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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

480-482

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Milbank, Alison

Titel/Untertitel:

Chesterton and Tolkien as Theologians. The Fantasy of the Real.

Verlag:

London-New York: T & T Clark 2007. XVI, 184 S. 8°. Geb. £ 65,00. ISBN 978-0-567-04094-7.

Rezensent:

Markus Mühling

Die Vfn. hat es sich weniger zur Aufgabe gemacht, theologische Themen im Werk von Tolkien und Chesterton zu identifizieren und zu analysieren, sondern sie versteht den Titel des Buches sehr streng: Chesterton und Tolkien werden in ihrer Art zu schreiben und in ihrem Selbstverständnis als Schriftsteller als Theologen gekennzeichnet, indem beide in unterschiedlicher Weise eine römisch-katholische und philosophisch als streng realistisch zu bezeichnende (12) Position vertreten. Kunst und Literatur hat nach beiden die Aufgabe, die Welt als Schöpfung zu offenbaren, indem der Künstler die Berufung hat, sie kreativ nachzuschaffen (XIV f.).
Chesterton geht dabei von einer »natürlichen Religion« aus, die Gott als Handelnden in aller menschlichen Phänomenalität am Werk sieht. Indem ein Schriftsteller eine Geschichte erzählt, be­kennt er die Erfahrung des Sinnes des Lebens und der innewohnenden Entelechie der Welt. Auf diese Weise kommt der zum Katholizismus konvertierte Chesterton der mittelalterlichen thomistischen Position sehr nahe, wenn es auch Hinweise gibt, dass er eine solche zunächst ohne direkte Bekanntschaft der Werke Thomas’ entwickelt haben dürfte (15), bevor er durch Maritain und Etienne Gilson tiefer in die Materie eingedrungen sein dürfte. Tolkien selbst ist direkter von Thomas beeinflusst, dessen summa theolo­giae er besaß und verschiedentlich heranzog. Beide bezeugen die Grundauffassung der göttlichen Schöpfung, der bedingten Freiheit der Schöpfung und ihrer Diversität, wie das nicht natürliche, sondern übernatürliche Ziel der Schöpfung durch den Fall hindurch durch Gnade als Partizipation am göttlichen Leben selbst, indem sie in ihrem eigenen künstlerischen Schaffen eine selbst-konsistente, unabhängige fiktionale Welt hervorbringen. Beiden gemeinsam ist dabei ein Vermittlungsinteresse zwischen dem Realen und Natürlichen einerseits und dem Übernatürlichen und Gnadenhafen andererseits, das sich in den stilistischen Mitteln ihrer Schriftstellerei zeigt. Die Vfn. gliedert ihr Buch dann im Folgenden in die thomistisch-aristotelische, begriffliche Grunddis­tinktion von poiesis (Teil 1) und praxis (Teil 2), die den beiden Autoren durch Maritain u. a. geläufig war und die sich u. a. innerhalb Tolkiens Welt an der Unterscheidung zwischen Elfen (poiesis) und Menschen (praxis) auch direkt im Inhalt spiegelt. Praxis meint dabei selbstzweckhaftes Handeln durch die Nutzung des freien menschlichen Willens nach der Tugend der Klugheit, unabhängig vom Gegenstand, auf den sie sich richtet. Poiesis hingegen ist produktives, zweckgebundenes Handeln, das in Relation auf seinen hervorzubringenden und vollendeten Gegenstand gemessen wird und sich nach der Tugend der Kunst vollzieht. Im ersten Teil (poiesis) werden das Phantastische (29–55), die Groteske (56–86) sowie Paradoxe und Rätsel (87–115) als Produkte im Werk Tolkiens und Chestertons besprochen, die die entsprechenden Funktionen der Entfremdung vom Bekannten, der Festigung der Erfahrung in der Entfremdung und der Wiederherstellung oder Vermittlung zum Realen durch die Wirkung der Entzückung im Leser hervorrufen. Im zweiten Teil (praxis) wendet die Vfn. ihre Aufmerksamkeit zu­erst der ökonomischen Rationalität der Märchenwelt zu, die im Geschenkeaustauch besteht (117–141). Dazu werden zunächst verschiedene Geschenktheorien dargestellt und anschließend am literarischen Material exemplifiziert.
