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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

467-469

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Feil, Ernst

Titel/Untertitel:

Religio. Bd. IV: Die Geschichte eines neuzeitlichen Grundbegriffs im 18. und frühen 19. Jahrhundert.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 1006 S. gr.8° = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 91. Lw. EUR 152,00. ISBN 978-3-525-55199-8.

Rezensent:

Albrecht Beutel

Ein Lebenswerk ist vollendet! Vor 35 Jahren erörterte Ernst Feil, inzwischen emeritierter Professor für Systematische Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität München, die »Problematik der gegenwärtigen Renaissance des Religionsbegriffs« (StZ 99 [1974], 672–688). Seitdem hielt ihn die Frage nach der Begriffs- und Problemgeschichte des Wortes »religio« in ihrem Bann. Ausgehend von der erkenntnisleitenden Hypothese, dass sich etwa zur Mitte des 18. Jh.s der tiefgreifende semantische Um­bruch vollzogen habe, mit dem Wort »Religion« nicht länger das einem Gott geschuldete äußere Verhalten (modus colendi Deum), sondern eine innere, sich im »Gefühl« verifizierende und in ethischen Konsequenzen manifestierende Erfahrung zu denotieren, legte er zunächst die Vorgeschichte dieses neuzeitlichen Grundbegriffs »vom Frühchristentum bis zur Reformation« (Bd. I, 1986), »zwischen Reformation und Rationalismus« (Bd. II, 1997) sowie »im 17. und frühen 18. Jahrhundert« (Bd. III, 2001) frei, um endlich, mit dem opulenten letzten Band seiner Tetralogie »Religio«, den entscheidenden neuzeitlichen Begriffsumbildungsprozess weit ausgreifend und facettenreich zu beschreiben.
Die Ausdauer und Präzision, in der F. die Opera von 60 theologischen, philosophischen und literarischen Autoren des 18. sowie des frühen 19. Jh.s auf den jeweiligen Gebrauch des Wortes »religio« bzw. »Religion« durchmustert hat, verdient größten Respekt. An­gesichts der erbrachten Gesamtleistung wäre es müßig und ungerecht obendrein, etwa an der – insgesamt durchaus trefflichen – Auswahl der Autoren oder an deren Rubrizierung in zehn Gruppen kleinkrämerisch herummäkeln zu wollen. Der reiche Ertrag dieser Feldstudie kann jetzt nur in punktueller Auswahl andeutend skizziert werden.
In der »Evangelische[n] Schultheologie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts« (Kapitel 1: J. F. Buddeus, L. v. Mosheim, S. J. Baumgarten u. a.) wurde der Religionsbegriff endgültig in die theologische Reflexion eingeholt, freilich noch weithin in der alten Bedeutung als »vera Deum colendi ratio«. Die zeitgleiche »Schulphilosophie im Übergang« (Kapitel 2: Ch. Wolff, A. G. Baumgarten, G. F. Meier) teilte im Wesentlichen den theologischen Wortgebrauch, begann den Blick nun aber auch – namentlich bei A. G. Baumgarten – auf die »religio interna« auszuweiten. Diese ersten Anzeichen einer semantischen Gewichtsverlagerung verstärkten sich in den »Heterodoxe[n] Radikalisierungen« (Kapitel 3: J. C. Dippel, J. Ch. Edelmann u. a.) nachhaltig: Aus der konsequenten Akzentuierung der »innerlichen Religion« ergab sich für Edelmann die Einsicht in die Gleich-Gültigkeit aller Religionen. Auch N. L. v. Zinzendorf, den F. mit J. C. Lavater (und um jetzt doch ein einziges Mal zu fragen: Weshalb eigentlich nur mit ihm?) als »Frühe Außenseiter« (Kapitel 4) anspricht, hob im Lauf seines Lebens immer deutlicher auf die »Herzens-Religion« ab.
Hinsichtlich der »Entwicklungen in England« (Kapitel 5: M. Tindal, Shaftes­bury, J. Butler, D. Hume u. a.) konstatiert F. ein zu­nehmendes Interesse an der ethischen Relevanz einer »Natural Religion«, während dort, von dem auf Deutschland nachhaltig einwirkenden Shaftesbury abgesehen, die »internal religion« kaum reflexive Aufmerksamkeit gefunden habe. Die »Entwicklungen in Frankreich« (Kapitel 6: Voltaire, J.-J. Rousseau, D. Diderot u. a.) sieht F. in dem von Louis de Jaucourt 1765 publizierten Artikel »Religion« der »Encyclopédie« Diderots mustergültig zusammengefasst: Insgesamt bleibt hier die »religion naturelle«, der eine politische Relevanz tendenziell zuerkannt wird, ebenfalls dem »manifesten Be­reich« (366) zugeordnet, wiewohl Jaucourt auch den in der Seele beheimateten »culte intérieur« durchaus kennt und bedenkt.
