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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

455-457

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Ansorge, Dirk [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Antisemitismus in Europa und in der arabischen Welt. Ursachen und Wechselbeziehungen eines komplexen Phänomens.

Verlag:

Paderborn: Bonifatius; Frankfurt a. M.: Lembeck 2006. 318 S. 8°. Kart. EUR 19,90. ISBN 978-3-89710-363-4 (Bonifatius); 978-3-87476-518-3 (Lembeck).

Rezensent:

Hans-Martin Kirn

Die Beiträge dieses Sammelbands gehen im Wesentlichen auf zwei Tagungen der Katholischen Akademie des Bistums Essen »Die Wolfsburg« in Mülheim an der Ruhr im Jahr 2005 zurück. Sie bieten einem breiteren Leserkreis aus unterschiedlichen Fachperspektiven lesenswerte Zugänge zum Phänomen des Antisemitismus in einer globalisierten Welt. Gerade die »historischen Traditionslinien des Antisemitismus zwischen Okzident und Orient« (8) und dessen fortdauernde Präsenz in vielen arabischen Staaten dürften dabei auf Interesse stoßen.
Den Band eröffnen eher lose Überlegungen des Essener Politologen Karl Heinz Klein-Rusteberg zur Frage »Wie tot ist Hitler? Oder: Neuer Antisemitismus als Geschichte(n) ohne Ende?« In Amerika geführte Debatten, so die um L. Wieseltiers Analyse pani­scher jüdischer Reaktionen auf den 11. September 2001 und um Philip Roths Roman »The Plot Against America« von 2004, führen an das Problem der reflexhaften Wahrnehmungs- und Legitimationsmuster heran, die letztlich für den Kampf gegen den »neuen Antisemitismus« nicht genügen. So hilfreich die Konturierung dieser Debatten ausfällt, so unbestimmt bleiben doch die Erwartungen, etwa im Blick auf die »Überraschungen, die jenseits unserer historischen Reflexhaftigkeit liegen« (30).
Um eine Klärung des Begriffs »Antisemitismus« bemüht sich der zweite Beitrag aus der Feder des Historikers Georg Christoph Berger Waldenegg (31–50), der dazu 2003 eine eigene Studie vorlegte. Die gängigen Definitionen im engeren und weiteren Sinn werden vorgestellt und behutsam besprochen.
Aus soziologischer Sicht analysiert der in einer Überarbeitung einer früheren Veröffentlichung vorgelegte Artikel von Klaus Holz den sog. »Neuen Antisemitismus« islamistischer und antizionistischer Prägung, signifikant geworden in einer massiven Zunahme antisemitischer Straftaten in Europa seit 1989. Wichtig sind insbesondere die Beobachtungen zum »islamisierten Antisemitismus«, der in wesentlichen Teilen im 20. Jh. aus Europa importiert, im Zusammenhang des arabisch-israelischen Konflikts in den politischen Islamismus eingegliedert und von dort wieder zum Export nach Europa aufbereitet wurde. Antisemitismus und Islamismus teilen demnach als »moderne« Weltanschauungen den Affekt gegen die Moderne, für deren angeblich zerstörerische Wirkung die Juden verantwortlich gemacht werden.
Dem Phänomen der Schuldabwehr als Kernmotiv des Antisemitismus speziell in Deutschland und in Österreich (»Nicht immer als Tätervolk dastehen«) widmet sich der Beitrag von Werner Bergmann vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin (81–106). Hierbei geht es um den »Postholocaust-Antisemitismus« (L. Rensmann), also um eine Art sekundären Antisemitismus, der die Juden vor allem als »Störenfriede der Erinnerung« (E. Geisel) wahrnimmt. Als Formen dieses Antisemitismus werden vorgestellt: Holocaust-Leugnung, die Stilisierung der Juden zum »Tätervolk«, Schlussstrich-Forderung, generalisierende Verrechnung der Juden unter alle Opfer der Gewaltherrschaft und moralische Disqualifizierung.
Die Osteuropa-Historikerin Viktoria Pollmann geht in ihrem Beitrag dem »Antisemitismus und Katholizismus in Mittelosteuropa am Beispiel Polen« nach (107–130). Seit dem 19. Jh. spielte der Antisemitismus für die »nationale Frage« des nach Unabhängigkeit strebenden Landes eine leitmotivische Rolle. Die katholische Kirche verstand sich dabei stets als natürlicher Verbündeter aller na­tionalen Kräfte. Erst nach 1989 begann die Aufarbeitung der eigenen Verstrickung in Judenverfolgung und -mord.
