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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

450-453

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Sarx, Tobias

Titel/Untertitel:

Franciscus Junius d. Ä. (1545–1602). Ein reformierter Theologe im Spannungsfeld zwischen späthumanistischer Irenik und reformierter Konfessionalisierung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007. 318 S. gr.8° = Reformed Historical Theology, 3. Geb. EUR 54,90. ISBN 978-3-525-56912-2.

Rezensent:

Johannes Wischmeyer

Werkmonographien können leicht den Charakter einer langweiligen Pflichtübung annehmen. Wer sich wie Tobias Sarx im Rahmen einer kirchenhistorischen Dissertation das umfangreiche und auf den ersten Blick heterogene Werk eines heute wenig bekannten (doch von prominenten Zeitgenossen rezipierten: vgl. 282–285) Theo­logen im Konfessionellen Zeitalter vornimmt, muss überlegen, wie er seinem Stoff Relevanz verleiht. S. löst das Problem, in­dem er sein Untersuchungsobjekt – den Heidelberger und Leidener reformierten Theologen Franciscus Junius – im Schnittfeld zweier historischer bzw. ideengeschichtlicher Debatten verortet: Junius ist einerseits als Pastor und Universitätslehrer Agent der (in diesem Fall reformierten) Konfessionalisierung, an­dererseits (aber eben nicht nur) im Zuschnitt der von ihm vertretenen humanistisch beeinflussten Theologie ein Propagator interkonfessioneller Irenik. Leitthese der Arbeit ist, dass Junius im Rahmen seiner am Friedens- und Liebesgedanken orientierten, sich selbst in ihren An­sprüchen begrenzenden Theologie und seiner vernunftbasierten christlichen Ethik »die eigentlich divergierenden Anliegen von Kon­fessio­nali­sierung und Irenik miteinander verbunden« habe (276 f.).
Dem damit gesetzten thematischen Fokus trägt S. Rechnung, indem er zwei sicherlich zentrale Aspekte aus Junius’ Werk auswählt: die Beschäftigung mit Fragen politischer und kirchlicher Ordnung sowie die wichtigsten Beiträge zur Bibelhermeneutik. Insgesamt zwölf Einzelschriften, zwei Reden, acht Thesenreihen und zwei Briefe, werden, jeweils in sehr klarer Gliederung, analysiert. Die kleinschrittige Ergebnissicherung sorgt für eine gewisse Redundanz. Der Untersuchung vorausgeschaltet ist eine konventionelle Biographie, die den Kenntnisstand der Sekundärliteratur zusammenfasst (30–48).
Was für ein Konzept von ›Konfessionalisierung‹ findet S. in den analysierten Schriften? Er bringt es auf die Kurzformel, dass bei Junius »die Theologie für ihren eigenen Bereich inhaltliche Prinzipien formuliert, dass sie einen weltanschaulichen Rahmen spannt, der die anderen Gesellschaftsbereiche zwar umfasst, sie aber inhaltlich nicht bestimmt, und dass die Kirche ihre Glieder zu einem gottgefälligen Leben auffordert, was nach Junius’ Verständnis ein verantwortungsvolles Wahrnehmen gesellschaftlicher Verantwortung im natürlichen Bereich mit einschließt« (273). Ein differenzierter Abgleich mit dem lediglich in der Einleitung referierten Stand des Konfessionalisierungsparadigmas unterbleibt. S. gesteht stattdessen pauschal ein, dass »Junius’ Ansatz nur teilweise« zum gängigen Konfessionalisierungskonzept passt (282). Kein Wunder, denn Letzteres ist nicht als Schablone gedacht, mit deren Hilfe sich eine theologiehistorische Werkanalyse vornehmen lässt, sondern als ein Instrument zur Analyse gesamtgesellschaftlicher Transformationsprozesse. Das Fazit der Arbeit weist in eine andere Richtung: Junius habe speziell mit seiner Ekklesiologie »den Absolutheitsanspruch von Kirche und Theologie in Kirche und Gesellschaft durchbrochen« (184).
Problemloser kann S. in seiner Untersuchung folglich den – bezeichnenderweise beinah exklusiv von Kirchenhistorikern verwendeten – zweiten Leitbegriff ›Irenik‹ operationalisieren. S. reklamiert Junius als Ireniker, da bei diesem »die Friedensthematik als Ziel jeglichen theologischen Arbeitens vorgegeben ist« (280). Konkretisiert sieht S. die Irenik durch Junius’ Bestreben, theologische Aussagen zu kontextualisieren, den eigenen Erkenntnisanspruch zu relativieren und die Reichweite theologischer Aussagen zu begrenzen. In der Praxis führt dies etwa dazu, dass Junius eine politische Folgewirkung von Kirchenzuchtmaßnahmen ablehnt und eine spirituell-ethische Frömmigkeit propagiert, die – eine an­fechtbare These – als Vorbereitung auf den Pietismus (281; vgl. 136) gesehen werden könne.
