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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

496-498

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Meyer, Lukas H.

Titel/Untertitel:

Historische Gerechtigkeit.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2005. XII, 458 S. 8° = Ideen & Argumente. Geb. EUR 49,95. ISBN 978-3-11-018330-6.

Rezensent:

Martin Honecker

Die Arbeit ist das Ergebnis eines Forschungsaufenthalts des Vf.s als Visiting Scholar an der Law School der Columbia Universität, den die Alexander von Humboldt-Stiftung ermöglichte. Sie stützt sich weithin auf angelsächsische Literatur. Der Titel »Historische Ge­rechtigkeit« erhebt einen hohen Anspruch. Die Begriffsverbindung historisch und Gerechtigkeit steht für ein programmatisches Postulat. Die Frage, ob dieser Anspruch eingelöst wird, ja, ob er überhaupt einlösbar ist, ist freilich erst am Schluss zu stellen. Methodisch argumentiert die Arbeit moralphilosophisch, rechtstheoretisch und zum Teil auch rechtsphilosophisch. Es geht um Rechte und Pflichten gegenüber künftigen Generationen und ge­genüber vergangenen Generationen. »Die vorliegende Arbeit stellt eine philosophische Analyse und Interpretation der normativen Relevanz historischen Unrechts vor und unterbreitet Vorschläge für den rechtlichen und institutionellen Umgang mit historischem Unrecht im Lichte der internationalen Praxis.« (1) Über seine eigene Position und seine Arbeitsweise gibt der Vf. am Schluss selbst eindeutig Auskunft: »Liberale politische Philosophie, wie sie hier verstanden wird, ist in einem weiten Sinne konsequentialis­tisch, dem Wertindividualismus verpflichtet, hält letzteren für universell gültig, und weist ein Kriterium für richtiges Handeln aus, das für alle gleichermaßen gültig ist.« (387) Die Stichworte sind liberal, Wertindividualismus, konsequentialistisch, Anspruch auf universelle Gültigkeit, kurzum auf Rationalität.
Die Arbeit besteht aus sieben Teilen. Sie geht sehr intensiv auf die Literatur und die Diskussion der strittigen Fragen ein, was eine gewisse Breite der Darstellung zur Folge hat. Dadurch ergeben sich auch an manchen Stellen Wiederholungen und Überschneidungen. Die Kapitelüberschriften benennen die Themen.
»I. Einleitung« (1–13) gibt einen Vorblick und »VIII. Schluss« (385–394) fasst ebenso knapp zusammen. Ein tabellarischer Überblick unter der Überschrift »Übersichtstabellen« (395–403) stellt Ergebnisse und Argumente schematisch dar. Den eigentlichen In­halt bieten also die Teile II bis VII. »II. Vergangenheit und Zukunft. Die Gründe für eine Schwellenwertskonzeption der Schädigung« (15 ff.) erörtert die Ansprüche künftig Lebender an die gegenwärtig Lebenden. Der grundlegende Einwand gegen solche Ansprüche lautet, dass zukünftige Generationen nicht heute leben und also keine Träger oder Subjekte von Rechten und Pflichten an die heute Lebenden sein können (22). Es fehlt ferner die Reziprozität. Der Vf. sucht gleichwohl unter der Perspektive historischer Gerechtigkeit Rechte zu begründen, wobei er sich vor allem auf John Rawls stützt (40 ff.). Ein weiterer Vergleichspunkt sind Forderungen nach Entschädigung (46 ff.). Es ist sicher zutreffend, dass heute Lebende Verantwortung für die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen tragen. Aber ist diese in Form von Rechten und Pflichten zu fassen?
Alle folgenden Kapitel orientieren sich an der Vergangenheit. Der Ausgangpunkt ist, dass die Signifikanz des Todes nichtreligiös interpretiert werden soll, dass tote Menschen heute nicht mehr affiziert werden können und dass der Wert keines Moments ihres Lebens durch postume Ereignisse geändert werden kann (4). Daraus folgt die Frage: »Aber wie könnte man Tote als mögliche Rechtsträger verstehen, ohne religiöse oder metaphysische Annahmen zu machen, die generell die Bedeutung des physischen Todes für die Fortexistenz der Person bestreiten?« (79) Mit diesem Ansatz sind alle religiösen Argumente wie Reue, Schuld, Vergebung, Buße von vornherein ausgeschlossen. Der Gedanke der Entschädigung bildet vielmehr die Brücke zu »III. Überlebende Pflichten und symbolische Kompensation« (75 ff.), worin es um Entschädigung für Unrecht in der Vergangenheit geht. »Überlebende Pflichten« (91 ff.) und symbolische Kompensation werden durch Errichtung eines Denkmals oder durch Schaffung von Orten der Erinnerung verwirklicht. Argumentiert wird dabei mit einem »vergangenheitsorientierten Konsequentialismus« (112 ff.). »IV. Kollektives Erbe und der Wert der Gruppenmitgliedschaft« (135 ff.) erweitert nochmals die Fragestellung, die bislang von einem normativen Individualismus bestimmt wird, durch Überlegungen zu Kollektiven. Kollektive sind Erinnerungsgemeinschaften. Exemplifiziert wird dies an den Völkern der Saami und der Roma (142 ff.). Der moralische Wert der Gruppenmitgliedschaft