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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

487-488

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Fornet-Betancourt, Raúl [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Begegnung der Wissenskulturen im Nord-Süd Dialog. The Encounter of Knowledge Cultures in the North-South-Dialogue. Las Culturas del Saber y su Encuentro en el Diálogo Norte-Sur. Dokumentation des XII. Internationalen Seminars des Dialogprogramms Nord-Süd.

Verlag:

Frankfurt a. M.-London: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 2008. 271 S. 8° = Denktraditionen im Dialog: Studien zur Befreiung und Interkulturalität, 28. Kart. EUR 21,90. ISBN 978-3-88939-905-2.

Rezensent:

Claudia Jahnel

Die Veröffentlichung dokumentiert die Vorträge des XII. Internationalen Seminars des Dialogprogramms Nord-Süd, das alle zwei Jahre vom Missionswissenschaftlichen Institut Missio e. V. (MWI) veranstaltet wird. Das Dialogprogramm, das sich zunächst auf ­die Auseinandersetzung zwischen Diskursethik und lateinamerikanischer Befreiungsphilosophie konzentrierte, öffnete sich 1993 sowohl für einen internationaleren Teilnehmendenkreis als auch für eine interdisziplinärere Themenvielfalt und akzentuiert ak­tuelle Sachfragen wie Armut, Menschenrechte, Demokratie und Gerechtigkeit. Diese Wende und der Verzicht auf das ursprünglich im Titel des Dialogprogramms erscheinende Adjektiv »philosophisch« gibt sowohl der Einsicht in die Kontextgebundenheit der Philosophie als auch dem Willen Raum, Denkkulturen des Südens als gleichberechtigte Gesprächspartner zu verstehen.
Mit dem zu besprechenden Tagungsband beschreitet die Initiative diesen Weg weiter. Konsequent ist im Titel daher nicht von Philosophie, sondern von Wissenskulturen die Rede. Damit verbindet sich eine Abgrenzung gegenüber der Vorstellung, es gebe (philosophisches) »Wissen« als solches oder gar im Singular. In der Einleitung betont Raúl Fornet-Betancourt, Mitarbeiter am MWI, demgegenüber, es gebe »tatsächlich kein ›Wissen‹, sondern vielmehr ›Kulturen‹ oder Konstellationen von Wissen« (27 f.). Wissen wird immer generiert, hierarchisch geordnet und argumentativ begründet. Die Produktion von Wissen ist ein Herrschaftsakt: Wissen wird als Macht gebraucht (38).
Das gegenwärtig vorherrschende Wissen sei das »wissenschaftliche Wissen des Westens« (27). Mit dieser sämtliche Beiträge kennzeichnenden Grundannahme steht der Tagungsband in deutlicher Nähe zu Erkenntnissen der postcolonial studies sowie zur feminis­tischen Kritik am erkenntnistheoretischen Androzentrismus. Das technisch-wissenschaftlich-merkantile Wissen des Westens, das sich historisch in einer »Allianz mit dem industriellen Fortschritt und Handel als Programm massiver und systematischer kognitiver Desavouierung von Völkern und Kulturen« (34) ausgebreitet habe, kontrolliere, marginalisiere und gefährde die epistemologische Diversität. Diese Vergangenheits- und Gegenwartsanalyse verbindet Fornet-Betancourt u. a. mit dem Appell, durch eine interkulturelle Kritik an der vorherrschenden eindimensionalen Wissenskonstellation und der epistemologischen Gewalt die Vielfalt der Wissenskulturen zu verstärken, aktuelle Asymmetrien zu korrigieren und eine Begegnung der Wissenskulturen anzuregen. In den Worten Fornet-Betancourts: Notwendig sind eine »neue epistemologische Revolution« (39) und die »Dekolonialisierung des Prozesses des kognitiven Austausches« (40). Ziel ist dabei jedoch nicht der Dialog an sich, sondern eine Verständigung darüber, welches Wissen wir wissen sollten, um miteinander leben zu können, ohne in eine menschliche oder ökologische Katastrophe (41) hineinzugeraten.
Der Tagungsband weist in seinem Aufbau einen Weg zur Lö­sung epistemischer Asymmetrien, indem er in drei Abschnitten – »Afrikanische Perspektiven«, »Asiatische Perspektiven« und »Europäische Perspektiven« – internationale Beiträge wiedergibt, auf die hier nur in exemplarischer Auswahl eingegangen werden kann. Vorangestellt ist der Eröffnungsbeitrag »Wahrheitsbezogenes Wissen zwischen ›Dao-Learning‹ und ›logical inquiry‹. Wege des Denkens zwischen Ost und West« der Kölner Professorin für Philosophie, Claudia Bickmann. Bickmann zieht nach vergleichender Analyse das provozierende Fazit, dass sich in allen Kulturen die Idee des Guten finden lasse; in nicht-europäischen Philosophien sei sie jedoch heute deutlich stärker präsent.
Provokant ist auch der Beitrag von Peter Kanyandago »African Endogenous Knowledge Systems«. Der Philosophieprofessor aus Uganda hebt in der Tradition der Denker der afrikanischen Re­naissance nicht nur hervor, dass Afrika als Wiege der Menschheit auch der Ursprung aller Wissenskulturen sei. Provozierend für manche Vertreter der Multikulturalismus-Rhetorik, aber im Trend neuerer transkultureller Analysen ist seine Theorie, dass endogene Wissenssysteme nicht hermetisch abgeschlossen seien, sondern es immer Austauschprozesse zwischen den verschiedenen Systemen gegeben habe und gebe.

