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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

490-492

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Newmark, Catherine

Titel/Untertitel:

Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant.

Verlag:

Hamburg: Meiner 2008. 262 S. gr.8° = Paradeigmata, 29. Lw. EUR 58,00. ISBN 978-3-7873-1867-4.

Rezensent:

Ingolf U. Dalferth

Diese von Wilhelm Schmidt-Biggemann und Hilge Landweer be­treute Arbeit, auf Grund derer Newmark 2007 an der Freien Universität Berlin promoviert wurde, trug ursprünglich den Titel: »Pa­thos– Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen von Aris­toteles bis Kant«. Die Veränderungen im Titel der veröffentlichten Arbeit präzisieren, worum es geht: um eine begriffs- und problemgeschichtliche Studie nicht der Phänomene, sondern der philosophischen Theorien der πάθη τῆς ψυχῆς, der passiones bzw. perturbationes oder morbi animae, der menschlichen Affekte, Leidenschaften und Gefühle, die N. insgesamt mit dem pauschal ge­brauchten Begriff der Emotion bezeichnet.
Nach dem weitgehenden Abbruch philosophischer Affektenlehre im deutschen Idealismus und in den naturwissenschaftlich dominierten Strömungen des 19. Jh.s kam es erst am Anfang des 20. Jh.s in Psychologie, Psychoanalyse und Phänomenologie zu einem neuen Interesse am Emotionsthema und am Ende des Jh.s gar zu einer erneuten Hochkonjunktur der Beschäftigung mit Emotionen, wesentlich getragen von der analytischen Moralphilosophie sowie der empirischen Emotionsforschung in Neurologie, Kog­nitionswissenschaft, Psy­chologie, Soziologie und Kulturwissenschaft. N.s Arbeit ist demgegenüber historisch-systematisch orientiert und trägt dazu bei, eine problematische Lücke in der gegenwärtigen Emotionsdebatte zu schließen. In präzisen Rekonstruktionen werden zentrale Positionen der philosophischen Emotionenlehre er­hellt und für die Gegenwart erschlossen.
Nach einer knappen, aber instruktiven Einführung in die ge­genwärtige Debattenlage (9–25) wird zunächst die »Antike und mittelalterliche Grundlegung der Passionskonzeption« dargestellt (26–91). Differenziert und präzis wird Aristoteles’ πάθος-Lehre rekonstruiert, die zum maßgeblichen philosophischen Paradigma des Emotionalen in der europäischen Philosophie wurde (26–52). Daran anschließend werden die Grundzüge der stoischen Affek­tenlehre skizziert, der zweiten prägenden Passionskonzeption der Antike, sowie die christliche Umformung der antiken Affekten­lehren bei Augustin (52–68). Es folgen eine gründliche Analyse der mittelalterlichen Systematisierung aristotelischer Ansätze bei Tho­mas von Aquin (68–89) und ein kurzer Blick auf den Neostoizismus der Renaissance (89–91).
In einem zweiten Teil (»Physiologische Passionslehre«: 92–144) kommt ausführlich der Neuansatz von Descartes zur Darstellung, vor allem anhand einer eingehenden Analyse seines Spätwerks Les passions de l’âme (1649). Für N. ist die dort entfaltete physiologisch fundierte Passionslehre der »letzte große originelle, wenn auch höchst widersprüchliche Entwurf der alten Affektenlehre« (16), der sich im 17. Jh. am weitesten von den scholastischen Mustern entfernt.
In einem dritten Teil (»Mechanistische und rationalistische Um­deutungen des Appetitus-Modells«: 145–203) rekonstruiert N. die Passionskonzeption von Hobbes (145–156), die Emotionstheorie von Spinoza (156–172) unter besonderer Beachtung des Problems der Naturalisierung der Passionen, die Umformung der Problematik in der Monadenlehre von Leibniz, seiner Konzeption der petits perceptions sowie seiner Sicht der Passionen als moralischer Imperfektionen (172–185) und schließlich die voluminösen Affektenlehren von Wolff und deren Auswirkungen auf die Ästhetik Baumgartens. Auch wenn die Analysen teilweise summarisch sind und nur die Grundzüge der behandelten Entwürfe herausarbeiten, bieten sie doch jeweils informative und verlässliche Darstellungen der Emotionsproblematik bei den besprochenen Autoren.
