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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1075–1078

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Beyer, Franz-Heinrich

Titel/Untertitel:

Eigenart und Wirkung des reformatorisch-polemischen Flugblatts im Zusammenhang der Publizistik der Reformationszeit

Verlag:

Frankfurt/M.-Berlin-Bern-New York-Paris-Wien: Lang 1994. 299 S. m. 58 Abb. 8° = Mikrokosmos, 39. Kart. DM 89,­. ISBN 3-631-45402-3

Rezensent:

Harry Oelke

Die illustrierten Flugblätter der Reformationszeit erfreuen sich seit dem Beginn der modernen Flugblattforschung vor nunmehr drei Jahrzehnten bei allen beteiligten Wissenschaftsdisziplinen einer großen Beliebheit. Nach den grundlegenden Bestandsaufnahmen und Katalogisierungsarbeiten der Anfangszeit ist das Medium inzwischen im Rahmen einer Reihe von Detailstudien als aussagekräftige historische Quelle erprobt worden. Die hier 11 Jahre nach ihrer Annahme durch die Rostocker Theologische Fakultät gedruckt vorliegende Dissertation stellt vom heutigen Forschungsstandpunkt aus gesehen eher einen Nachtrag zum ersten Forschungsabschnitt dar. Substantiell wird darin die Fassung von 1983 geboten, die unter den "Kennzeichen und Begrenzungen der damaligen Situation" entstand (5 f.) und für den Vf. Restriktionen bei der Einsichtnahme in Quellen und Sekundärliteratur bedeutete. Einige grundlegende Titel der seither reichhaltig erschienen Forschungsliteratur sind in Verweisform zumindest in den Anmerkungsapparat eingearbeitet worden.

Das primäre Interesse des Vf.s richtet sich in seiner Studie auf die Flugblattpublizistik der Reformationszeit, wobei der Untersuchungsgegenstand auf den Typus des "reformatorisch-polemischen Flugblatts" beschränkt bleiben soll. Für die Untersuchung sind gleich ein ganzes Bündel von Fragestellungen leitend: neben dem entstehungsgeschichtlichen Gesichtspunkt werden gattungs-, motiv- und traditionsgeschichtliche Aspekte behandelt sowie das Personeninventar, die Text-Bild-Relation und der publizistische Kontext der reformatorischen Flugblätter einer Analyse unterzogen. Als Untersuchungsgrundlage werden 50 reformatorisch-polemische Flugblätter aus den Jahren 1519-1549 herangezogen, die allesamt sekundär ediert vorliegen. Diese Quellenbasis wird zusätzlich durch einen stattlichen Fundus zeitgenössischen Bildmaterials aus verwandten Medien erweitert.

Der methodische Umgang mit dem zugrunde gelegten Quellenmaterial ist durch eine "vorwiegend beschreibende Behandlung" (5) der Flugblatt- und Bildquellen gekennzeichnet. Das deskriptive Vorgehen orientiert sich an dem breiten Spektrum von Untersuchungsaspekten, die Beobachtungen und Ergebnisse werden im Verlauf der Untersuchung an den entsprechenden Stellen systematisch zusammengetragen.

Die in vier (ungleich gewichtete) Kapitel und einen Schlußteil strukturierte Untersuchung ist von der maßgeblichen Annahme bestimmt, daß die Genese des polemisch-reformatorischen Flugblatts aus entstehungsgeschichtlich vorangehenden Bildquellen anderer Medien der Reformationszeit herzuleiten sei. Die Arbeit setzt daher mit den Anfängen des reformatorischen Bilderkampfes ein. Vor allem im Text-Bild-Gefüge der antithetischen Bildpaare aus Cranachs "Passional Christi und Antichristi" erkennt B. ­ in Übereinstimmung mit bereits vorliegenden Forschungsergebnissen ­ "etwas grundsätzlich Neues" (13), das gleichsam den "Ausgangspunkt" des polemischen Flugblatts markiere (5). Cranachs 21 Holzschnittillustrationen zur Apokalypse, wie sie im "Septembertestament" von 1521 und in nachfolgenden Wittenberger Drucken Verbreitung fanden, wird als der "genuin lutherische Beitrag zum reformatorischen Bilderkampf" herausgearbeitet. Nur in diesen Drucken "blieb die Verbindung von Text und Bild wie auch das Prinzip aktueller Veranschaulichung gewahrt" (24).

