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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

482-484

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Bulgakov, Sergius

Titel/Untertitel:

The Lamb of God. Transl. by B. Jakim.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2008. XVI, 456 S. gr.8°. Kart. US$ 34,00. ISBN 978-0-8028-2779-1.

Rezensent:

Barbara Hallensleben

Sergij Nikolajevitch Bulgakov (1871–1944) soll sein Werk einmal als Flaschenpost bezeichnet haben, auf den Weg gebracht in widriger Zeit in der Hoffnung, sie möge zur rechten Zeit und am rechten Ort gefunden werden. Die Entdeckung der ökonomisch-philosophischen, religionsphilosophischen und theologischen Schriften B.s schreitet voran: In französischer Übersetzung sind fast alle Hauptwerke vorhanden; 2006 legte Antoine Arjakovsky mit seinem »Essai sur le Père Serge Boulgakov. Philosophe et théologien chrétien« eine anregende Einführung in Person und Werk vor. Italienische Übersetzungen und wissenschaftliche Untersuchungen sind recht zahlreich, u. a. durch die Studien von Piero Coda und zahlreiche Dissertationen an römischen Universitäten. In Russland wurde erst vor Kurzem das theologische Hauptwerk B.s publiziert, das nach dessen Ausweisung 1922 durch Stalin im Westen entstanden ist. Eine deutsche Gesamtausgabe in 20 Bänden ist am Institut für Ökumenische Studien der Universität Fribourg in Vorbereitung. Im englischen Sprachraum erlangen neben B., dem ökonomisch-philosophischen Denker und »politischen Theologen« (z. B. bei Rowan Williams, gegenwärtig Erzbischof von Canterbury), die theologischen Werke B.s zunehmend Aufmerksamkeit. Mit der hier vorgelegten Übersetzung findet die englischsprachige Edition der dreibändigen dogmatischen Trilogie B.s ihren Abschluss. Sie umfasst eine Christologie (Das Lamm Gottes, russisch: Paris 1933), eine Pneumatologie (Der Tröster; russisch: Paris 1936; Eerdmans 2004: The Comforter) und einen Abschlussband, der von der Schöpfung über die Anthropologie und Ekklesiologie im Zeichen der Eschatologie eine kühne Synthese wagt (Die Braut des Lammes, russisch postum 1945; Eerdmans 2002: The Bride of the Lamb). Alle drei Bände stehen unter dem gemeinsamen Titel des »Gottmenschentums« (bogochelovechestvo) und entfalten systematisch die Sophiologie, für die B. bis heute in der orthodoxen Theologie umstritten ist.
Dennoch genießt B. in der Theologiegeschichte des 20. Jh.s und in den aktuellen theologischen Debatten noch nicht die Anerkennung, die ihm gebührt. Seine 1996 an der Universität Novosibirsk zusammengestellte Bibliographie umfasst über 600 Titel von zum Teil erheblichem Umfang. Henri de Lubac, 1985 befragt nach den Chancen einer »Renaissance« der katholischen (!) Theologie, verweist ausschließlich auf die »zweifelsohne sehr tiefe Synthese von Serge Bulgakov« (Zwanzig Jahre danach. München u. a. 1985, 90).
Die Originalität des Theologen B. erschließt sich nicht zuletzt auf dem Hintergrund des Ökonomen und Philosophen B., der als Weggefährte Lenins begann, in der Begegnung mit der deutschen Sozialdemokratie jedoch an der Unfähigkeit der marxistischen Doktrin zur Wandlung des menschlichen Herzens verzweifelte. Durch tiefe Krisen hindurch fand er einen neuen Zugang zum Glauben, empfing im Revolutionsjahr 1917/18 die Priesterweihe und wurde autodidaktisch zum Theologen, der nach seiner Ausweisung aus Russland als Dekan des orthodoxen theologischen Instituts St. Serge seine theologischen Hauptwerke verfasste und während dieser Zeit ein großes ökumenisches Engagement entfaltete.
Auch seine Christologie ist in diesen genetischen und systematischen Zusammenhang zu stellen: Bei aller Abkehr vom Marxis­mus bleibt B. der Grundinspiration seiner »Philosophie der Wirtschaft« (Habilitationsschrift 1912) treu und entwickelt in seiner Weisheitstheologie in Anknüpfung an Böhme und Schelling eine Philosophie und Theologie der Natur, die den Herausforderungen der modernen Wirtschaftswelt genügen will. Er spart dabei nicht mit Kritik an einer individualistischen Erlösungslehre: »In Christianity is born the new sense of life that one should not flee the world but that Christ is coming into the world for the marriage feast of the Lamb, the feast of Divine-Humanity – as the King and there­fore as the Judge« (XV). Genau im Gegensatz zu der Anklage, die Sophiologie versuche, in das verborgene Wesen Gottes einzudringen, kann dieser theologische Ansatz gedeutet werden als Einbezug der ge­schöpflichen Natur in die apophatische Tradition der Orthodoxie.