Mit der »Asiatischen Perspektive« beschäftigt sich u. a. Nalini Rajan, Professorin am Asian College of Journalism in Chennai. In ihrem Beitrag »Dalit rationality and the problem of ›radical alterity‹« kritisiert sie die Übertragung des Konzepts des »radikal Anderen« durch postmoderne Theoretiker auf Wissenskulturen der Dalits. Letztere würden dadurch noch stärker marginalisiert, und eine Anerkennung epistemologischer Vielfalt werde verhindert. Der Beitrag der Spanier, Jesus Vicens und Àngels Canadell, »The Wisdom of the Earth«, aus dem Abschnitt »Europäische Perspektiven« betont die Notwendigkeit, integral-kosmologische Weisheitstraditionen gegen die Do­minanz einseitig rationaler, abstrakter und hoch spezialisierter Wissenskulturen stark zu machen. Die Vernunft müsse wieder an die Lebenswelt und an eine ganzheitliche Vision der Welt zurück­gegeben werden.

Die Beiträge im letzten Abschnitt der Veröffentlichung, »Wissenskulturen im Dialog«, gehen noch einmal auf leitende Problemkonstellationen und Grundfragen der Veröffentlichung als Ganzer ein. Sie fragen nach den Bedingungen – etwa die Achtung der Menschenrechte – für einen interkulturellen Dialog, der epistemische Asymmetrien korrigieren und die Entwicklung endogener Wissenskulturen fördern will.
Das Buch überzeugt durch die Pluralität der Perspektiven. Trotz des gemeinsamen Anliegens zeichnen die einzelnen Beiträge kein homogenisiertes Bild oder eine Art neuen interkulturellen Masterplan. Dazu trägt auch die Vielfalt der Sprachen bei, in denen die Beiträge gehalten und abgedruckt sind: Deutsch, Französisch, Spanisch, Englisch und Portugiesisch. Das macht das Lesen nicht ein­fach, angesichts der unterschiedlich verteilten Zugangsmöglichkeiten zu diesen Sprachen erscheint dies aber als durchaus gerechtfertigt. Wünschenswert wäre lediglich ein Verzeichnis der Autorinnen und Autoren, um leichter nachvollziehen zu können, in welchem lebensweltlichen und vielleicht auch wissenskulturellen Kontext sie stehen.