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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

438-440

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Rascher, Angela

Titel/Untertitel:

Schriftauslegung und Christologie im Hebräerbrief.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 261 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 153. Lw. EUR 84,00. ISBN 978-3-11-019697-9.

Rezensent:

Martin Karrer

R. greift in ihrer Heidelberger, durch P. Lampe betreuten Dissertation ein zentrales Thema des Hebr auf: die Entfaltung der Christologie aus der Schrift. Es gibt zahlreiche Forschungsarbeiten dazu seit F. Schröger (Der Verfasser des Hebr als Schriftausleger, 1968; Forschungsgeschichte R., 2–11). Doch lohnt das Thema sowohl we­gen des Schriftverständnisses als auch wegen der Konsequenzen für die Christologie unverändert.
Das Schriftverständnis behandelt R. relativ kurz und im Sinne einer Zusammenfassung bisheriger Forschung (13–37): Der Hebr versteht die Schrift als lebendiges Wort und benützt stets die LXX, oft in einer dem Codex A nahestehenden Fassung und in der Regel im Literalsinn (E. Ahlborn, Die Septuaginta-Vorlage des Hebr, Diss. Göttingen 1966/67, masch., ist nicht benützt). Eine philosophische Vorgabe wie bei Philo für die Zitatauswahl ist nicht erkennbar (15; die Vergleiche zu Philo sind hier und in der weiteren Studie freilich zu knapp).
Zur Christologie leitet die Untersuchung der Zitateinleitungen über (37–42): Sprecher der Zitate sind in der Regel Gott, der Sohn (Christus) und der Geist. Die Leserinnen und Leser werden dadurch Zeugen einer »innergöttlichen Kommunikation«. Nur aus dem Hören heraus können sie selbst auch zu Sprecherinnen und Sprechern der Schrift werden (42).
Es folgen drei große Abschnitte zur Christologie, gesammelt um das Sohnesprädikat (B; 45–100), die Hohepriesterschaft Jesu (C; 101–142) und das Werk Jesu im kultischen Zusammenhang (D; 143–202). Die Arbeit besticht durch die sorgfältige Nachzeichnung des Hebr. Doch wären an vielen Stellen Vertiefungen zu wünschen, z. B. bei der Vorgeschichte des Sohnes- und Hohepriesterprädikates (zu kurz zu Letzterem: 102 mit Anm. 6 f.), bei der Textgeschichte der Zitate zwischen LXX und Neuem Testament (dazu erscheint demnächst eine Monographie von G. Steyn) und bei der Ablehnung eines Testimoniums im zentralen Abschnitt zur Sohnschaft 1,5–14 (21.52 f.; R. klammert das erklärungsbedürftige Verhältnis zu 1Clem 36 aus und streift den 1Clem auch im Fortgang nur bei der Diskussion um die Datierung des Hebr, 189). Das Zitat von LXX Jer 38,31–34 (MT 31,31–34) in Hebr 8 wird überraschenderweise nur als Exkurs besprochen (64–68; vgl. neuerdings S. Fuhrmann, Vergeben und Vergessen, WMANT 113, 2007). So verwundert nicht, dass auch diese großen Abschnitte weithin vorhandene Forschungserkenntnisse zusammenfassen und dadurch recht konventionell wirken. Nennen wir einige Entscheidungen und die Ergebnisse im Überblick:
a) Zum Sohn (besonders Hebr 1–2): Die Schriftzitate konzentrieren sich auf die Hoheit des Sohnes (besonders 1,5–14; vgl. 74), berühren aber auch das irdische Leben Jesu (über Ps 8; 53–56.74). Sie weisen den Sohn als Träger göttlicher Attribute und der Offenbarung Gottes aus und markieren ein Verhältnis von Kontinuität wie Diskontinuität zu Mose (3,1–6; 75–85). – Wichtige Einzelentscheidungen betreffen 1,6 – die Einführung des Sohnes in die Ökumene sei auf die Einführung in die himmlische Welt zu deuten (90 f.), 2,9 (R. votiert auf S. 56 für die Lesart χάριτι) und 2,14 f. (der Tod des Sohnes wird im Hebr demnach nicht nur kultisch interpretiert, sondern überwindet auch die Todesfurcht etc.; die Gnosisdiskussion, die die letzte Generation stark beschäftigte, stellt R. zurück).
