Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2009

Spalte:

499-501

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schardien, Stefanie

Titel/Untertitel:

Sterbehilfe als Herausforderung für die Kirchen. Eine ökumenisch-ethische Untersuchung konfessioneller Positionen.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. XII, 498 S. 8° = Öffentliche Theologie, 21. Kart. EUR 44,95. ISBN 978-3-579-05747-7 (Gütersloher Verlagshaus); 978-3-374-02702-6 (Evangelische Verlagsanstalt).

Rezensent:

Michael Lippold

Das Problem der Sterbehilfe wird seit geraumer Zeit auf den verschiedensten gesellschaftlichen Ebenen kontrovers diskutiert, und insbesondere die demographische Entwicklung lässt erwarten, dass dieser Zustand erhalten bleiben wird. Selbstverständlich be­teiligen sich auch die Kirchen an dieser intensiven Debatte, was die in Bochum vorgelegte Dissertation zum Anlass nimmt, deren Stellungnahmen unter spezifisch ökumenischem Blickwinkel einer Analyse zu unterziehen. Im Gegensatz zu dem in der Öffentlichkeit vorherrschenden Eindruck, dass »die Kirchen« hierbei eine ein­heitliche Position repräsentieren, geht die Vfn. in ihrer eingangs genannten Arbeitshypothese von einem eher gegensätzlichen Be­fund aus. »Die vorliegende Untersuchung arbeitet auf der Grundlage der Hypothese, dass die kirchlichen Stellungnahmen zur Sterbehilfe konfessionelle Differenzen aufweisen.« (3) Der Rahmen der Analyse ist entsprechend weit gefasst; untersucht werden (in dieser Reihenfolge) Erklärungen der römisch-katholischen Kirche, der orthodoxen, der evangelischen und anglikanischen Kirchen sowie der Freikirchen (wobei die Zuordnung der hier maßgeblich untersuchten, in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen nur Gaststatus genießenden Gemeinschaft der Siebenten- Tags-Adventisten nicht unumstritten ist).
Die in insgesamt vier Hauptteile untergliederte Darstellung nimmt in ihrem ersten Kapitel »Methodologische Vorbemerkungen« und »Begriffsbestimmungen« vor, in deren Ergebnis die Vfn. für eine synonyme Verwendung der Begriffe Sterbehilfe und Euthanasie wie auch Konfession und Denomination plädiert, was sich in ihrer definitorischen Vorfestlegung niederschlägt. »Sterbehilfe bzw. Euthanasie bedeutet das Töten oder Sterbenlassen in Form der Anwendung, Nicht-Einleitung oder Beendigung einer medizinischen Behandlung. Sie richtet sich auf den schwer leidenden Menschen und wird vollzogen durch eine andere Person, die das Wohl des Patienten bezweckt.« (33) Damit werden allerdings besonders kontrovers diskutierte Konstellationen wie das selbstbestimmte, »würdevolle« Sterben ohne schweres Leiden (bzw. gerade aus Angst davor; in der Bundesrepublik durch Roger Kusch protegiert und unterstützend praktiziert) oder die Befürchtung einer gesellschaftlich sanktionierten Euthanasiepraxis qua definitionem ausgeschlossen. Der Untersuchung der für die Konfessionen maßgeblichen offiziellen Stellungnahmen geht in Kapitel 2 eine »Theologische Einführung« voraus, welche »die Grundmomente Leben, Krankheit, Sterben und Tod« (11) sowohl aus biblischer Perspektive als auch auf historischem Hintergrund zu erhellen sucht, wobei die Analyse der Standpunkte bedeutender Persönlichkeiten der Kirchengeschichte auch dem Moment und der theologischen Würdigung des Leidens besonderes Gewicht beimisst. »Als Zentrum der gesamten Arbeit nimmt die Untersuchung der kirchlichen Stellungnahmen (Kap. 3) den entsprechend größten Raum ein. Jedes Unterkapitel zur Position einer Konfession wird eröffnet durch eine Einführung in konfessionsspezifisch relevante anthropologische, ekklesiologische und ethische Schwerpunkte.« (12) Als be­sonders hilfreich erweist sich dabei die von der Vfn. entwickelte »Matrix«, die in systematisierender Art und Weise auf jede der untersuchten Stellungnahmen in gleicher Form zur Anwendung gebracht wird und geeignet ist, Hintergründe und Intentionen der Verlautbarungen offenzulegen. »Der letzte Teil (Kap. 4) resümiert und systematisiert die Ergebnisse der Untersuchung, aufgeschlüsselt in formale und inhaltliche Aspekte, bevor auf dieser Grundlage ein Ausblick auf die Bedeutung für die weitere ökumenisch-ethische Diskussion der Sterbehilfefrage unternommen wird.« (12)