Das siebente Kapitel eruiert die »Weiterführungen in der Neologie« (J. F. W. Jerusalem, J. J. Spalding, J. S. Semler u. a.). Unbeschadet aller in dieser Theologengruppe ausgebildeten Binnendifferenzierung er­kennt F. hier »als allgemeinen Trend eine verstärkte Wendung zum ›Innerlichen‹« (491). Insofern erscheint es dann nicht ganz sach­gemäß, die Favorisierung der »religio interna« als eine Semlersche Besonderheit auszugeben, wie auch die Zurückhaltung hinsichtlich katholisch-protestantischer Reunionsbemühungen (448 ff.) keinesfalls ein Al­lein­stellungsmerkmal des Hallensers, vielmehr die übereinstimmende Haltung aller bedeutenden Neologen dargestellt hat. Und was die Religionstheologie Spaldings angeht, so ist hier wohl doch nicht nur eine »emotionale Version« (881) des Themas zu finden – der Ge­fühlsbegriff Spaldings entspricht dem englischen »sentiment«, nicht »emotion« –, vielmehr der von F. nicht zureichend freigelegte tatsächliche Durchbruch zu einer Bestimmung der Religion als Gefühl.
Die nicht der Neologie zugehörenden Aufklärungstheoretiker un­ter der Überschrift »Kontroverse Positionen zur Deutschen Aufklärung« (Kapitel 8) zusammenzufassen, erscheint insofern nicht glücklich, als sich diese (G. E. Lessing, M. Mendelssohn, G. Ch. Lichtenberg u. a.) gegenüber dem Geist der Epoche gerade nicht kontrovers, sondern affirmativ positionierten. Auch hier lässt sich, analog zur Neologie, eine mitunter, etwa bei Lessing, überraschende Akzentuierung des religiösen Gefühls sowie ein doch nur geringes Interesse an der »natürlichen Religion« konstatieren. Dem entsprechen die von F. aufgewiesenen »Aspekte in der Literatur« (Kapitel 9: J. W. v. Goethe, F. Schiller, F. Hölderlin u. a.). Das die »Philosophie und Theologie im Zeitalter des deutschen Idealismus« (Kapitel 10: I. Kant, J. G. Fichte, F. D. E. Schleiermacher u. a.) hinsichtlich des Religionsbegriffs Verbindende erkennt F. in der gemeinsamen Rezeption der von Kant transzendentalphilosophisch begründeten »innere[n] Religion« (877); allerdings wird man bei Schleiermacher neben Kant doch unzweifelhaft auch Zinzendorf und die Neologie als Wurzelgrund seines Gefühlsbegriffs zu berücksichtigen haben.
Am Ende sieht F. seine erkenntnisleitende Hypothese, wonach sich der antike, mittelalterliche und vorneuzeitliche Religionsbegriff seit der Mitte des 18. Jh.s grundlegend gewandelt habe, eindrucksvoll und quellengesättigt verifiziert. Vielleicht hat ihn die – prinzipiell sachgemäße – Orientierung an den großen Einzelgestalten daran gehindert, das religionstheoretische Innovationspotential der in der Aufklärungstheologie emphatisch rekonstruierten »religio Christi« in zureichender Schärfe herauszuarbeiten. Zusätzlichen Aufschluss über den neuzeitlichen Wandel des Religionsbegriffs hätte möglicherweise auch die Einbeziehung des allgemeinen und politischen Sprachgebrauchs (z. B. im Woellnerschen Religionsedikt) gewährleis­ten können.
Dass eine derart breit angelegte, in langen Jahren erarbeitete und durch ein 92 Druckseiten füllendes Namen- und Sachregister mu­s­tergültig erschlossene Untersuchung die neuesten Werkausgaben nicht überall und die einschlägige Sekundärliteratur insgesamt eher spärlich berücksichtigen konnte, ist derart selbstverständlich, dass es des übertreibenden Pauschalurteils, die eingesehenen Forschungsbeiträge befassten sich »durchweg nicht in dem speziellen Sinn meiner Untersuchung mit dem Verständnis der ›religio‹ selbst« (18), gar nicht bedurft hätte.
In seinem »Ausblick« umreißt F. zwei weiterführende Aufgabenfelder: Zum einen sollte nun die »Begriffs- und Problemgeschichte durch das 19. bis möglichst in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein« (889) fortgeführt, zum andern ein systematisch-theologischer »Beitrag ... zur gegenwärtigen sehr kontroversen Diskussionslage zum Thema ›Religion‹« (890) erarbeitet werden. Beide Problemstellungen dürften sich, nachdem F. seine entsagungsvoll breite und verlässliche Quellensichtung abgeschlossen hat, umso erfolgsträchtiger angehen lassen. Ein Lebenswerk ist vollendet, die Weiterarbeit kann beginnen!