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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1086–1088

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bongardt, Michael

Titel/Untertitel:

Der Widerstand der Freiheit. Eine transzendental-dialogische Aneignung der Angstanalysen Kierkegaards

Verlag:

Frankfurt/M.: Knecht 1995. IX, 392 S. 8° = Frankfurter Theologische Studien, 49. Kart. DM 78,­. ISBN 3-7820-0727-1

Rezensent:

Walter R. Dietz

Ähnlich wie bereits fast alle anderen Monographien der letzten fünf Jahre zu Sören Kierkegaard, behandelt auch B.s für den Druck überarbeitete Dissertation (1993, bei Th. Pröpper) dessen Freiheits- und Angstbegriff. B.s Analysen zielen auf einen Dialog zwischen Kierkegaard (= SK) und der sog. Transzendentaldialogik (Krings, Heinrichs, Pröpper). Dessen Durchführung ist allerdings insofern einseitig, als nicht SKs Freiheitsverständnis zur Kritik eines neuzeitlichen, intersubjektiv-dialogisch konzipierten Autonomiebegriffs herangezogen wird, sondern primär umgekehrt SKs (vermeintliche) Fixierung des einsamen, weltlosen Einzelnen (246, 308 f., 312 f.) vom dialogischen Ansatz her kritisiert wird. Bongardt gelingt es dabei sehr gut, die zentrale Bedeutung des Selbstverhältnisses für SK aufzuzeigen, wobei die Gottesbeziehung vorrangig ist (wohl nicht als Relation zu "fremder Freiheit" zu verstehen). Der Vf. interessiert sich jedoch weniger für die theologische Seite des Menschenbildes bei SK, sondern konzentriert sich ganz auf die Frage, ob das dialogische Moment, die Offenheit für die Anerkennung fremder Freiheit, bei SK zum Tragen kommt. Seine Antwort fällt differenziert aus: Der Möglichkeit nach schon (193 f. 197); in der Durchführung bleibe SK allerdings einem "monologischen", einsamen Freiheitsverständnis verhaftet (74 Anm.; 90, 310 f., 315, 360).

B.s Interpretation basiert auf einer soliden, umfangreichen Textgrundlage (zu E/O: 59-112, FZ/Wdh/SLW: 117-132.191-198, PhBr/UN: 132-154.198-206.248-255.297-304, BA: 154-182.238-245.276-280, KzT: 258-276, EiC: 280-287, LT: 291-297.306 ff.), wobei das Grundproblem der Pseudonymität keineswegs übersprungen wird (21 ff.,28). ­ Im ersten der vier Teile (A-D) behandelt der Vf. die Angst als "Indiz der Freiheitsbegabung", wobei die ästhetische "Freiheitsvergessenheit" im Blickfeld steht (7-57), im zweiten Teil (B) die "Angstvergessenheit der Selbstwahl", wobei der "Freiheitsoptimismus" des Ethikers (Gerichtsrat Wilhelm, Pos. B in Entweder/Oder) auf der Basis seines Selbstwahl-Konzeptes kritisch dargestellt wird (58-113). Im folgenden (C) kommt Angst als "Fessel der Freiheit" zur Sprache, wobei mit Hilfe der "ethikkritischen" Pseudonyme die "Freiheitsgrenzen" aufgezeigt werden (114-235) ­ in (C) wird also die in (B) als (A) widerlegt aufgezeigte Position ihrerseits überboten durch Einsichten, die den Freiheitsoptimismus von (B.) als illusionsbehaftet entlarve. Im letzten Teil (D) geht es um die "Entmachtung der Angst im Glauben", insbesondere SKs Konzept von Glaube, Liebe und Vergebung, was unter dem Titel "Freiheit im Widerstand" verhandelt wird (236-359). Grundlegend ist die unausgesprochene These, daß die Behandlung des Freiheitsthemas bei SK insgesamt als Dialog mit der Position B in Entweder/Oder II (1843) durchgeführt werden kann. Aufgrund dieser durch Greve, Hauschildt und Vetter nahegelegten These wird es dann auch verständlich, wenn der Vf. den Begriff Angst unbefangen als "Beitrag zur Stadienlehre" (179 ff.) liest und die Positionen von E/O in das Verzweiflungsschema der Krankheit zum Tode einordnet (263-267). Ob aber Anti-Climacus (KzT) das Selbstwahl-Schema von Wilhelm (B in E/O) hätte "übernehmen können" (271), und ob er im gleichen Sinn von "Verzweiflung" spricht wie Wilhelm (261), scheint mir äußerst fraglich (zumal Wilhelm ganz im Gegensatz zur KzT davon ausgeht, daß Verzweiflung Gegenstand einer freien Wahl sein könne, vgl. 60 f.). Im gleichen Kontext findet sich B.s Übernahme der "Negativismus"-These Theunissens (256 f., 309 ff.), wonach SKs positives Freiheitsverständnis von der Struktur in Sünde sich verfehlender Freiheit abhängig sei (ausführl. Kritik vgl. Dietz 1993, 45.124.146 und AZPh 18, 1993, 85 ff.).