Aus der interessanten Vielfalt offengelegter Argumentationsmuster und Strukturen der kirchlichen Verlautbarungen sei ein gewichtiger Aspekt herausgehoben: die Stringenz der Stellungnahmen der römisch-katholischen Kirche, die selbstauferlegte Zu­rück­haltung der evangelischen Kirchen und die auch daraus resul­tierende Problematik einer asymmetrischen Gewichtung in den ge­meinsamen Erklärungen beider Konfessionen. Während die ka­tholische Kirche mit der traditionellen Orientierung am Naturrecht und dem Prinzip der Heiligkeit des Lebens, mehr noch aber mit den allgemein anerkannten Prinzipien der Verhältnismäßigkeit der Mittel und der Handlungen mit Doppelwirkung, die unter Umständen passive Sterbehilfe ermöglichen (Einsatz schmerzlindernder Mittel unter eventueller Inkaufnahme einer unbeabsichtigten Lebensverkürzung), klare und nachvollziehbare Richtlinien aufstelle, sei den evangelischen Dokumenten ein ganz anderes Merkmal inhärent. »Evangelische Stellungnahmen thematisieren sich auffallend häufig selbst.« (257) Der dem Protestantismus eigene Pluralismus in ethischen Fragen und das verstärkte Bemühen um Differenzierungen und Verständnis für Grenzsituationen führen letztlich zu einem Mangel an Klarheit und Eindeutigkeit, der sich auch in der öffentlichen Rezeption bemerkbar mache. »Die Wahrnehmung evangelischer Stellungnahmen bleibt ambivalent. Wer eindeutige und immer gültige Antworten erhofft, sucht ver­geb­lich.« (292) Besonders gravierend schlage sich diese Ungleichgewichtigkeit in Klarheit und Wahrnehmung jedoch in ökumenischer Hinsicht nieder, nämlich in Gestalt der »gemeinsamen Erklärungen« von katholischer und evan­gelischer Kirche, wo unter dem Mantel »ökumenischer Einstimmigkeit« in Wahrheit eine »rö­misch-katholische Dominanz« (396) zu konstatieren sei. Speziell unter diesem Blickwinkel wirft die Vfn. eine weitere, bisher ungeklärte, dennoch sehr bedeutsame Problematik auf, wenn sie Stellenwert und Geltung dieser Dokumente thematisiert. »Welchen Rang besitzen dann gemeinsame Stellungnahmen mit anderen Konfessionen, denen die Anerkennung als wahre Kirche versagt bleibt, gegenüber den Verlautbarungen von Papst und Vatikan?« (414) Hinsichtlich dieser speziell unter dem Blickwinkel ökumenischer Bemühungen unschwer als problematisch zu erkennenden mangelnden Klarheit mahnt die Vfn. mit Recht eine diesbezüg­liche Verhältnisbestimmung an, die jedoch nicht zu Lasten des auch argumentativ marginalisierten Partners und um den Preis von Anpassungstendenzen erfolgen dürfe. Ob allerdings solche ge­meinsamen Erklärungen der rechte Ort für eine »Klärung der anthropologischen und ethischen Differenzen« sind, darf bezweifelt werden; den Weg des »differenzierten Konsenses« (421) im Sinne einer deutlicheren Herausstellung konfessioneller Unterschiede einzuschlagen, bedürfte angesichts der in der Untersuchung festgestellten gesellschaftlich nicht honorierten Pluralität solcher Stellungnahmen genauerer Abwägung. Stattdessen könnte auch eine Schärfung des protestantischen Profils und dessen Niederschlag in Form und Anspruch der Dokumente in Erwägung gezogen werden, wie es von der Vfn. auch angedeutet wird.
Die Dissertation vermag unter dem hier eingenommenen spezifisch ökumenischen Blickwinkel erhellende Einsichten zur Thematik der Sterbehilfe und deren Abhandlung in kirchlichen Dokumenten zu liefern, die auch in ethischer Hinsicht lohnenswerte Denkanstöße im Blick auf Argumentationsstrukturen anderer Konfessionen zu vermitteln vermag. Angesichts der im Vorwort genannten Vielzahl von Korrektoren fallen doch einige Fehler ins Auge, von denen die Vertauschung der Endziffern der Lebensdaten Luthers einer der ärgerlicheren ist. Der grundsätzliche Wert der vorgelegten Untersuchung und der davon ausgehende nachhal­tige Impuls, nicht zuletzt für eine kirchliche Selbstbestimmung hinsichtlich ihrer öffentlichen Wahrnehmung, bleiben davon unberührt.