Auch das folgende Kapitel ist auf Fragen der Genese des zur Diskussion stehenden Flugblattypus und den Interdependenzen mit zeitgenössischen Medien abgestellt. Dabei soll die "Illustration der frühen reformatorischen Flugschriften" auf ihre vorbildgebende Funktion für Flugblätter untersucht werden (25-77). Der Vf. bemüht sich zunächst um das Lutherbild in den Flugschriften, das er in einer "Personifizierung der revolutionären Bewegung" ausmacht, geht sodann detailliert auf das bekanntermaßen von idealtypischen Projektionen geprägte Bild vom ,gemeinen MannŒ ein und bietet schließlich eine informative Übersicht über die satirischen Charakterisierungen der bedeutsameren Widersacher Luthers sowie eine exemplarische Beschreibung antiklerikaler Polemikmuster.

Das von Inhalt und Umfang zentrale dritte Kapitel ist ganz allgemein dem "reformatorisch-polemischen Flugblatt" gewidmet (78-162). Der materialreiche Abschnitt über den Stoffgehalt dieser Quellen bringt zunächst eine aspektreiche Zusammenstellung der häufig verwendeten Bildtypen (Spott-, Schmäh- und Lehrbild sowie der Bildantithese) und geht dann auf die auf den Flugblättern anklingenden Bildthemen bzw. die dort rezipierten Bibelillustrationen und Fabelmotive ein. Die Ergebnisse dürften sich für den Umgang mit Flugblättern als hilfreich erweisen, dies um so mehr, als daß der Vf. immer wieder explizit auch den vorreformatorischen Traditionen der thematisierten Stoffe nachgeht und damit die spezifische Prägung durch die reformatorischen Propagandisten plastisch hervortreten läßt. Bei dem sich anschließenden Versuch, der reformatorischen Flugblattpublizistik "originale Bildschöpfungen" (111) nachzuweisen, ließe sich allerdings fragen, ob diesen Illustrationen nicht das gleiche Verfahren zugrundeliegt wie den anderen Bildern auch: die verläßlichen Orientierungsmarken einer langen ikonographischen Tradition werden in einen neuen, aktuellen historischen Zusammenhang montiert und gewinnen derart ihre zeitspezifische Aussageleistung (wie etwa die aktualisierende Gestaltung des tradierten Motivs vom "umstürzenden Thron" , 112). Im Anschluß registriert B. für die Flugblätter mit Bekenntnisbildern zwar deutlich weniger polemische Anteile als für andere Drucke, aber weil sie sich auch der "herausragenden Bedeutung des Bibeltextes auf Flugblättern" (118) verdanken, möchte sie der Vf. auch zu diesem Flugblattypus gezählt wissen. Sodann wird die Bedeutung der Personendarstellung auf dem reformatorisch-polemischen Flugblatt in differenzierter Weise ermittelt: neben Papst und Klerus, werden auch für die Laien, Christus, Martin Luther, die "weltliche Gewalt", Gottvater, biblische Gestalten und Engel die zentralen Motive und die Personenkombinationen zusammengetragen, in denen die Figuren sich ikonographisch zusammengestellt finden (130 ff.). Von Interesse für eine forschungsmäßig noch nicht abschließend geklärte Fragestellung dürften die Beobachtungen zum Bild-Text-Gefüge der Flugblätter sein. Auf ihrer Grundlage kann der Vf. im Sinne der beiden Eingangskapitel zwei Entwicklungslinien hin zum reformatorisch-polemischen Flugblatt konstatieren: eine von den Anfängen des reformatorischen Bilderkampfes in Wittenberg, kennzeichnend dafür wäre eine illustrierende und konkretisierende Funktion des Bildes, wogegen der Text hier eine "Ausweitung der konkreten Darstellung ins Grundsätzliche" bewirke. Auf diese Weise vollziehe sich eine Transformierung von Luthers am Antichrist-Begriff festgemachter Polemik auf den "konkreten Erfahrungs- und Erlebnisbereich des einzelnen Menschen" (161). Die andere, von den frühen Flugschriftenillustrationen herkommende Traditionslinie sieht B. durch ein rein äußerliches Bild-Text-Gefüge gekennzeichnet. Dabei gelte ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal: "Hier deutet der Text das Bild aus, dort faßte der Titelholzschnitt den Text zusammen" (161).