Der in Paris lebende Journalist Danny Leder schildert auf lebendige Weise die aktuelle Lage der zu einem großen Teil aus Nordafrika nach Frankreich emigrierten Minderheiten und deren Vorgeschichte im Ma­ghreb unter dem Titel: »Eine gefährliche Nachbarschaft? Juden und Muslime in Frankreich« (131–161). Alltags-Mobbing und Ge­waltakte in den Randvierteln von Jugendlichen aus benachteiligten Familien werden vom Autor in einer »Grauzone zwischen ›allgemeiner‹ Jugendgewalt und dem unter Muslimen grassierenden Judenhass« angesiedelt (140). Wichtige Katalysatoren des islamisierten Antisemitismus sind der Nahostkonflikt und mit ihm der Antizionismus, der »die Juden« zu Eroberern und Unterdrückern macht und das Selbstbild von der ohnmächtigen Opferrolle stärkt. Diese Mechanismen spielen auch in den Medien der arabischen Welt eine wichtige Rolle, wie der Islamwissenschaftler Jochen Müller in seinem Beitrag »Von Antizionismus und Antisemitismus – Stereotypenbildung in der arabischen Öffentlichkeit« darlegt (163–181). Dabei werden aus Europa importierte antisemitische Stereotypen wie der Ritualmordvorwurf und die These der jüdischen Weltverschwörung (»Protokolle der Weisen von Zion«) in aller Offenheit propagandistisch ausgeschlachtet und den eigenen nationalen Interessen dienstbar gemacht. Antikolonialismus und Antisemitismus wurzeln demnach in demselben Opferdiskurs.
Der französische Historiker Bernard Heyberger widmet sich in einem informativen Beitrag der »Rolle der Christen bei der Vermittlung antisemitischer Stereotypen in die arabische Welt« (183–199). Er analysiert den Antijudaismus bei orientalischen Christen und konstatiert einen frühen Einfluss westlicher Judenfeindschaft. Gegen Ende des 19. Jh.s wurde der Ritualmordvorwurf mit der mo­dernen Rassenideologie verbunden und in der Folgezeit auf vielfache Weise in der arabischen Welt verbreitet. – Der Islamwissenschaftler Stefan Wild geht der Frage nach: »Importierter Antisemitismus? Die Religion des Islam und die Rezeption der ›Protokolle der Weisen von Zion‹ in der arabischen Welt« (201–236). Die frühen, durch arabische Christen angefertigten Übersetzungen der »Protokolle« scheinen weithin wirkungslos geblieben zu sein. Dies änderte sich mit der Übersetzung eines muslimischen Journalisten, die 1951 in Kairo erschien. Demnach müsse der nahöstliche Antisemitismus als Folge, nicht als Ursache des Nahostkonflikts betrachtet werden (202). So wichtig diese Beobachtungen sind, so dringlich bleibt doch die nähere Erörterung der Frage, inwieweit religiöse Faktoren der Tradition den modernen Entwicklungen in die Hände gearbeitet haben.
Der Historiker und Kulturwissenschaftler Omar Kamil erörtert in seinem wichtigen Beitrag den Zusammenhang von »Antisemitismus, Kolonialismus und Holocaust-Leugnung bei arabischen Intellektuellen« als Problem defizitärer Wahrnehmung (217–236). Methodisch wird zu Recht – den Ansatz von B. Lewis weiterführend – nach einer Verortung des Problems im Schnittpunkt arabischer, europäischer und jüdischer Geschichte bzw. Geschichtsnarrative gesucht, und diese wird »in der kolonialen Erfahrung arabischer Gesellschaften« gefunden (219). Der Zionismus wird demnach von arabischen Intellektuellen als Fortsetzung des europäischen Kolonialismus gedeutet. Die ab­schlie­ßenden Anmerkungen zur theoretischen Fundierung bleiben freilich vage.
Für eine rein politische Deutung des Nahost-Konflikts spricht sich der Islamwissenschaftler und katholische Theologe Khalil Samir unter dem Titel »Antisemitismus und Antizionismus in der arabischen Welt? Eine christlich-theologische Perspektive« aus (237–255). Wenig überzeugend sind die begrifflichen Überlegungen, denen zufolge es sich im Nahen Osten nicht um »Antisemitismus«, sondern um »Antizionismus« und »Antijudaismus« handle. Mit der Lösung des Nahostkonflikts auf der Basis von drei »theologischen« Prinzipien: der »Trennung von Religion und Politik«, dem »Verzicht auf fundamentalistische Lesarten der Heiligen Texte« und der »Bereitschaft zum Kompromiss«, wird – reichlich optimistisch – auch ein Ende von Antizionismus und Judenfeindschaft in Aussicht gestellt (253).
Im ausführlichen Schlussbeitrag zeichnet Dirk Ansorge den langen Weg der Aufarbeitung der Judenfeindschaft in der katholischen Kirche im 20. Jh. nach (»Zwischen Diplomatie und Theologie: Katholische Kirche, Antisemitismus und Staat Israel«, 257–314) und formuliert theologische Herausforderungen wie die einer »christlichen Theologie des Landes Israel«, welche das mit den biblischen Landverheißungen verbundene »Ethos der Gerechtigkeit« einschließt. Als herausragender Vertreter einer in dieser Hinsicht fruchtbaren christlichen Theologie wird der Erzbischof von Jerusalem, Michel Sabbah, vorgestellt (304–310).
Es bleibt zu wünschen, dass der trotz Qualitätsunterschieden lesenswerte Sammelband zur vertiefenden Lektüre anderer themenspezifischer Arbeiten anregt, etwa zu M. Wieviorkas »La tentation antisémite« von 2005 (englisch 2007) zur Situation in Frankreich. Leider fehlen Literaturverzeichnis und Register.