b) Zum Hohepriester (besonders Hebr 5,1–10; 7): Hohepriester- und Priesterprädikat Jesu gehen ineinander über und setzen einen spezifischen Akzent im kultischen Feld; (»Jesus Christus ist in ers­ter Linie Hohepriester, nicht Opfer« 102 [f.]). Dabei begründet sich sein Hohepriestertum nicht erst durch die Erhöhung, sondern er­weist sich bereits im irdischen Leben Jesu (114: eine m. E. richtige These). Für die Berufung ausschlaggebend ist LXX Ps 109,4 (116–120), für die Entfaltung wesentlich Gen 14 (124–131). – In dankenswert ausführlicher Weise behandelt R. die Melchisedektradition in 2Hen, 11QMelch und bei Philo (131–140), um die Identität Melchisedeks als »der aus Gen 14 bekannte Priesterkönig aus Salem« zu erweisen (131). Blass bleibt ihre Behandlung der Crux interpretum 5,7 (110). – Die Beobachtung, den Hebr-Autor interessiere weniger die Kult­realität seiner Zeit als die Entfaltung der Christologie aus der Schrift (141 f.), geleitet zum nächsten Teil der Studie.
c) Zum Verständnis des Kultes und Werkes Christi (besonders Hebr 9,1–10,18): R. zeichnet die Kontraste von irdischem und himmlischem Heiligtum, irdischem und himmlischem Kult nach und gelangt zur Auffassung, es sei »kein eigenständiges Interesse des Hebr an der himmlischen Welt erkennbar, sondern diese wird nur in Verbindung mit christologischen und soteriologischen Aussagen erwähnt« (170). Für die Soteriologie von Kapitel 9 zentral seien Versöhnungstag (damit Sühne) und Bundesschluss (171–178), so gewiss »Kreuz und Auferstehung ... unkultische Ereignisse« sind.
Gravierend sind die Konsequenzen für den christlichen Gottesdienst (183–200): Er ist unkultisch, im Wesentlichen Wortgottesdienst in der christlichen Versammlung und enthält wahrscheinlich Predigt (nach dem Muster von Hebr 3 f. zu LXX Ps 94), Lobpreis und Dankgebet (13,15). Theologisch ist er wie eine Festversammlung zu denken (vgl. 12,22 f.) und zielt auf ethisch richtiges Handeln. Dieser Abschnitt ist in der Studie hervorzuheben, auch wenn Einzelheiten weiterzuentwickeln wären; z. B. hat das gegenseitige Zureden nach 10,24 f. mindestens das Gewicht der Predigt (was 196 nur streift; weiterhin sehr knapp 196.200 zum Amt der »hegoumenoi«/Anführenden).
Unter den besprochenen Einzelmotiven seien das Verständnis von »parabolê«, »Sinnbild« (153–155), und »skia«, »Schatten« (162 f.: Erwägung eines populärphilosophischen Einflusses platonischer Wurzeln) genannt. Die Arbeit von G. Gäbel, Die Kulttheologie des Hebr, WUNT II 212, 2006, die teilweise andere Akzente setzt, erschien unmittelbar nach dem Abschluss von R.s Dissertation und ist in die Veröffentlichung nicht mehr eingearbeitet.
R. fasst in einem letzten Arbeitsteil die Pointen der Schriftzitate zusammen (206–215): Weil Gott sich im Sohn endgültig und in einem »Neuanfang« (217) offenbart habe, müsse »sein vorheriges Reden neu verstanden werden« (214). Die Schrift bleibe dabei prägend, aber in besonderer Weise, etwa der Art der Typologie (R. spricht auf S. 215 von einer »typologischen Auslegung des Versöhnungstages Lev 16«).
Damit schließt sich der Bogen der Arbeit zu Hermeneutik und Schriftverständnis, den Akzenten der Eröffnung. R. vermeidet, ex­plizit in gegenwärtige Kontroversen einzugreifen, etwa die jüngere Kritik typologischer Hermeneutik zu prüfen. Ihre Schlussbemerkung signalisiert ihre eigene Richtung: Das Christusereignis bedeute »qualitative Differenz zum Vorherigen«; die Darlegung aus dem »Alte[n] Testament« (R. verwendet diesen Ausdruck, der in mancher heutigen Hebr-Auslegung wegen der problematischen Wirkungsgeschichte von Hebr 8 vermieden wird) aber garantiere »Kontinuität und Verlässlichkeit« (221). Der Hebr wird für sie zu einem Dokument von »Diskontinuität und Kontinuität« (222), eine sicher richtige Feststellung – und dennoch blass, weil R. die heikle Frage, was das für die Israeltheologie bedeute, nicht mehr an­schließt.
Alles in allem liegt also eine solide und dennoch etwas blasse Studie mit wenig neuen Akzenten vor. Sie ist durch Register hilfreich erschlossen.