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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

503-505

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Liedke, Ulf, u. Frank Oehmichen [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sterben. Natürlicher Prozess und professionelle Herausforderung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 268 S. 8° = Akzente der Entwicklung sozialer Arbeit in Gesellschaft und Kirche, 12. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-374-02618-0.

Rezensent:

Traugott Roser

Ulf Liedke, Professor für Theologische Ethik und Diakoniewissenschaft, und Frank Oehmichen, Arzt und Professor für Sozialmedizin und Ethik, präsentieren in ihrem Band »Sterben« eine Vielzahl von Beiträgen zur professionellen und organisatorischen Bewältigung des Sterbens in der gegenwärtigen Situation Deutschlands und Europas. Die Herausforderung in der Gegenwart sehen die Herausgeber in den »vielschichtigen menschlichen und sozialen Beziehungen« im Umfeld des Sterbens. Im Vordergrund stehen die Diskussionen um ein würdiges Ende des Lebens, bestimmt durch die Schlagworte Sterbehilfe, ärztlich assistierter Suizid, Patienten autonomie, Einstellung von Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr etc., die auch kirchenamtliche Stellungnahmen zu bestimmen scheinen.
Die Realität am Ort des Sterbens ist freilich eine andere. Sie erfordert von kirchlich Handelnden in Diakonie, Seelsorge und Bildungsarbeit neben präziser Kenntnis der Umstände auch eine klare Handlungsstrategie. Der Aufsatzband stellt einen lohnenden Beitrag dar zur Orientierung über diese Realität, zeigt aber auch, dass es weiterer Klärungen bedarf.
Die Orte des Sterbens sind heute weitgehend Einrichtungen wie Krankenhaus und Pflegeheim, in zunehmendem Maß Hospize.
Krankenhäuser begegnen dieser Realität durch Professionali­sierung und Umstrukturierung durch Einrichtung von Palliativstationen und palliative Konsiliardienste. R. Prönneke, Leiter eines diakonischen Krankenhauses, stellt die guten Erfahrungen beim Aufbau eines solchen Dienstes vor, leider unter Verzicht auf die öko­nomischen Aspekte der Kosten eines multiprofessionelles Konzepts, das Sozialarbeit, Psychologie, Seelsorge und andere therapeutische Berufe einschließt.
Pastoralpsychologe F. Kittelberger stellt Aspekte bei der Implementierung des Gedankens von Palliative Care in die stationäre Pflege vor und richtet dabei seinen Blick auf zu entwickelnde Standards. Der Beitrag beschreibt einleuchtend die Chance von Qualitätssicherung für eine »perimortale Kultur« in Pflegeheimen, die sich von der im Krankenhaus allein schon durch die Anzahl dementer Bewohner mit lang dauernden Sterbeprozessen unterscheiden muss.
H. Christa, Professor für Sozialmanagement, beschreibt nachvollziehbar die Ebenen, auf denen Qualitätssicherung in der Sterbebegleitung greifen muss: Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Im Unterschied zu harten Konsumgütern sei es im »immateriellen hochsensiblen« Bereich von Trauer und Sterben unumgänglich, »die Standards regelmäßig auf die aktuellen Ansprüche der Bedarfsgerechtigkeit, der Konzeptionstreue sowie technischer Qualität hin zu überprüfen« (122).
Standards sind notwendig, wenn auf den »natürlichen Prozess Sterben« professionell und transparent reagiert werden soll. Der Band enthält Beiträge aus den Bereichen Soziale Arbeit, Psychologie in der onkologischen Pädiatrie und Pflege, die den schwierigen Prozess bis zur Etablierung von Konzeptionen und Umsetzungsstrategien erkennen lassen. Die vielgestaltige Aufsatzsammlung ist allerdings ein Indiz dafür, dass noch nicht klar ist, wie man von der individuellen Ebene der Schilderung eigener Erfahrungen (Modelle guter Praxis etwa im Beitrag von H.-C. Postler zum Sterben in Pflegeheimen, oder von H. Wachsmuth zur Trauerarbeit und Sterbebegleitung von Menschen mit geis­tiger Behinderung) zu einer fundierten, evidenzbasierten und generalisierbaren Beschreibung professioneller Praxiskonzepte kommt.