In einem "Schlußprotokoll" (360-365) wird der Gedankengang rekapituliert und gebündelt. Im Anhang findet sich erfreulicherweise nicht nur ein Personen-, sondern auch ein gut brauchbares Sachregister. Das Literaturverzeichnis ist umfassend und aktuell. Kronzeugen sind Slök, Paulsen, Fahrenbach, Theunissen, Greve und Vetter. A. Hügli und Kl. Schäfer fehlen; natürlich konnten auch, weil zu spät erschienen, die wichtigen Arbeiten von H. Schulz und M. Bösch (beide 1994) kaum bzw. nicht mehr berücksichtigt werden (vgl. Rez. in ThLZ 119, 1994, 126 ff . u. 120, 1995, 261 ff.).

Auf dem Hintergrund von E/O II spricht der Vf. treffend vom "radikal ethischen Freiheitsverständnis" SKs (211). Dies wird auch insofern konkret, als er überzeugend den für SK konstitutiven Zusammenhang von Sünde, Schuld (als Selbstverfehlung) und Freiheitstat herausarbeitet (157, 168, 174, 186 ff., 193, 226, 232) ­ im Gegensatz zu einem tragischen oder "unmittelbaren", d.h. naturhaft-biologistischen Erbsündenmißverständnis (denn in Abkehr vom Propagationsbegriff cf. DS 1513 / UN I,199 / Vf. 178, versucht der "Begriff Angst" [BA] Sünde vom Freiheitsbegriff her zu denken, cf. Dietz 1993, 259.281 f.290).

Daß die optimistische Überschätzung der immanenten Möglichkeiten menschlicher Freiheit ein Grundproblem der Interpretation des Vf.s darstellt, zeigt sich noch massiver im Blick auf seine Interpretation von Angst und Glaube: Aufgrund seiner nicht nur in der Angst, sondern auch gegen sie manifesten Freiheitsbegabung könne sich der Mensch nicht nur zu seiner Angst (327), sondern auch zu deren Gegenstand (dem "Nichts"; 329) frei verhalten. Jedoch vertritt Vigilius in BA die gegenteilige Position: Gegenüber sich und dem "Gegenstand" der Angst ist die Freiheit gerade nicht frei, sondern befangen.

Die vom Vf. humanwissenschaftlich eruierte These, "daß die Angst überwunden werden kann durch die Entdeckung der Freiheit" (329), widerspricht Vigilius´ Auffassung, daß im Gegenteil die Entdeckung der Freiheit Angst erzeugt. Entsprechend wird die Angst vom Vf. als Indiz einer unverbrüchlichlichen Freiheitsbegabung verstanden (327) statt als Ausdruck des servum arbitrium. Immerhin sieht B., daß Angst die Freiheit so deformiert (167), daß sie "faktisch unfähig ist, sich anders denn als sündige zu realisieren" (362). Jedoch versteht BA die Angst als incurvatio libertatis in seipsam und "allein den Glauben" als das Rettende (vgl. 239 Anm. 4; 244), wobei die Angst als Medium der Glaubensvertiefung (BA Kap.V) sowie der Entzauberung endlicher Faszinationsobjekte verstanden wird, also nicht einfach als "Widerstand" (116, 214, 236, 359, 365) oder "Widerpart" (167) einer von sich aus zum Glauben fähigen Freiheit.

Wenn der Vf. gegen Pannenbergs Kritik (Anthropologie 1983, 93-100), wonach Angst als Manifestation der Sünde und nicht umgekehrt zu verstehen sei, deren Recht im Blick auf BA Kap.I bestreitet (188), so verteidigt er damit des Vigilius These, Angst sei prälapsarisch als "neutrale Zwischenbestimmung" zu verstehen (189). Der Vf. übersieht jedoch (vgl. 176 Anm. 300), daß die Definition der Angst in BA Kap.I als "incurvatio in se" (Frihed hildet i sig self, BA 48 = Kp. I, § 6) Basisdefinition jeder Angst sein soll, also auch der Angst als Zwischenbestimmung. Jene Selbstbezogenheit (cf. 185 BA 61) ist somit Grundmerkmal der Angst, die immer schon Ausdruck eines gestörten Gottesverhältnisses (Mangel an Furcht und Vertrauen) ist. Als solche ist sie mit G. Ebeling, W. Pannenberg und Chr. Gestrich als Manifestation der Sünde zu begreifen. B.s Kritik an Pannenberg hat allerdings recht, wenn er in BA gegen Pannenberg einen mindestens ebenso angemessenen Ausdruck der Erbsündenlehre sieht wie in KzT (189; denn die Geschichtlichkeit, Fortsetzung und Progression der Sünde wird nur in BA, die objektive Universalität ­ cf. Rö 8,19 ff. ­ dort besser zum Ausdruck gebracht, vgl. BA Kap.II).

