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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

474-476

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Frühwald, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Das Gedächtnis der Frömmigkeit. Religion, Kirche und Literatur in Deutschland. Vom Barock bis zur Gegenwart.

Verlag:

Frankfurt a. M.-Leipzig: Verlag der Weltreligionen im Insel Verlag 2008, 378 S. kl.8°. Geb. EUR 22,80. ISBN 978-3-458-71009-7.

Rezensent:

Andreas Kubik

Die Gründung des »Verlag der Weltreligionen« gehört ohne Zweifel zu den aufregendsten Entwicklungen auf dem deutschen Buchmarkt seit Langem. Davon zeugen bereits jetzt die Herausgabe zahlreicher heiliger Schriften und die exzellent kommentierten Editionen theologischer Klassiker verschiedenster Religionen – darunter bislang auch Augustins Confessiones und Schleiermachers Reden.
Dazu tritt eine Reihe von Essays, die zur Diskussion um die Ge­genwartsbedeutung von Religion beitragen, sowie Werke, die eher kulturhermeneutisch nach Religion in Geschichte und Gegenwart fragen. Zu diesen gehört auch der zu besprechende Band des Augsburger Germanisten und Wissenschaftsorganisators Wolfgang Früh­wald. Er vereinigt eine Reihe von bereits erschienenen Studien F.s sowie einige neue Stücke. Scheinbar also ein klassischer Sammelband, ist das Buch aber doch eine ganz eigene Komposition ge­worden: keine Geschichte des Verhältnisses von Literatur und Religion, sondern eher Variationen über verschiedenste Spielformen dieses Verhältnisses.
Daher sieht man sich zum Glück auch getäuscht, wollte man bei dem Titel an ein sanftes Dahingleiten auf den wohlausgebauten Wasserstraßen sattsam bekannter Säkularisierungsthesen denken. Nach der »Einführung« (11–32), welche die Themen des Buches kurz anklingen lässt, beginnt das Werk mit einem förmlichen Paukenschlag. Das erste Kapitel behandelt Friedrich Spee von Langenfeld, aber nicht den begnadeten Lyriker und Andachtsschriftsteller, sondern ausschließlich den Streiter wider die Hexenverfolgung und den Seelsorger verurteilter Frauen. Mit deutlichen Worten bezeichnet F. die Hexenprozesse als das, was sie waren: »ein Verbrechen gegen Rang und Stand und Würde des Menschen« (34) und – die gender-Perspektive ist eben keine Knechtung unter der Fuchtel der polit­ical correctness – »eine Form von Geschlechtsverfolgung« (35). Gegenüber dem »grauenhaften Exzeß männlicher Autoritätssicherung« (38) in der »Naturierung und Biologisierung des Weiblichen« (42), wie sie im berüchtigten ›Hexenhammer‹ methodisiert und von den Henkern und Folterern exekutiert wurde, ist es Spee gelungen, »die Opfer aus ihrer Anonymität zu reißen« (45) und seiner Zeit »Einzelschicksale« (45) vor Augen zu stellen. Aber angesichts der Massivität der Verbrechen ist Spees Aufklärungsbuch, die Cautio criminalis, allenfalls ein kleines Licht in der tiefsten Finsternis, die »in der Geschichte den Grundton untilgbarer Trauer hin­terläßt« (48).
Zwei Anliegen können diesem ersten Kapitel entnommen werden: Erstens, in einer Zeit grassierender Islamophobie und der Versuchung, die Verknüpfung von Religion und Gewalt lediglich den ›Anderen‹ zuzuschustern, tut die Erinnerung an die Schreckensaspekte der eigenen religiösen Geschichte dringend Not. F. sagt das nicht, aber anders wird man Stellung und Gestaltung des Spee-Kapitels nicht erklären können. Und zweitens, F. bejaht und zeigt die moralische Dimension der Literatur und kann deutlich ma-chen, dass diese sich eben viel häufiger in ihr erzeigt, als die Verfechter des l’art pour l’art wahrhaben wollen. Beide Anliegen ziehen sich durch, wobei im Hinblick auf das erste zunehmend die Erinnerung an die nationalsozialistische Terrorherrschaft und die Shoa in den Vordergrund tritt.
