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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

440-442

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

White, Joel

Titel/Untertitel:

Die Erstlingsgabe im Neuen Testament.

Verlag:

Tübingen: Francke 2007. XII, 374 S. 8° = Texte und Arbeiten zum neutes­tamentlichen Zeitalter, 45. Kart. EUR 78,00. ISBN 978-3-7720-8210-8.

Rezensent:

Peter Müller

In dieser in Dortmund von Rainer Riesner betreuten Dissertation geht es um die Bedeutung der Erstlingsgabe im Neuen Testament: »Wie und wozu das NT das alttestamentliche Konzept der Erstlingsgabe verwendet, ist Gegenstand dieser Untersuchung« (1). In Auseinandersetzung mit Richard Hays und Timothy Berkley definiert W. vier Kriterien zur Eruierung alttestamentlicher Anspielungen in neutestamentlichen Texten, und zwar die Kriterien des Übereinstimmungsgrads, der Querverbindungen, der Kohärenz und des Erklärungspotentials (11 f.). Da der Gebrauch des Wortes Erstlingsgabe im Neuen Testament durchgängig metaphorisch ist, befasst er sich außerdem kurz (12–16; ich finde: zu kurz) mit dem Problem der Metaphorik.
Kapitel II geht auf die verschiedenen Vorstellungen von Erstlingsgaben in Altem Testament und Frühjudentum ein (17–68). W. kommt zu dem Ergebnis, dass der Begriff Erstlingsgabe im frühjüdischen Kontext mehrere Bedeutungsnuancen hat, die den neutes­tamentlichen Autoren als Ansatzpunkt für die metaphorische Verwendung zur Verfügung standen: die für die priesterliche Klasse bestimmten Erntegaben im Allgemeinen oder im Einzelnen, dem Kult geweihte materielle Abgaben, die Erstlingsgabe der Gerstengarbe sowie die Erstlingsbrote zum Wochenfesttag, weiterhin die bereits in alttestamentlich-jüdischem Zusammenhang metaphorisch verwendete Vorstellung vom »vorzüglichsten Teil« und die vom treuen Rest Israels in Jer 2,3 (68 f.). W. betont, dass es 1. in frühjüdischem Kontext die eine Vorstellung von der Erstlingsgabe nicht gebe, sondern von Fall zu Fall entschieden werden müsse, welche konkrete Bedeutung mit der Aussage verbunden sei, und dass 2. hinter allen Stellen die Grundkonzeption einer Gott geweihten Gabe stehe (292).
Von hier aus betrachtet W. die neutestamentlichen Stellen (Röm 11,16a; 1Kor 15,20.23; Röm 8,23; Röm 16,5b; 1Kor 16,15; 2Thes 2,13; Jak 1,18; Offb 14,4) sowie das Vorkommen des Begriffs bei den Apostolischen Vätern. In Röm 11,16a bezieht sich Paulus nach W. nicht in erster Linie auf Num 15,20 f., sondern nimmt die Vorstellung von Erstlingsgaben insgesamt auf, vor allem aber die von Israel als Erstlingsgabe in Jer 2,3, da hier die theologischen Topoi Erstlingsgabe, kultische Heiligkeit und Israel in Verbindung gebracht würden. In 1Kor 15,20.23 nehme Paulus vor allem auf Lev 23,10 f. Bezug und knüpfe hierbei an die Typologie des Passalammes von 1Kor 5,6–8 an: »Die kultisch-kalendarische Symbolik liefert Paulus ein ideales Schema für eine typologische Erläuterung der Zu­sammengehörigkeit der Auferstehung Christi und der allgemeinen Auferstehung« (163). Röm 8,23 sei als direkter Bezug des Paulus auf seine eigene, in 1Kor 15,20 entwickelte Vorstellung von der »Erstlingsgabe der Verstorbenen« zu verstehen. In Röm 16,5b und 1Kor 16,15 bezeichne die Erstlingsgabe nicht Epainetos und Stephanas als Erstbekehrte, sondern deute ihren Status als »Weihegabe« und ihre Einsetzung in Leitungsfunktionen an; in 2Thess 2,13 (W. geht von der pau­li­nischen Verfasserschaft aus, 217 f., und bevorzugt die Lesart ἀπαρχήν, 222 ff.) gehe Paulus davon aus, dass die Chris­ten wie die Erstlingsgaben, die dem Tempel übergeben werden, Gott geweiht seien; auch in Jak 1,18 (W. hält eine Abfassung durch den Herrenbruder für möglich, 238–244) trete der Weihecharakter der Erstlingsgabe hervor; sowohl Jak 1,18 als auch Offb 14,4 be­ziehen sich nach W. auf die Vorstellung vom treuen Rest Israels in Jer 2,3.