Im Blick auf B.s Interpretation der Angst liegt das Hauptproblem darin, daß er deren Radikalität im Interesse des Konzepts einer immanent gegen sie widerstandsfähigen Freiheit abblendet. Das Verhältnis der Freiheit zur Angst wird veräußerlicht, undialektisch vorgestellt, so als ob es im Sinne von BA eine "intakte", widerstandsfähige Freiheit neben der Angst und gegen sie geben könne. B.s massiver Freiheitsoptimismus führt hier dazu, die Radikalität des Angstbegriffs in BA gar nicht erst wahrzunehmen. Schon der erste Satz dieses Kapitels (D) verrät die Entschärfung des Angstkonzepts: "Auf dem Weg, seine Freiheit zu verwirklichen, begegnet der Mensch seiner Angst als einem entscheidenden Widerstand." (236) An einen Spaziergang mit der Angst (verharmlosend "Begleiterin" genannt 212, 349, 362) hat SK sicher nicht gedacht, auch nicht daran, mit BA den neuzeitlichen, "konsequenten" Autonomiebegriff aufzubessern (232, 319 f., 359). Was beim Vf. herauskommt, ist so etwas wie "Autonomie mit einem Schuß Angst". Er vertritt somit paradoxerweise einen Freiheitsoptimismus, dessen pseudonyme Destruktion er durchaus überzeugend aufgewiesen hat: (B´s) Grundproblem sei, daß er offenbar "die Fähigkeit der menschlichen Freiheit" überschätze, "die ihrer Realisierung entgegenstehenden Widerstände zu überwinden", wobei er gleichzeitig "die freiheitszerstörende Macht der von menschlicher Freiheit zu verantwortenden Schuld" unterschätze (131 cf. 361). Exakt. Was der Vf. nun aber im Blick auf SK behauptet, nämlich daß er "dem Grundansatz von (B´s) Freiheitsdenken treu bleibt" (74 Anm.71), gilt bei näherem Hinsehen durchaus nicht für SK, sondern für den Vf. selbst. Denn der von ihm und den Transzendentaldialogikern vertretene Optimismus, "daß Menschen in der Zusage von Vergebung und Treue kraft ihrer Freiheit fähig sind, Schuld und Angst zu entmachten" (364 Hervorh. W.D.), trifft präzise die Grundanschauung Wilhelms (B in E/O II), die SK mit seinen "ethikkritischen" Pseudonymen destruiert hat. Weder im Sinne (B´s) noch seiner Kritiker ist jedoch B.s These haltbar, der Ethiker (B) vertrete ein "monologisches" Freiheitsverständnis (73 f.), zumal (B) ja ganz im Gegenteil auf eine sozial, institutionell und geschichtlich verbindliche Selbstverwirklichung aus ist.

Theologisch schwierig ist es, daß der Vf. einerseits davon ausgeht, daß der Glaube Tat des freien Willens sei und "nur als Freiheitsakt... vom Glauben sinnvoll gesprochen werden" könne, andererseits aber richtig sieht, daß er bei SK "nur schwer noch als freier Akt des Menschen verstanden werden" kann (249 mit Anm. 42). Wenn SK in den Philos. Brocken ausschließt, daß Glaube Akt des freien Willens sein kann (251), die KzT jede glaubensfreie Selbstbegründung der Freiheit als Verzweiflung versteht (189.260 f.) und in BA der Glaube allein das (mit Hilfe der Angst) Erlösende ist (240.244), dann widerspricht dies der Grundintention des Vf., Glaube als "Akt der menschlichen Freiheit" bzw. gar als Leistung des Menschen (302) auszulegen. Dies steht in ungeklärter Spannung zur Klarheit seiner Erkenntnis, daß für SK positive Selbstrealisierung "nicht aus eigener Kraft" möglich ist, "sondern nur indem sie sich als von Gott geschenkte Möglichkeit glaubend annimmt" (260).

Ungeachtet der notwendigen Rückfragen zu B.s (Vor-)Verständnis von Angst und Glaube bleibt ihr kaum bestreitbarer Wert einerseits in der gelungenen Darstellung der "ethikkritischen" Positionen, andererseits in der Öffnung des Denkens von SK im Blick auf humanwissenschaftliche, insbesondere tiefenpsychologische Ansätze.