Am Ende der Studie soll die reformatorische Flugblattpublizistik "als historisches Phänomen" ausgelotet werden (163 ff.). Im einzelnen sind es die publizistischen Charakteristika des untersuchten Flugblattyps und dessen Funktion, die das Interesse des Vf. finden. Am Beispiel der Flugblätter des Hans Sachs wird aufgewiesen, daß das Flugblatt im reformatorischen Prozeß als Träger einer Partikularmeinung mit aufklärerischer Absicht wirksam wurde. Explizit wird hier nun auch verbindlich festgelegt, welches Gattungsverständnis für die vorangegangene Untersuchung maßgeblich war: Das Flugblatt wird ­ forschungmäßig ganz konventionell ­ als "Einblattdruck mit Text-Bild-Gefüge" definiert (180). Abschließend wird das Verhältnis des reformatorisch-polemischen Flugblatts zu den zeitgenössischen Medien "Predigt" und "Flugschrift" bestimmt. Die Predigt kennzeichne gegenüber der assoziativen Bedeutungsbreite des Flugblatts eine "verbindliche Deutung", das Spezifikum des Flugblatts gegenüber den beiden anderen Medien wird im "hohen Grad der Anschaulichkeit" (180) erkannt.

Die hier am Ende und zudem im Rahmen eines unter inhaltlichen Gesichtspunkten nicht ganz ausgewogenen Kapitels nachgereichten gattungsbezogenen Erwägungen hätten, der Untersuchung als orientierungsgebende Maßgaben vorangestellt, dem Leser bzw. der Leserin wohl noch wertvollere Dienste leisten können: das genaue Verhältnis der belegartig herangezogenen diversen Holzschnittquellen zum Typus des "reformatorisch-polemischen Flugblatts", die Subsumierung der Bekenntnisbilder unter diesen Flugblattypus (115) oder etwa die Behandlung der reinen Bildflugblätter als konstitutiver Bestandteil der Untersuchung (130) hätten sich dadurch womöglich transparenter bzw. überzeugender fassen lassen. Die vom Vf. als "Bild der Zeit" in die Untersuchung eingeführte Kategorie (73 ff., 112 f.) wird im Hinblick auf ihre Spezifität und ihren weiterführenden Erkenntnisgewinn nicht überzeugend begründet. Die Untersuchung zeigt sich an den Stellen um eine zusätzliche Deutungsdimension bereichert, an denen der zeitgeschichtliche Kontext einbezogen wird (v.a. 150 ff., 177 ff.). Davon hätte sich mit Gewinn sicher noch häufiger Gebrauch machen lassen.

Die Studie leistet insgesamt mit ihren materialreichen Ergebnissen einen fleißigen Forschungsbeitrag, der sich für eine weitere historische Auswertung der Flugblätter ungeachtet des fortgeschrittenen Forschungsstandes als förderlich erweisen dürfte. Insbesondere die umfangreiche Zusammenstellung des Motiv- und Personeninventars verspricht in dieser Hinsicht bedeutsam zu werden. Dabei zeigt die Arbeit in ihrem Aufbau und der Art und Weise ihrer Ergebnispräsentation streckenweise fast handbuchartige Eigenschaften. Auch die Beschränkung auf deskriptive Ausführungen bei gleichzeitigem Verzicht auf eine theoriegeleitete Untersuchungsführung, woraus dem Leser bzw. der Leserin insgesamt ein großer eigener Deutungsspielraum erwächst, wäre in diesem Zusammenhang zu sehen. Die 12 in die Arbeit aufgenommenen Exkurse verstärken diesen Eindruck weiter. Der angefügte Anhang kann ein Register freilich nicht ersetzen, bietet allerdings durch seine vielfältigen und umfangreichen Nachweise und Angaben zum einschlägigen Quellenmaterial zukünftig eine praktische Hilfestellung für die Arbeit mit reformatorischen Flugblättern. Die Beigabe von 58 Abbildungen ist grundsätzlich begrüßenswert, leidet aber im Einzelfall leider vielfach an einer zu kleinen Reproduktion, die eine Textverifikation nur stark eingeschränkt zuläßt.