In Kapitel IV führt W. seine Ergebnisse zusammen und interpretiert sie im Blick auf die Entwicklung des frühen Christentums. Insgesamt zeige sich einerseits eine deutliche und wiederholte Bezugnahme der neutestamentlichen Autoren auf die Vorstellung vom treuen Rest Israels (Röm 11,16a; Jak 1,18 und Offb 14,4), andererseits eine eigenständige paulinische Interpretation der Metapher in 1Kor 15,20.23. »Wie kam es dazu, dass drei so unterschied­liche Autoren … die Erstlingsgabenmetapher so auffallend ähnlich gebrauchten?« (293) W. erklärt dies damit, dass die Vorstellung im Rahmen der Jerusalemer Gespräche zwischen Paulus und den Säu­lenaposteln als Deutungsmöglichkeit gefunden worden sei (292–296). Paulus selbst habe die Metapher in 1Kor 15 aber auch eigenständig verwendet. Da Paulus mit einer signifikanten Zwi­schenzeit zwischen Auferstehung und Parusie Christi gerechnet habe, habe er die Vorstellung aus Lev 23 dazu verwendet, »so­wohl den inhaltlichen Zusammenhang als auch die zeitliche Trennung zwischen der Auferstehung Christi und der allgemeinen Auferstehung« zu erklären (302). Vor diesem Hintergrund lehnt er eine konzeptuelle Verbindung von ἀπαρχή und ἀρραβών oder πρωτό­τοκος ab (306–309). »Die besondere Anziehungskraft der Erstlingsgabenmetapher für Paulus liegt darin, dass das Wort ἀπαρχή seinen alttestamentlichen und frühjüdischen Wurzeln entsprechend die Nuance der Weihe in sich trägt, die an allen Stellen, in denen sie vorkommt, im Vordergrund steht« (309).
Insgesamt stellt die Metapher von der Erstlingsgabe nach W. für die ersten Christen ein Gedankenmodell dar, »mit dessen Hilfe man sich eine Juden- und Heidenchristen vereinende und beiden Gruppen Respekt entgegenbringende Gemeinde vorstellen konnte. Denn die Getreideerstlingsgabe gehört untrennbar zur Gesamternte, von der sie unübersehbar nur ein kleiner Teil ist. Dennoch nimmt sie als geweihte Gabe einen Ehrenplatz ein und verdient es trotz ihrer Größe würdevoll behandelt zu werden« (312). Paulus lässt sich vor diesem Hintergrund als jüdischer Theologe verstehen, der sich an die frühjüdische Exegese anlehnt, dem kultischen Kalender auch nach seiner Bekehrung »nicht unerhebliche Bedeutung beigemessen« hat, seine Missionsstrategie an Jes 66,18–21 orientiert und in 1Kor 15,20.23 im Rückgriff auf Lev 23,10 f. das chris­tologische Deutungspotential des kultischen Kalenders aktualisiert (312–316).
Bei der Beurteilung lasse ich allgemeine Aspekte wie etwa die Verfasserfrage bei 2Thess oder Jak oder die textkritische Problematik von 2Thess 2,13 beiseite. Da kann man mit guten Gründen jeweils anderer Meinung sein. Wichtiger sind die vorgelegte Deutung der ἀπαρχή-Stellen selbst und die daraus gezogenen Konsequenzen für die frühchristliche Theologie. Dass Röm 11,16a; Jak 1,18 und Offb 14,4 gleichermaßen auf Jes 2,3 und die Judenchristen zu beziehen seien, wird für jede dieser Stellen in der Literatur bestritten; Röm 16,5b und 1Kor 16,15 lassen sich durchaus im Sinne von Erstbekehrten verstehen; dass die Erstlingsgabe des Geistes in Röm 8,23 von 1Kor 15,20.23 und Lev 23,11 her zu deuten sei, verkennt m. E. den unterschiedlichen pneumatologischen bzw. chris­tologischen Horizont der beiden Aussagen. Dass ἀπαρχή an allen Stellen im Neuen Testament »die Nuance der Weihe« in sich trage, kann ich nicht nachvollziehen. Und die Deutung des Paulus, der auch nach seiner Bekehrung u. a. dem kultischen Kalender erhebliche Bedeutung beigemessen habe, übertreibt die »neue Perspek­tive« auf Paulus. Das bedeutet nicht, dass W. nicht interessante Details und lesenswerte Auslegungen zu diesen Stellen vorgelegt hätte. Aber sowohl seine Systematisierung dieser Stellen als auch der Versuch, die Erstlingsmetapher als Ergebnis des Jerusalemer Ge­sprächs zwischen Paulus und den »Säulenaposteln« und als ge­meinsame Grundlage so unterschiedlicher theologischer Konzeptionen wie der des Paulus, des Jakobusbriefs und der Offenbarung zu verstehen, bürdet m. E. diesen Stellen mehr Gewicht auf, als sie tragen können.