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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

489-490

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Forst, Rainer

Titel/Untertitel:

Das Recht auf Rechtfertigung. Elemente einer konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit.

Verlag:

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2007. 413 S. kl.8° = Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1762. Kart. EUR 14,00. ISBN 978-3-518-29362-1.

Rezensent:

Michael Coors

Die Pluralisierung ethischer Wertvorstellungen ist ein Fakt der westlichen Zivilgesellschaften und stellt die Möglichkeit einer übergreifenden Konzeption von Moral grundsätzlich in Frage. Mit seiner konstruktivistischen Theorie der Gerechtigkeit hat F. bereits in Kontexte der Gerechtigkeit und Toleranz im Konflikt einen Weg beschritten, unter diesen Bedingungen dennoch eine übergreifende Moralkonzeption zu vertreten. Im nun vorgelegten Werk, einer Sammlung von Aufsätzen der letzten Jahre, wird diese Theorie einer konstruktivistischen Begründung der Moral noch einmal in der philosophischen Diskussion verankert und inhaltlich entfaltet. Das ist der Schwerpunkt des ersten Teils, in dem F. seine Theorie der Gerechtigkeit als diskurstheoretische Weiterentwicklung der Moralphilosophie Kants darstellt – im Dialog vor allem mit Habermas, Honneth und Rawls. Der argumentative Kern seiner Theorie ist eine pragmatische Rekonstruktion der Sollgeltung moralischer Normen: Weil moralische Normen einen allgemeinen und wechselseitigen Geltungsanspruch erheben, müssen sie auch nach diesen Kriterien der Allgemeinheit und Reziprozität gerechtfertigt werden (33.81). So hat jeder Mensch ein entsprechendes Grundrecht auf Rechtfertigung, nämlich »den unbedingten Anspruch, als jemand geachtet zu werden, dem oder der man Gründe für Handlungen, Regeln oder Strukturen schuldet, denen er oder sie unterworfen ist« (300). Niemand darf »Ansprüche erheben ..., die er anderen verweigert (Reziprozität der Inhalte)« und »niemand [dem] anderen die eigene Perspektive, eigene Wertsetzung, Überzeugungen, Interessen oder Bedürfnisse einfachhin unterstellen ... (Reziprozität der Gründe)« (82). Die gemäß diesen Kriterien gewonnenen Gründe müssen für alle Betroffenen teilbar sein (Allgemeinheit). Diese Regeln der praktischen Vernunft beschreiben nicht (metaphysisch) eine moralische Wirklichkeit, sondern in ihnen ist ein Verfahren rekonstruiert, in dem eine moralische Welt intersubjektiv im Diskurs konstruiert wird (83).
Situiert man diese Regeln im Kontext einer bestimmten politischen Gemeinschaft, so überführt man den moralischen in einen politischen Konstruktivismus (311). So sehr die These einer konstruktivistischen Moraltheorie zunächst dem Elfenbeinturm der Philosophie zu entspringen scheint, zeigt F. doch im zweiten und dritten Teil des Buches, in der Diskussion mit Positionen der gegenwärtigen politischen Philosophie, was seine Theorie der Gerechtigkeit im Blick auf Fragen der Toleranz, des demokratischen Rechtsstaates, der Menschenrechte, der sozialen und der transnationalen Gerechtigkeit materialiter austrägt. F.s konstruktivistischer Ansatz bietet weit mehr als ein bloßes Verfahren, denn er impliziert, dass eine (Welt-)Gesellschaft zunächst eine fundamentale Gerechtigkeit durch Institutionen schaffen muss, die »Rechtfertigungsmacht unter den Bürgern möglichst gleich verteilen« – national wie transnational (282.354). Diese fundamentale (im Wesentlichen soziale) Gerechtigkeit ist die Voraussetzung für die prozedurale Entwicklung einer vollständig gerechtfertigten Gesellschaft (maximale Gerechtigkeit, 283). Im Blick auf die Fragen transnationaler Gerechtigkeit wird dabei deutlich, dass die Frage der Macht die erste Frage der Moral ist (280), weil Ungerechtigkeit in erster Linie heißt, willkürlicher Machtausübung unterworfen zu sein und sein Recht auf Rechtfertigung nicht wahrnehmen zu können (355).
Zwar wird der kundige Leser in diesem neusten Buch nicht viel Neues entdecken, da es überwiegend aus bereits veröffentlichten Aufsätzen F.s zusammengestellt wurde, doch bietet die Zusam­menstellung nicht nur einen guten Einstieg in F.s Gerechtigkeitstheorie, sondern auch eine gute Einsicht in die weitreichenden materialen Konsequenzen seiner doch bloß prozedural-diskurstheoretischen Kernthese. Der Reiz seiner Theorie, gerade auch für die Theologie, liegt zweifelsohne darin, dass sie die Begründungsmacht für die Gerechtigkeit in die Hände der menschlichen Subjekte zurücklegt (179 f.), die sich – anders als z. B. bei Rawls – mit ihren ethischen Wertvorstellungen und deren Begründungen, die aus konkreten weltanschaulichen Überzeugungen erwachsen, am Moraldiskurs beteiligen. Was von ihren ethischen Überzeugungen moralisch gelten soll, das entscheidet sich dann an der Schwelle reziprok-allgemeiner Rechtfertigung im Diskurs (114.155).
Die Argumentation von F. ist bis ins Detail hinein stringent. Dass seine Texte dabei gut lesbar bleiben, ist nicht das geringste Verdienst. Versuche einer hermeneutischen Relativierung seiner Gerechtigkeitstheorie dürften an dem pragmatischen und intersubjektiven Vernunftbegriff, der auf jeglichen Letztbegründungsanspruch verzichtet, kaum verfangen. Anfragen kann man allerdings aus der Perspektive einer pragmatischen Sprachphilosophie (z. B. Wittgensteins), ob nicht der vorausgesetzte Begriff des Dis­kurses letztlich erstaunlich ortlos ist: Wo wird solche Art des mo­ralischen und politischen Diskurses als menschliche Rede eingeübt und praktiziert? Und was implizieren solche Lernsituationen sprachlichen Argumentierens für die Praxis sprachlicher Argumentation? So kommt auch F. nicht umhin, ein Ethos der Demokratie als Voraussetzung für die Etablierung solcher Dis­kursformen zu beschreiben (258). Wenn aber die moralische Rechtfertigung der Kern der politischen Rechtfertigung ist und keine Wirklichkeit jenseits derselben hat (313), so scheint damit auch der Moraldiskurs aus einem demokratischen Ethos zu erwachsen und sein Status als Metatheorie jenseits der Pluralisierung des Ethos in Frage zu stehen.