Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2009

Spalte:

494-496

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Bayerl, Marion

Titel/Untertitel:

Die Familie als gesellschaftliches Leitbild. Ein Beitrag zur Familienethik aus theologisch-ethischer Sicht.

Verlag:

Würzburg: Echter 2007. XLI, 242 S. gr.8° = Erfurter Theologische Studien, 92. Kart. EUR 24,00. ISBN 978-3-429-02886-2.

Rezensent:

Michael Domsgen

B. widmet sich in ihrer Studie dem Zusammenhang von Familie und Gesellschaft und will klären, »inwieweit man angesichts des in­dividualistischen Paradigmas moderner Gesellschaftstheorie und Politik von der Familie als einem Leitbild der Gesellschaft sprechen kann, ob diesem Sachverhalt in gesellschaftlichen Strukturen bereits in ausreichendem Maße Rechnung getragen wird und welche weitere Konsequenzen er noch erforderlich macht« (1). Diesem Vorhaben geht sie in vier Schritten nach.
Der erste Hauptteil »Das kirchliche Familienleitbild anhand der Dokumente des II. Vatikanums« (3–20) referiert Positionen des letzten Konzils und ihm folgende Apostolische Schreiben, um abschließend als »Leitlinien« festzuhalten: »1. eine stabile eheliche Part­nerschaft in Einheit, Unauflöslichkeit und Gleichrangigkeit der Ge­schlechter; 2. die Wertschätzung von Kindern; 3. Offenheit über die Grenzen der Familie hinaus; 4. Gegenseitige Verantwortung von Familie, Gesellschaft und Kirche« (18).
Der zweite Hauptteil »Die Situation von Familien in der Bun­desrepublik Deutschland« (21–106) hat eine doppelte Zielrichtung. Er will – wie von B. einführend bemerkt – »die reale Lage der Menschen in der Bundesrepublik im Hinblick auf Familie« (21) untersuchen und gleichzeitig die Angemessenheit der eingangs benannten kirchlichen Leitlinien belegen. Letzteres ist zwar nicht ausdrücklich als Zielstellung benannt, wird aber bei der Lektüre schnell deutlich. Zusammenfassend formuliert B. denn auch: »Diese kirchlichen Leitlinien sind keine weltfremden Forderungen, sondern decken sich interessanterweise weitgehend mit den Le­benszielen der Menschen. Diese wünschen sich – von vielfältigen empirischen Untersuchungen bestätigt – sowohl Kinder als auch eine stabile, beständige und solidarische Partnerschaft. Damit ist ein Fall gegeben, indem (sic!) Norm und Sachverhalt übereinstimmen.« (239) Dieser Befund basiert vor allem auf einer unpräzisen Definition des Familienbegriffs. B. betont unter Verweis auf Walter Herzog und Norbert Schneider, dass »eine präzise Definition … nahezu unmöglich« sei, da beispielsweise Sonderformen wie das Zusammenleben von Ge­schwistern (z. B. ein Pfarrer mit seiner Schwester) (44) nicht berück­sichtigt werden könnten. Dem ist durchaus zuzustimmen, doch entbindet dies nicht davon, das eigene erkenntnisleitende Interesse möglichst genau zu formulieren. Das jedoch geschieht nur ansatzweise, wenn B. beispielsweise feststellt, dass »Partnerschaft und Kinder nach wie vor Hauptelemente von Familie sind. Unter Einbeziehung des theologischen Familienverständnisses und der statis­tischen Daten zur Lebensweise der Menschen in Deutschland, kann auch der Ehe nach wie vor eine wichtige Rolle im Familienverständnis eingeräumt werden.« (ebd.) Vor allem die neue Rolle der Ehe wird nicht ausreichend reflektiert. So werden die Begriffe »Ehe«, »Partnerschaft« und »Fa­milie« nicht deutlich voneinander unterschieden. Eine Tendenz zur Idealisierung der Ehepaarfamilie ist nicht zu verkennen, wie der Begriff der »intakten Familie« (= Ehepaarfamilie) zeigt. Auch fällt auf, dass Negativfaktoren (belas­tete Kindheit, problematisches Bindungsverhalten, ökonomische Schwierigkeiten) vor allem im Hinblick auf Scheidungsfamilien thematisiert werden. Diese – in ihrer Bewertung – zu sehr drängende Form der Präsentation von vielen wichtigen Einzelbefunden führt zu einer zu schnellen Harmonisierung kirchlicher Vorgaben mit aktuellen familialen Entwicklungstendenzen.
Dies ist umso bedauerlicher, als dadurch der dritte Hauptteil »Familie und Sozialkapital« (107–182) eine Präfigurierung erhält, die gar nicht notwendig ist. Hier bietet B. einen guten Überblick über die verschiedenen Ansätze zur Bestimmung des Begriffs »Sozialkapital« (Bourdieu, Coleman, Putnam, Fukuyama), um dann ihre eigene – auf Fragen der Familienethik abgestimmte – Definition zu geben: Sozialkapital als »Gesamtheit sozialer Verhaltensmuster sowie formeller und informeller Netzwerke einer Gesellschaft, die dazu beitragen, soziale Interaktionsprobleme zu lösen und den Nutzen sozialer Kooperation dauerhaft zu stabilisieren« (119). Dabei kommt B. auch auf die Schattenseiten zu sprechen, die nicht übersehen werden dürfen. Mit Blick auf die Familie entscheide »gerade die Familienstruktur …, ob Familie nun förderlich oder hinderlich für das Sozialkapital einer Gesellschaft ist« (133). Förderlich ist die »moderne Familie … – eine offene und gleichberechtigte Gemeinschaft, in der die Familienmitglieder sowohl gemeinsam als auch einzeln gesellschaftlich integriert sind und einen gewissen Grad an Unabhängigkeit trotz dieser Beheimatung im Familienverband wahren« (134). An dieser Stelle schlägt nun wieder B.s normativer Zugang durch, denn diese Familienstruktur entspreche »dem geschilderten kirchlichen Familienleitbild, das von Familien eine stabile Partnerschaft, ein Hinauswachsen über die Zweierbeziehung, solidarische und liebevolle Verbundenheit und ein offenes und engagiertes Verhältnis zu Kirche und Gesellschaft fordert« (180). Inwieweit auch andere Familienstrukturen als die von der katholischen Kirche gewünschten förderlich für das Sozialkapital sind, wird offen gelassen.
Der vierte Hauptteil »Ansätze eines familienfreundlichen Ge­sellschaftsentwurfes« (183–235) benennt vier operative Ziele, die wenig kontrovers diskutiert werden: 1. Wahlfreiheit der Eltern bei der Organisation der Kinderbetreuung, 2. finanzielle Gerechtigkeit für Familien, 3. Integration der Männer in die Familien- und Erziehungsarbeit, 4. Schaffung einer familienfreundlichen Berufswelt. Beispiele aus Ländern, in denen dies bereits umgesetzt wird, veranschaulichen die Notwendigkeit und Realisierbarkeit der benannten Ziele.
B.s. Anliegen, die Familie unter dem Paradigma des Sozialkapitals in den Blick zu nehmen, ist uneingeschränkt zu würdigen. Allerdings ist der normative Zugang dabei eher hinderlich, weil er Struktur und inhaltliche Bestimmtheit von Familien immer sofort in eins setzt. Dabei würde gerade der Begriff des Sozialkapitals eine differenziertere Zugangsweise ermöglichen.