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Ausgabe: | Mai/2009 |
Spalte: | 537–539 |
Kategorie: | Judaistik |
Autor/Hrsg.: | Cohen, Naomi G. |
Titel/Untertitel: | Philo’s Scriptures: Citations from the Prophets and Writings. |
Verlag: | Leiden-Boston: Brill 2007. XVIII, 278 S. gr.8° = Supplements to the Journal for the Study of Judaism, 123. Lw. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-16312-6. |
Rezensent: | Maren R. Niehoff |
In diesem Buch unternimmt es Naomi Cohen, einen Aspekt der jüdischen Identität Philos aufzuzeigen, indem sie seine sehr seltenen Zitate aus den Propheten und Weisheitsbüchern in dem in Palästina üblichen und bis heute in jüdischen Gebetsbüchern überlieferten Haftarah-Zyklus zu verankern sucht. Dies impliziert nach C.s Argumentation, dass es schon im 1. Jh. n. Chr. in Alexandrien üblich war, während der Hohen Feiertage zu dem wöchentlichen Bibelabschnitt in der Synagoge auch einen entsprechenden Ausschnitt aus den Propheten zu lesen. Philo wird als Zeuge dieser liturgischen Tradition herangezogen und soll die engen Beziehungen zwischen dem Hebräisch oder Aramäisch sprechenden Mutterland und der Griechisch sprechenden Diaspora zeigen. Im Gegensatz zu Harry Wolfson geht C. nicht davon aus, dass Philo die Texte der Heiligen Schrift im hebräischen Urtext las; sie möchte sogar annehmen, dass einige Bibelinterpretationen von Alexandrien nach Jerusalem gewandert sein könnten. Ihr Hauptanliegen ist es, zu zeigen, dass hier wie dort dieselbe Religiosität gepflegt wurde, die sich bis heute im observanten Judentum erhält.
Das Buch leidet unter methodologischen wie auch spezifischen Mängeln. Zunächst muss betont werden, dass Philos »jüdische Seite« nicht axiomatisch mit seiner Nähe zum rabbinischen Judentum gleichgesetzt werden kann. In Alexandrien konnte man auf vielen verschiedenen Wegen als bewusster Jude leben, ohne dabei Strukturen aus dem Land Israel zu übernehmen. C. räumt zwar in der Einleitung ein, dass »›Judaism‹ neither is nor ever was a monolithic belief system and/or behavior pattern« (7), sieht aber doch die Spannung zwischen den verschiedenen jüdischen Gruppen nur in ihrer Auseinandersetzung über eine implizit gleichförmige Observanz. C. spricht zwar das bekannte Problem an, dass die rabbinische Literatur, die sie als Maßstab für die spezifische Seite der jüdischen Identität Philos heranzieht, mehrere Jahrhunderte später redigiert wurde (20). Über die methodologischen Bedenken der Forschung setzt sie sich freilich mit der Bemerkung hinweg, dass jede Information genutzt werden muss »of course contingent upon its careful and sophisticated application« (20). C.s methodischer Ansatz erscheint somit eher anachronistisch, besonders im Hinblick auf die seit Langem in der Forschung bekannten Probleme der Annahme, dass orthodoxe Strukturen zu Beginn einer Religion homogen vorliegen, bis sie dann von einzelnen Gruppen abgelehnt werden.
C.s Argumentation im Einzelnen ist recht spekulativ, zerstreut und oft redundant. In Kapitel 3 und 4 werden der Haftarah-Zyklus besprochen und die Hauptthese des Buches vorgestellt. Philos Zitate aus den Prophetenbüchern werden in Listen aufgeführt, wobei C. zu zeigen versucht, dass ein Großteil von ihnen als Haftarah zu den besagten Wochenabschnitten der Hohen Feiertage erwähnt wird. Selbst bei großzügiger Interpretation bleibt es offensichtlich, dass sich keine zwingende Übereinstimmung ergibt. Philo verweist einerseits auch auf nicht liturgische Verse und erwähnt andererseits keinen der liturgischen Verse in irgendeinem Zusammenhang mit dem besagten Pentateuchabschnitt, zu dem die Prophetentexte in den Synagogen im Lande Israel gelesen wurden. Ebenso kann es nicht überzeugen, wenn die Liste der Prophetenzitate Philos nach der Loeb-Edition in etwa der Reihenfolge der Prophetentexte an den Feiertagen entspricht, da die Anordnung der Werke Philos in dieser Textausgabe recht mutmaßlich und umstritten ist und sich sowieso nur auf die erhaltenen Werke Philos bezieht. In der hebräischen Philo-Ausgabe z. B. wurde bewusst eine andere Reihenfolge aufgestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint C.s Schlussfolgerung überraschend: »It now appears that at least in this respect even in the Greek speaking Diaspora the process of liturgical standardization was apparently in a far more advanced stage at the turn of the first millennium than is generally assumed« (58).