Bleibt das Thema der Entwicklung professioneller Standards und ihrer Umsetzung in Organisationskulturen ausgespart, kommt es zum Beispiel dazu, dass zwar aus der Sicht einer notariellen Praxis die Beratung zur Patientenverfügung eingehend diskutiert wird (J. Püls), aber im Weiteren nicht überlegt wird, wie in der ambulanten und stationären Versorgung sichergestellt werden kann, dass eine Patientenverfügung erfasst und auch berück­sichtigt wird. Erst durch Regelverfahren kann jedoch sichergestellt werden, dass mit »ethischen Krisenkonstellationen« (Kittelberger, 64) professionell, konzeptionstreu, prozess- und ergebnisorientiert umgegangen wird.
Für Theologie – aber auch für die sich deutlich professionalisierende Palliative Care – wird die Strittigkeit und Bedeutsamkeit der Fragen nach Entwick­lung professioneller Standards und ihrer Implementierung in (vielerorts kirchlichen!) Einrichtungen dann erkennbar, wenn über die Integration von Spiritualität in ein Betreuungskonzept verhandelt wird. Niemand bezweifelt, dass spirituelle Begleitung notwendig ist, auch im von staatlich verordneter Säkularisation geprägten Osten Deutschlands. Aber was heißt das generell? Seelsorger W. Geilhufe erzählt in seinem Praxisbericht von einem Patienten, der ihn rufen ließ, aber kein religiöses Gespräch erbat: »Ich habe nur das Verlangen nach einem sinnvollen Gespräch. Können Sie das verstehen?« (190) Genau um dieses Verständnis geht es, und es bedarf mehr als verständnisvoller Seelsorge, es bedarf verstehender spiritueller Begleitung durch geschulte Seelsorgepersonen.
Die Statistiken belegen, dass sich in fast allen (west)europäischen Ländern mehr als zwei Drittel aller Menschen zum Zeitpunkt des Sterbens in einer Einrichtung befinden. Davon gehören viele zu einer christlichen Kirche. Durch Immigrationsprozesse, Säkularisierung und Pluralisierung der Lebenswelten sind viele kulturell und religiös entwurzelt. Was bedeutet das für das kirchliche Engagement in Seelsorge und Diakonie? Was hat dies für Konsequenzen bei der Integration von Spiritualität in Organisationskonzepte? Auf diese aktuell in Kirche und Diakonie – meist unter Kostenaspekten diskutierte – Frage bleibt der Band leider einen eigenen Beitrag schuldig. Die an der Identitätstheorie Eriksons orientierte theologische Erörterung von U. Liedke bedürfte dringend einer sozial- und organisationsethisch argumentierenden theologischen Dis­kussion der spirituellen Aspekte professioneller und multiprofessioneller Sterbebegleitung.
Dies umso mehr, wenn stimmt, was R. Gronemeyer und A. Heller zur erzwungenen Mobilität von Sterbenden schreiben: »Sterbende sind zu Nomaden geworden, die oft genug von zuhause noch in die Klinik, oder ins Pflegeheim, oder ins Hospiz oder wieder zurück in die Wohnung oder noch einmal in ein Krankenhaus gebracht werden« (41). Wie kann angesichts der Flexibilisierung und Mobilisierung der Lebensverhältnisse beim Sterben die Freiheit der Religionsausübung gewahrt werden, die in manchen Fällen konkret bedeutet, dass bestimmte Sterberituale eingehalten werden? Dies wiederum ist eine Frage von Standards, die in der Lage sind, auf kulturelle Besonderheiten und individuelle Bedürfnisse zu reagieren. Dass Theologie hier gefordert ist – und zugleich noch ein weiter Weg zu gehen ist –, zeigt gerade der Beitrag von Gronemeyer und Heller: Am Punkt Spiritualität meinen sie warnen zu müssen: »Ist es denkbar, Spiritualität so zu instrumentalisieren, dass sie dann europaweit und von allen lokalen und kulturellen Bezügen abgelöst, schließlich an Qualitätsstandards gemessen, in Palliative Care als Dienstleistung einsetzbar ist?«
Wenn Kirchenleitungen mehr tun wollen als sich erwartbar in der Sterbehilfediskussion zu Wort zu melden, müssen sie theologisch fundierte Strategien zur professionellen Sterbebegleitung entwickeln und diese in Seelsorge, Bildungsarbeit und Diakonie umsetzen. Theologisch gesehen bedarf die Frage nach dem Um­gang mit der Spiritualität des Sterbens dringend einer Debatte. Eine begründete Antwort vermag dieser Band (noch) nicht zu liefern.