In den direkt folgenden Kapiteln bleiben diese Anliegen allerdings eher unterschwellig präsent. F. präsentiert zunächst den ganzen Reichtum, den das Erbe der Frömmigkeit in der klassischen deutschen Literatur zu bieten hat. In ungemein kenntnisreichen und detaillierten Porträts kann er zeigen, wie Sophie von LaRoche, Claudius, Goethe – das Kapitel über »Ästhetische Frömmigkeit: Kunst der Romantik« (115–141) sticht formal etwas heraus und hat eher methodischen Charakter –, Brentano, Eichendorff und Stifter je auf ihre Weise eine Spielart literarisch geformter Frömmigkeit darstellen. Matthias Claudius hat es ihm dabei besonders angetan. Gegen eine Interpretationstradition, die bei Claudius vor allem »Einfaltsprätensionen« (70) – so Goethe – ausfindig machen will, arbeitet F. klar heraus, wie tief verwurzelt er einerseits in der Bildung seiner Zeit war, wie andererseits die gebrechliche Einrichtung der Welt samt ihrem Niederschlag in der Erfahrungswelt der Menschen sein Thema geblieben ist, trotz aller Fortschrittsphan­tasien, die in seiner Zeit die Gemüter erregten. Es »bleibt noch so viel an anthropologisch grundlegender Alltagserfahrung in diesem Werk bestehen, daß Claudius ... auch zu uns zu sprechen scheint. Wir haben ... keinen zweiten Autor dieser Art in der deutschen Sprache.« (90)
Insgesamt gibt diese erste Hälfte des Buches viel darüber zu denken, was es kulturell bedeutet, wenn der literarische Kanon deutlich religiös grundiert ist. An die kulturhermeneutische Aufgabe, diese Grundierung zu erschließen, ist ebenso gerührt wie an die geheime kulturelle Prägekraft, die sie etwa über den Schulunterricht entfaltet. Sie hinterlässt jedenfalls eine unverlierbare Spur im kulturellen Gedächtnis.
Die zweite Hälfte des Buches überrascht zunächst durch die Auswahl: Es sind vorwiegend die sich selbst Christen nennenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die im literarischen Diskurs der Republik oft vergessen oder vernachlässigt werden. So setzt das Kapitel über Alfred Döblin, mit dem die zweite Buchhälfte beginnt, mit seiner Konversion zum Christentum ein und macht sich für das verfemte Spätwerk stark. Einem ähnlichen Anliegen gelten die folgenden Abschnitte über Elisabeth Langgässer, Cordelia Edvardsson, Reinhold Schneider, Albrecht Goes, Horst Bienek, Peter Huchel und Tankred Dorst. Hier geht F. einer christlichen Spur in der neueren deutschen Literaturgeschichte nach, die er eng zusammenschließt mit dem Geist des christlichen Widerstands gegen den Nationalsozialismus, etwa der Geschwister Scholl oder des Krei­sauer Kreises. Diese Kapitel sind schon deshalb nicht als Apologetik misszuverstehen, weil F. es nie vergisst, dass sich die Shoa in einem Volk von Getauften ereignet hat. Umso wichtiger die Erinnerung an die, welche nicht geschwiegen haben. Gleichsam als deren Ahnherr wird Bartolomé de las Casas’ Anklage gegen die christlichen Kolonialisten präsentiert (284–286).
Je weiter F. voranschreitet, desto deutlicher wird, dass sein eigentliches Interesse dem Europa-Gedanken gehört. Europa – so könnte man F. paraphrasieren – wird in dem Maße gelingen, wie die Erinnerung an den Nazi-Terror und die »europäische Widerstandsbewegung« (247) wachgehalten und in ein politisches Anliegen umgemünzt wird, das über den »Streit um Fischfangquoten, einheitliche Gurkenkrümmungen und Normgrößen für Traktorensitze« (247) hinausreicht. Zu dieser Erinnerungsarbeit aber trägt nun gerade die Literatur Entscheidendes bei. Sie und sie allein versteht es, das Erschrecken über die diabolischen Möglichkeiten des Menschen »ohne Todesgefahr, aber doch eingreifend zu vermitteln, zu bewahren, zu erneuern« (263), ein Er­schrecken, das »zur Humanität, zum Menschsein gehört« (263). Sie vermag aber eben auch den Spuren des Widerstands in einer Welt vollkommenen Unheils nachzugehen. Mit beidem leistet sie einen unersetzlichen Beitrag zur Aufrechterhaltung der moralischen Kultur.
Es ist insofern sehr konsequent, dass F. dieses Bildungsanliegen persönlich gegenzeichnet: Ebendas, was er der Literatur hier zu­traut, hat er selbst von ihr erhalten: »Das danke ich Albrecht Goes bis zum heutigen Tag« (263). So ist das Buch literaturhistorische und mentalitätsgeschichtliche Detailstudie, politische Werbeschrift und persönliches Zeugnis von der existenziellen Dimension von Literatur zugleich geworden. Viel entgeht dem, wer ob solcher Mischung das Buch gar nicht erst aufschlägt.