Ein umfangreiches Einleitungskapitel (1–89) zeigt anhand der patristischen Debatten, wie die Frage der gottmenschlichen Einheit in Jesus Christus hinsichtlich ihrer theologischen Begründbarkeit entdeckt wird: »How is the Divine Incarnation possible?« (443). Dem »Häretiker« Apollinaris von Laodizäa wird bescheinigt, als Erster in der Dogmengeschichte das Problem der Gottmenschheit richtiggestellt, wenn auch nicht begrifflich angemessen gelöst zu haben.
Die zwei ersten Kapitel weiten den Blick vom Gottmenschen Jesus Christus auf die gottmenschliche Einheit zwischen Schöpfer und Schöpfung und entfalten das Bezugssystem zwischen der »ungeschaffenen Weisheit« der Natur Gottes (Kapitel 1: 89–117) und der »geschaffenen Weisheit« der geschöpflichen Natur (Kapitel 2: 119–156). Die Einheit des Begriffs (Sophia) bei klarer Differenzierung der Prädikate (geschaffen – ungeschaffen) spiegelt auf sprachlicher Ebene die doppelte Abgrenzung gegen Pantheismus und Dualismus im Zeichen eines »Pan-en-theismus« (vgl. 121). Vor diesem Horizont versucht B., das in Negationen formulierte chalce­ donensische Dogma über die Einheit der göttlichen und der menschlichen Natur Christi in der Person des göttlichen Logos (unvermischt, unveränderlich, ungetrennt, unteilbar) in seinem po­sitiven Gehalt zu erschließen: »We know what the Chalcedonian ›no‹ is, but what is its ›yes‹?« (444). Die Theologie der Natur geht in diesen Kapiteln einher mit einer Theologie des Geistes, der auch in Gott als naturbezogen gedacht wird. »Natur« ist nicht »Materialität« – in Gott kann sie bestimmt werden als das göttliche Leben, seine Welt, seine Selbstoffenbarung für Gott selbst: »His nature exists not only for this consciousness of self but also by itself, as ens realissimum, as ousia« (101).
Kapitel 3 über »Die Inkarnation« (157–211) durchdenkt die gottmenschliche Einheit vom Schlüsselgedanken der Kenosis her: Die negative Formulierung der creatio ex nihilo findet ihre positive Entsprechung in der Aussage: Gott erschuf die Welt nicht aus etwas, sondern aus sich selbst, aus seiner Natur, in der Differenz der Freiheit. Bereits die Schöpfung ist göttliche Exstase der Liebe, Kenosis der Gottheit im »Lamm, das geschlachtet ist seit Grundlegung der Welt«, wie B. Apk 13,8 zu übersetzen wagt. Auf diese Weise kann die Grundaussage theologischer Anthropologie von der Gott­ebenbildlichkeit des Menschen auch in die Gegenrichtung gelesen werden: »The hypostasis of the Logos is human from all eternity and could therefore become the hypostasis for creaturely humanity as well, elevating but not abolishing it« (188).
Auf dieser Grundlage kehrt B. in den letzten Kapiteln – »Emmanuel, the God-Man« (213–320) und »The Work of Christ« (321–441) zu einer Christologie zurück, deren universale Bedeutung für die ganze Schöpfung stets mitklingt. Die christologischen Schlüsselfragen der Kenosis (4.1), der Idiomenkommunikation (4.2) und des gottmenschlichen Selbstbewusstseins (4.3) unterziehen die Sophiologie einer Bewährungsprobe. Das »Werk Christi« wird in der klassischen Dreiheit des prophetischen, hohepriesterlichen und königlichen Amtes Christi präsentiert. Dieser traditionelle Abschnitt der Chris­tologie erhält neue Brisanz als Vorzeichnung des Handelns in Chris­tus für die gesamte Menschheit: »Christ is by no means ›an­other‹ individual for every human being, for the New Adam includes in Himself every human individual« (362). Eine eschatologische Theologie der Geschichte ist die Folge: »the Second Coming [of Christ] is not only a Divine work but also a human one, which is to be accomplished on the pathways of history« (437). B.s Theologie mündet an ihrem Höhepunkt in das Grundgebet der christlichen Gemeinschaft: »Dein Reich komme!« und »Amen, komm, Herr Jesus!« (441).