Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Mai/2009

Spalte:

561–562

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Schipper, Bernd U., u. Georg Plasger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Apokalyptik und kein Ende?

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 302 S. m. 5 Abb. 8° = Biblisch-theologische Schwerpunkte, 29. Kart. EUR 20,90. ISBN 978-3-525-61594-2.

Rezensent:

Matthias Rein

»Das eschatologische Büro macht im 20. Jahrhundert Überstunden«, so Hans Urs von Balthasar in Abwandlung eines Bonmots von Ernst Troeltsch (216). Geschichtsphilosophische bzw. -theologische Anklänge in aktuellen Diskursen wie »Ende der Geschichte«, »clash of civilization«, »9/11«, »war against terrorism«, »Festung Europa«, der »neue Mensch« belegen das. Das zu besprechende Buch dokumentiert Vorträge einer interdisziplinären Annäherung an das Phänomen Apokalyptik, die an den Universitäten Bremen und Siegen 2005/06 gehalten wurden. Apokalyptische Szenarien spiegeln bewusst oder unbewusst Veränderungen in der Gesellschaft, re­flektieren Krisensituationen, bieten Orientierung und überführen transzendente Kategorien wie »unheilvolle Welt« und »göttliches Reich« in innerweltlich zu realisierende Programme. Der fachübergreifende Zugang zu diesem Phänomen will helfen wahrzunehmen, zu verstehen, zu deuten und weiterzudenken und leistet damit Aufklärung im guten Sinne.
Dem Religionswissenschaftler Bernd U. Schipper zufolge entsteht das Gegenüber von Unheils- und Heilszeit als Reaktion auf die Krise des altorientalischen Weltbildes. Die apokalyptischen Texte in Israel entstehen durch den Einfluss linearen Zeitdenkens im Zuge des Hellenismus und antworten auf die Frage nach dem universalen Handeln Gottes angesichts von Unheil in der Welt. Der Alttestamentler Klaus Koch stellt das apokalyptische Denken im Daniel- und Henochbuch vor. Es ordnet den Einzelnen in die von Gott menschenfreundlich ausgerichtete Geschichte ein und will so orientieren. Die neutestamentlichen apokalyptischen Texte müssen auf die konkreten historischen Kontexte bezogen werden, in denen sie verankert sind, so der Neutestamentler Bernd Kollmann. Apokalyptik verweist auf Gott als Herrn der Geschichte, entmythologisiert Ansprüche politischer Herrscher und stellt einen individualistischen Heilsenthusiasmus in Frage. Biblisch apokalyptisches Denken, so der Systematiker Ernstpeter Maurer, setzt sich mit dem Verhältnis zwischen der guten Schöpfung Gottes und dem Machtanspruch schöpfungswidriger Elemente in der Welt auseinander. Die Reformatoren, so der Kirchenhistoriker Volker Leppin, wollten die Gläubigen angesichts des nahen Endes der Welt sammeln. Apokalyptisches Denken verbindet sich konstitutiv mit Luthers Grundentdeckung des Evangeliums und seinem Kampf gegen die Papstkirche. Württembergische pietistische Bewegungen im 18. Jh. erwarteten das Reich Gottes in der Geschichte und zogen deshalb in das Russland Zar Alexanders I., einer apokalyptischen Lichtgestalt in ihren Augen, so der Historiker Manfred Jakubowski-Tiessen. Im Mittelalter, so der Religionswissenschaftler und Historiker Christoph Auffarth, werden apokalyptische Bilder und Texte intensiv rezipiert, allerdings unapokalyptisch ausgelegt. Man geht nicht vom nahen Weltende, sondern von einer Frist aus, die Gott gewährt, damit die Menschen Gottes gerechte Herrschaft vorbereiten können. Während die Moderne die Erlösungshoffnung ins linear-teleologische, aber krisenhafte Diesseits transferiert (»ku­pierte Apokalypse«) und an ihrer Erfüllung arbeitet (der »neue gesunde Mensch« im Zeichen von Ausdifferenzierung, Rationalisierung, psychologischer Individualisierung und physischer Do­mestizierung), gibt die Postmoderne die Hoffnung auf ein Ziel auf und richtet sich in der Vielzahl der Untergänge ein, wie der Literaturwissenschaftler Heinz-Peter Preußer an Beispielen zeitgenössischer Literatur zeigt. Auch säkularisiertes apokalyptisches Denken in der Moderne bleibt durchlässig für religiöse Formen und Inhalte und als Weltdeutung relevanter Teil der sozialen Wirklichkeit, so der Soziologe Alexander-Kenneth Nagel. Religiöse Weltbilder eines protestantischen Prämillenarismus leiten amerikanische Außenpolitik gegenwärtig stärker als internationales Recht, wie der Religionswissenschaftler Hans G. Kippenberg zeigt.
Der Ethiker Marco Hofheinz verweist auf den »neuen Menschen in Christus«, dessen Sein sich vom Kreuzesgeschehen her er­schließt. Von daher ist einer Baalisierung Gottes, einer Eugenik im Gewand des Humanismus und einem allgemeinen Katastrophis­mus nüchtern, realistisch und aufklärend zu wehren. In Auseinandersetzung mit der Bibelhermeneutik fundamentalistischer christlicher Strömungen fordert der katholische Systematiker und Friedensforscher Heinz-Günther Stobbe aktuelle Antworten in Kirche und Theologie auf die Frage nach der Bedeutung der Selbstoffenbarung Gottes für die politische Geschichte der Völker. Der Systematiker Georg Plasger versucht eine Verhältnisbestimmung von Apokalytik und Eschatologie: Eschatologische Aussagen reden bildhaft vom Kommen Jesu Christi, das bereits geschehen ist und endgültig noch aussteht. Von daher sind apokalyptische Vorstellungen und Bilder zu beurteilen.
»Unser Problem ist die unklare Koexistenz der chiliastischen Hoffnungen, die sich mit unserem Naturalismus (noch) verbinden, und der apokalyptischen Ängste, die aus unsrem abendländischen Erbe auch in Zeiten eines säkularen Chiliasmus bestehen oder wachgerufen werden können«, so der Systematiker Walter Sparn (224). Er fordert auf dem Hintergrund leidvoller geschichtlicher Erfahrungen mit der politischen Instrumentalisierung apokalyptischer Weltdeutung eine klare Entkoppelung von religiöser Autorität und politischer Macht. Zum anderen fordert er, die Selbstaufklärung der Moderne im Blick auf Hoffnungen hinsichtlich der Machbarkeit der Zukunft sowie im Blick auf ihre Ängste vor globalen Katastrophen, die die Bösen verursachen, voranzutreiben. Dazu tragen biblische Exegese, kirchengeschichtliches Wissen und systematisch-theologisches Denken eigenständig und unersetzbar bei, wie die Beiträge der Vortragsreihen zeigen.