Interessant ist, dass Chesterton bekanntlich explizit und Tolkien implizit hinsichtlich ihrer Vorstellung von der Güte eines ökonomischen Systems jenseits von Kapitalismus und Sozialismus für den in der Enzyklika Rerum Novarum von Papst Leo XIII. (1891) angestoßenen Distributismus, nach dem Produktionsmittelbesitzer weder der Staat noch eine kleine Anzahl weniger sein dürfen, sondern die Produktionsmittel möglichst breit verteilt sein sollten, optieren. Im zweiten Kapitel dieses zweiten Teils (Fairy poietics: Making-Believe, 142–159) be­schäftigt sich die Vfn. mit dem Konzept Phantasie in Beziehung von Kindheit zum Erwachsensein im Werk der beiden Autoren. Im Unterschied zu Kindheitskonzepten der Romantik ist die Beziehung zwischen Kind und Erwachsenen hier eher eine reziproke Relation, die eine wichtige Funktion für die Imagination beider, des Erwachsenen in den Produkten künstlerischer Tätigkeiten und des Kindes am Beispiel des Kinderreimes, erfüllt. Kind und Erwachsener werden dabei qualitativ nicht unterschieden. Dies wird bei Chesterton an dessen Figur des Weihnachtsmannes und bei Tolkien an der Gestalt Tom Bombadils veranschaulicht. Die imaginative Zusammenarbeit von Kind und Erwachsenem wird so als notwendige Bedingung der Wohlordnung der Gesellschaft verstanden (158).
Die Vfn. schließt ihr Buch (162–169) mit einer kurzen Interpretation eines Gedichts von David Jones, das auf das Buchthema als Ganzes bezogen wird. Chesterton und Tolkien zeigen, dass poiesis sowohl den Weg zu Gott als auch zu einer Beschäftigung mit der Welt bedeutet, indem das literarische Schreiben sowohl selbst Vermittlung ist als auch Vermittlung offenbart und so eine christologische Dimension bekommt. Ihre Theologie ist damit praktische Theologie, die niemals von der konkreten Entzückung der künstlerischen Tätigkeit abstrahieren kann. Während Chesterton den Leser immer wieder aus der Verzauberung des Anderen in die Alltagswelt zu­rück­führt, damit diese mit neuen Augen gesehen werden kann, womit der Versöhnungsprozess mit der Natur ihren Anfang nehmen kann, geht Tolkien anders vor, indem er den Leser tiefer ins Transzendente einführt und so den Unterschied zur gegenwärtigen Erfahrung einer entzauberten Welt betont, die einer Wieder-Verzauberung bedarf, um Ausbeutung und Raub zu entgehen.
Das Buch stellt Tolkien und Chesterton zu Recht nicht als Ro­mantiker, sondern als »Phantasten des Realen« vor, wie man im Anschluss an den Untertitel sagen könnte. Es zeigt den thomis­tisch-aristotelischen Hintergrund der beiden Autoren genauso auf, wie es von der Position der Vfn. getragen ist. Da die einzelnen Kapitel ursprünglich selbständige Vorträge waren, darf man allerdings keine theologische oder literarische Einführung in das Werk Ches­tertons oder Tolkiens erwarten, sondern es setzt beim Leser eine Vertrautheit mit deren Werken, deren Umfeld sowie mit neothomistischem Gedankengut bereits voraus. Dies kann je nach Interesse des Lesers als Vorteil oder Nachteil verstanden werden. Alles in allem bleibt es ein wertvolles Buch zum Verständnis der beiden Autoren, wenn auch am Rande bedauert werden kann, dass deren Verhältnis zu dem weiteren Kreis der »Inklings« nur sporadisch thematisiert wird.