In theologiegeschichtlicher Hinsicht fragt S. danach (19 f.), was für Junius Kernbestand orthodoxer Lehre ist (nur die – freilich inhaltlich um Aspekte der Rechtfertigung, Heiligung und fundamentalen Ekklesiologie erweiterte – Gotteslehre; 119 f.), wie er zum dogmatischen Fixierungsprozess seiner Zeit steht (kritisch), inwiefern er humanistische, scholastische und reformatorische Elemente rezipiert, und schließlich, welchen Stellenwert die ratio in Junius’ Theologie erhält (s. u.). Dabei gelingen S. wichtige Einzelbeobachtungen, die die Theologiegeschichte des frühen Konfessionellen Zeitalters in jedem Fall voranbringen: etwa, dass in Junius’ Ekklesiologie neben der disciplina immer auch communio und caritas als Leitbegriffe genannt werden (und deswegen kirchliche Herrschaft die Form des Dienstes annimmt; 122, zusammenfassend 277), so dass hier im Vergleich mit Calvin bei aller Nähe ein weniger institutionsfixiertes, pragmatischeres und gleichzeitig stärker an der spirituellen Komponente der Gemeinschaft interessiertes Bild der Kirche entsteht (80; auch 94). Verhältnismäßig offen und konsenswillig gegenüber den Lutheranern zeigt sich der Ireniker Junius in seiner Abendmahlslehre (176). In der Exegese verbindet er humanistisch beeinflusste Ansätze historischer Kritik mit einem in Anlehnung an Calvin (und, womöglich indirekt, an Bucer; 199) entwickelten, gestuften bundestheologischen Konzept (195 ff.; hierzu näher 258 ff.; zu den Innovationen von Junius’ Föderaltheologie etwa im Vergleich mit Ursinus vgl. treffend 270 f.). Eine besondere Leistung war die synoptische Zusammenstellung und Analyse der alttestamentlichen Zitate im Neuen Testament (Sacrorum Parallelorum Libri Tres), bis dahin ohne Vorbild (vgl. vor allem 207–210).
Junius suchte scharfsinnig Gründe für die feststellbaren Abweichungen und postulierte, auch normative Texte seien jeweils vom historischen Kontext abhängig (inwieweit hiermit wieder ein irenischer Zug vorliegt, hätte al­lerdings eingehender gezeigt werden müssen; 213). Bei der in sich sehr ge­lungenen Darstellung des Juniusschen Theologieverständnisses (215–233) unterbleibt eine detaillierte Auseinandersetzung mit der theologie- und wis­senschaftsgeschichtlichen Forschungsdiskussion. S. weist auf die differenzierte Methodik des Junius hin: In den politisch-juristischen Schriften sind Vernunft und Erfahrung – auch die leidvolle eigene Lebenserfahrung – Argumentationsmaßstäbe. In den ekklesiologischen Schriften dagegen firmieren neben biblischen Texten (die oft auch wegen ihres Beispielcharakters herangezogen werden; 79) Patristiker als Autorität. Insgesamt rückt S. Junius in die Nähe Bucers (120) bzw. der kurpfälzischen Theologen (279). Die im Grundsatz überzeugende These, Junius entwickele »eine interessante Synthese aus biblischer Theologie, Neustoizismus und thomistisch-scholastischer Argumentationsweise« (159), hätte an den Texten detaillierter entwickelt werden können; vor allem die zu wenig vertieften Vergleiche mit humanistischen Autoren (vgl. etwa 232) lassen den Leser unbefriedigt.
Auch im Bereich der theologischen Ethik macht S. wichtige Beobachtungen: Im Gegensatz zur Mehrzahl der Reformatoren unterscheidet Junius klar zwischen politischem Aufruhr und Häresie (dies hätte die sonst um griffige Deutungen nicht verlegene Arbeit ruhig explizit als ein Element von Säkularisierung bezeichnen können; so bleibt die Rede von »säkularisierende[n] Tendenzen« [259 u.