wird ausführlich untersucht. »V. Kollektives Erbe. Interpretation seiner normativen Implikationen« (183 ff.) geht aus von Fragen der Haftung. Im Rück­blick ist das Verhältnis von öffentlichen Gütern und öffentlichen Verbrechen asymmetrisch (195). Dankbarkeitspflichten und Wie­dergutmachungspflichten sind nämlich ungleich. Am Beispiel der Debatte um die rechtliche Relevanz des DDR-Unrechts (228 ff., nochmals erörtert 304 ff.) veranschaulicht der Vf. das Problem. Dann kommt er erneut auf die Ansprüche der Saami und Roma zurück und deren Forderung nach transnationaler Autonomie (249). »VI. Gesetzliches Unrecht« (285 ff.) führt die Thematik weiter, etwa anhand der (straf-)rechtlichen Maßnahmen der Transition to Democracy (289) und in Auseinandersetzung mit G. Radbruchs Deutung gesetzlichen Unrechts (292–295, erneut 317 ff.). Zum Problemkern stößt »VII. Wahrheit und Gerechtigkeit« (337 ff.) vor. Es geht um die Begründung universeller und genereller moralischer Ansprüche, aus der Sicht einer liberalen (kosmopolitischen) Konzeption. Solche Ansprüche setzen voraus, dass sie als »wahr« an­erkannt werden. Am Beispiel der athenischen Versöhnungsverein­barung Ende des 4. Jh.s v. Chr. (337 ff.), der südafrikanischen Wahrheitskommission und der Einsetzung eines internationalen Strafgerichtshofs werden die Schwierigkeiten verdeutlicht. Der südafrikanische Lösungsversuch führte vor die Alternative entweder Wahrheitskommission oder Strafverfolgung (353 ff.) und damit in die Verlegenheit, um der Findung der Wahrheit willen auf Strafverfolgung und Strafvollstreckung verzichten zu müssen. Auch ein internationaler Strafgerichtshof hat nach allen Erfahrungen nur beschränkte Autorität (363). So wird am Ende die sehr materialreiche und weit ausgreifende Darstellung aporetisch. Denn sie plädiert zur Vorsicht bei der Einleitung strafrechtlicher Verfolgung gerade »im Interesse der Gerechtigkeit« (366).
Die Arbeit sammelt viel beachtenswertes Material und geht kun­dig auf die angelsächsische moraltheoretische Debatte ein. Dennoch befriedigt das Ergebnis am Ende doch nicht richtig. Dies hat einmal einen Grund darin, dass religiöse und kulturelle Aspekte und Interpretationen von vornherein ausgeklammert und ausgeblendet sind. Stattdessen werden abstrakt universelle moralische Ansprüche und Kriterien gesucht und formuliert. Kann man aber eine »historische« Gerechtigkeit ohne Berücksichtigung von Ge­schichte und jeweiliger geschichtlicher Erfahrungen wirklich er­fassen? Das Leistungsvermögen solcher, einer theoretischen Rationalität verpflichteten Beurteilung wäre durchaus zu prüfen. Theologische Ethik wird die Materialdarbietung zwar mit Gewinn nutzen können, aber sie wird mit eigenen Maßstäben und Einsichten ihr Urteil finden müssen.
Zum anderen ist der Begriff und Anspruch einer »historischen« Gerechtigkeit kritisch zu befragen. Kann es eine solche überhaupt geben? Die Grundannahme, auf der diese Vorstellung beruht, und die Überzeugung, man könne eine solche Gerechtigkeit rational bestimmen, ist kritisch zu diskutieren. Denn genauso wie bei der Inanspruchnahme der historischen Wahrheit ist darauf hinzuweisen, dass nur Plausibilitäten, Evidenzen und die Richtigkeit historischer Fakten zu belegen und zu präsentieren sind. Ebenso ist auch »historischen« Gerechtigkeit jeweils bezogen auf und abhängig von Situationen, Wirklichkeitsdeutungen und Wertüberzeugungen. Geht es daher nicht nur um die Wahrnehmung und Anerkennung offenkundigen historischen Unrechts und um eine – begrenzte – Kompensation für Schäden, welche in der Geschichte Menschen zugefügt wurden? Das Wort Gerechtigkeit wird heute mit vielerlei Epitheta versehen und verstärkt: ökologische, soziale, intergenerationelle, internationale und jetzt auch historische Ge­rechtigkeit. Solche Epitheta sagen freilich nichts aus über eine Eigenschaft von Gerechtigkeit, sondern sie bezeichnen nur einen Bereich, eine Beziehung, für die Gerechtigkeit eingefordert und postuliert wird. Ob tatsächlich Gerechtigkeit zu erreichen ist – oder nur Vermeidung und Beseitigung von manifestem Unrecht –, ist mit dem Schlagwort allein mitnichten beantwortet und entschieden. Das Ergebnis der im Detail differenzierenden Studie – wie auch die Tabellen belegen – ist dann, dass eine ethische Reflexion mit Sorgfalt und Sensibilität den jeweiligen Kontext wahrzunehmen hat und ein intendiertes verallgemeinerungsfähiges Urteil darüber, was denn nun gerecht sei, schwierig ist. So bietet diese umfangreiche Arbeit bei aller Sachkenntnis und Gelehrsamkeit zugleich einen eindrücklichen Beleg dafür, wie schwierig es ist, von Gerechtigkeit im Umgang mit Geschichte zu reden, sei dies im Vorblick auf die Zukunft oder im Rückblick auf die Vergangenheit. Sie stößt – ungewollt – an die Grenzen rein rationaler Argumentation, die universelle Gültigkeit beanspruchen will.