In einem Schlussteil (»Übergang zum Gefühl«: 204–221) werden die Ausläufer der Affektenlehre in Kants Anthropologie in pragmatischer Absicht (1798) analysiert. Mit der Abspaltung der Erkenntnistheorie und Ethik von Psychologie und Anthropologie löst Kant den traditionellen Kontext der Affektenlehre auf und dissoziiert die zuvor weithin synonym verstandenen Termini affectus und passio. Indem er zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen das ›Ge­fühl der Lust und Unlust‹ als mittleres Seelen- oder Gemütsvermögen einschiebt, unterscheidet er nicht nur folgenreich zwischen Affekten und Leidenschaften, sondern trägt zugleich maßgeblich zur Ablösung der überkommenen Affekten- und Passionslehre durch eine sich neu formierende Gefühlstheorie bei. An die Stelle des alten appetitus-Modells tritt damit N. zufolge das neue und wirkmächtige Paradigma des Gefühls.
In einem hilfreichen Anhang werden die »Passionslisten« der wichtigsten besprochenen Autoren geboten (Aristoteles, Diogenes Laertius, Pseudo-Andronikos, Cicero, Augustinus, Boethius, Thomas von Aquin, Descartes, Hobbes, Spinoza, Wolff und Kant). Sie belegen nicht nur die hoch differenzierte Phänomenwahrnehmung der philosophischen Emotionstradition, sondern lassen auch gut erkennen, wie sich diese mit dem Wandel der Zugangsweisen und Betrachtungshorizonte verändert hat. Eine Bibliographie der verwendeten Quellen und Sekundärliteratur beschließt den Band. Namen- oder Sachindizes gibt es bedauerlicherweise nicht.
Insgesamt hat N. eine gelungene und hilfreiche Studie vorgelegt. Gerade weil sie den Emotionsbegriff ganz unspezifisch und allgemein verwendet und den besprochenen Entwürfen keine eigene Konzeption entgegensetzt, sondern diese in ihrer jeweiligen Terminologie und in ihren eigenen Unterscheidungen rekonstruiert, bietet sie nicht nur eine zuverlässige und erhellende Darstellung dieser Entwürfe, sondern kann auch deren theoretische Bruchlinien und philosophische Problemzonen klar herausarbeiten. Zu den überzeugendsten Kapiteln gehören die über Aristoteles, Thomas von Aquin und Descartes. Sie bieten exemplarische Analysen ihrer Positionen, auch wenn gelegentlich die zur Orientierung herangezogene Literatur nicht dem Stand der Forschung entspricht (Martin Grabmann bietet nicht die aktuellste Einführung in die Summa des Aquinaten).
Die Hauptprobleme der Arbeit liegen an anderer Stelle: Die Ausblendung der Emotionentheorie, der sense- und sensibility-Konzeptionen sowie der sentimental moral philosophy der empiristischen Tradition lässt wichtige Aspekte der besprochenen Positionen des 17. und 18. Jh.s unausgeleuchtet. Das gilt besonders für Kant, aber auch für andere Positionen des 18. Jh.s, und es verhindert ein angemessenes Verständnis dessen, wie es in Auseinandersetzung mit Kant zu den nicht erwähnten Gefühlskonzeptionen Jacobis, Herders oder Schleiermachers und damit zu den Weiterentwicklungen des 19. Jh.s kommen konnte. Nicht einbezogen in die Untersuchung werden zudem die Traditionen der Rhetorik, Theologie, Medizin, Musik, Kunst und Literatur und deren – durchaus auch denkendem! – Um­gang mit Affekten und Passionen. Das ist ein gravierender Mangel, der auch durch die pragmatisch begründete Konzentration auf »ausschließlich die metaphysischen, naturwissenschaftlichen, psychologischen und ethischen Affektenlehren von Denkern, die auch heute noch zum inneren Kreis des philosophischen Kanons gezählt werden« (12), nicht wettgemacht wird. Gerade eine philosophiehistorische Studie müsste hier umfassender ansetzen, um den verzweigten Kontinuitäten, Wandlungen und Querverbindungen der disziplinär sich differenzierenden Auseinandersetzung mit dem Emotionsthema gerecht zu werden. So liegt in dieser Arbeit eine kompetente Darstellung wichtiger Affekten- und Passionenkonzeptionen aus der Philosophie der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit vor, die Bausteine für eine Geschichte der philosophischen Auseinandersetzung mit Passion – Affekt – Gefühl bietet. Aber diese Geschichte muss noch geschrieben werden.