ö.] im Werk des Junius stets ohne konkreten Bezug). Dem einzelnen Gläubigen billigt Junius, nicht zuletzt wegen eines genuinen Interesses an Aufrechterhaltung der bürgerlichen Ordnung, eine höhere Entscheidungskompetenz in Glaubensdingen zu als etwa Calvin (60.64). Die Analyse eines theologischen Fürstenspiegels, der als vornehmste Herrschertugenden pietas und prudentia bestimmt (100), bekräftigt den Eindruck, dass Junius die Zwei-Regimenten-Lehre konsequenter als die meisten Theologen des 16. Jh.s durchführt (108; vgl. 181.254). Der Brief discours skizziert die Möglichkeit einer mehrkonfessionellen Gesellschaft, in der auch die Ungläubigen bürgerliche Rechte genießen (zu einer Voraussetzung hierfür, der Differenzierung zwischen allgemeiner – d. h., auch den Sündern zukommender – und partikularer Gnade, vgl. 265). Am Frieden als Leitbegriff christlicher Ethik (179 u. ö.) macht S. die These fest, dass Junius im Verlauf seiner intellektuellen Entwicklung allmählich dem Stoizismus gegenüber dem Aristotelismus höheren Rang einräumt (133 f.); die Annahme, der späte Junius argumentiere häufiger mit der Bibel, wird zurückgewiesen (177). Interessant sind auch die Ausführungen zum Gesetzesbegriff bei Junius (143–147), obgleich leider auf der Hand liegende Parallelen zum zeitgenössischen juristischen Diskurs nicht näher verfolgt werden (vgl. 152.156.161; Ansätze dazu in anderem Zusammenhang: 249.257). Wichtig ist der Hinweis, dass Junius durch seine Unterscheidung verschiedener Gesetzestypen wohl entscheidend dazu beigetragen hat, alttestamentliche Normen in größerem Umfang für die christliche Rechtsprechung nutzbar zu machen (147 ff.). Junius’ Rechtsdenken kennzeichnet insgesamt das Streben nach einer Differenzierung unterschiedlicher Rechtsbereiche und damit letzten Endes auch gesellschaftlicher Sphären – die auf Grund solcher Befunde eigentlich notwendige grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Konfessionalisierungsparadigma sucht S. aber nirgends.
Den Lektüreeindruck trübt eine bedeutende Zahl von Übersetzungsfehlern, die teilweise nicht ohne Folge für die Interpretation der Juniustexte bleiben. Bei der Schilderung der politischen Herrschaftsordnung etwa, die im Eirenicum als klare Rangordnung beschrieben wird, kommt S. auf Grund eklatanter Übersetzungsfehler zum Schluss, Junius schildere das politische Gemeinwesen als »ein Ineinander von verschiedenen Autoritätsstrukturen« und lehne damit absolutistische Modelle ab (123). – Die Irenik des Junius hätte S. stärker profilieren können, hätte er ein Zitat aus derselben Schrift korrekt übersetzt, das allen Christen denselben Glauben zuschreibt, der lediglich secundum plus et minus, also graduell, unterschiedlich sei (127, in der Folge weitere Fehler). – Den Schluss, disciplina bedeute für Junius u. a. ein Sich-Verpflichten »zur aktiven Teilnahme an Zeichenhandlungen« (171), zieht S. aus einer fehlgegangenen Übersetzung der grammatikalischen Erläuterung Disciplina ... activam significationem induit (170). Eine Fehlübersetzung verhindert die exakte Verhältnisbestimmung zwischen ratio, lumen intellectuale und revelatio (222; vgl. weitere, teilweise sinnentstellende Fehler auch z. B. 130.145.150.163!164.170. 175.195.243.253.263!267!). Ärgerlich sind auch Numerus- und Genusfehler (vgl. nur 84.93.173.212.269).
Gerade angesichts des immer wieder hervorschimmernden starken systematischen Interesses von S. an den behandelten Themen erstaunt das Fehlen von Kritik oder einer Problematisierung des erhobenen Befundes. Dass Junius seiner Zeit »in mancherlei Hinsicht voraus« war (15; wortgleich 286), ist nur eine der vielen aktualisierenden Formulierungen (vgl. »Grundrechte«, 54; »Diskurstheorie«, 55 u. 125; »Volkskirchenmodell«/»Freiwilligkeitskirche«, 95; »Eigengesetzlichkeit«, 141; »ein Gedanke der Ökumene des 20. Jahrhunderts«, 170, vgl. 237; »Bereiche gelingender Kommunikation«, 194, vgl. 201; ein Beispiel unhistorischer political correctness: 211). Dies wird eine Rezeption der Arbeit von allgemeinhistorischer Seite eher erschweren. Auf eine solche ist dennoch zu hoffen, denn, sowohl was die ideengeschichtlichen Wurzeln als auch was die mittel- und langfristige Fortwirkung der Ekklesiologie, politischen Ethik und Hermeneutik des Junius – gerade in außertheologischen Kontexten – angeht, besteht weiterhin Forschungsbedarf.