamentlichen Christologie ergibt sich für den Rezensenten allerdings die Frage, ob schon der irdische Jesus die weitreichenden Vorgaben artikuliert hat, die dann nach Ostern neu vermittelt wurden. Hat nicht doch die nachösterliche christologische Entwicklung größeren Anteil am »Sinnstiftungsprozess«?
Summa summarum hat der Vf. ein Werk vorgelegt, das seinen Platz neben den in jüngerer Zeit vorgelegten »Theologien« gewiss finden wird.