In Kapitel 6 untersucht C. Philos Zitate aus den Psalmen und kommt selbst zu der Schlussfolgerung, dass »there is no reason to suppose that the liturgical practice in Alexandria in Philo’s day was very similar to that customary today« (153). Dennoch ist sie überzeugt, dass »the overall outline of some of the most central traditional prayer elements were already in place« (ibid). Ohne bestimmte Anhaltspunkte zu finden, möchte C. schließlich plausibel machen, dass die Psalmen für Philo in besonderem Maße heilig waren und ihre Rolle in der Liturgie somit wenigstens zu einem gewissen Grad heutigen Praktiken entspricht.
In den zwei folgenden Kapiteln untersucht C. weitere Zitate, besonders aus dem Richterbuch und den Proverbien. C. interpretiert ihr Vorkommen wieder in Zusammenhang mit Traditionen aus dem Land Israel, aber dieses Mal nicht in Bezug auf die Liturgie, sondern auf Konkordanzen und exegetische Hilfsmittel, die aus dem Hebräischen übersetzt sein sollen. Hier folgt sie Forschern, wie Amir und Grabbe, die schon auf die Möglichkeit von onomastischen Listen hingewiesen hatten. Die von C. diskutierten Fälle geben jedoch keine Anhaltspunkte, um die frühere These auszuweiten.
Im letzten Kapitel geht C. auf die Bezeichnung »Freunde« und »Schüler« des Moses ein und identifiziert hier eine Gruppe von Gelehrten und Schülern, die zur Zeit Philos in Alexandrien tätig gewesen sein soll und sich besonders mit der allegorischen Interpretation der Psalmen beschäftigt haben soll. Doch auch diese These ist sehr spekulativ, da die beiden Begriffe nicht identisch gebraucht werden und es keinesfalls offensichtlich ist, dass es sich bei den »Freunden des Moses« um Zeitgenossen Philos handelt. Während Philo in der Tat manchmal den Ausdruck »Schüler des Moses« im Zusammenhang mit allgemeinen zeitgenössischen Interpretationen gebraucht (z. B. Her. 81–2), bezieht er sich spezifisch auf die Psalmen nur mit der Formulierung »Freunde des Moses«, die die Zitate selbst einleitet, und suggeriert, dass es sich um Hymnen handelt, die nicht von Moses selbst, sondern in seiner engen Umgebung geschrieben wurden.
Das Buch gibt somit Anlass, gewichtige methodische Fragen neu zu überdenken. Philos jüdische Identität und Tradition, die ohne Zweifel den zentralen Aspekt seines gesamten Werkes darstellt, müssen sachgemäß in ihrem historischen Kontext und zwar zunächst im Hinblick auf Alexandrien diskutiert werden. Wie reagierte Philo z. B. auf frühere jüdische Autoren wie den Verfasser des Aristeasbriefes, Artapanus, Ezekiel oder Demetrius? Wie lassen sich seine eigenen polemischen Bemerkungen zu Kollegen interpretieren? War Philo mit hellenistischen Diskussionen in Alexandrien vertraut und wie reagierte er auf sie? Bei der Untersuchung dieser Fragen muss man sich immer vergegenwärtigen, dass alexandrinische wie auch palästinische Juden ihre eigene Tradition eigentlich immer in Auseinandersetzung mit den allgemeinen Fragen der Zeit darstellten und so ihre jeweilige jüdische Identität aktuell neu formulierten.