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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

434-437

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gradl, Hans-Georg

Titel/Untertitel:

Zwischen Arm und Reich. Das lukanische Doppelwerk in leserorientierter und textpragmatischer Perspektive.

Verlag:

Würzburg: Echter 2005. 500 S. gr.8° = Forschung zur Bibel, 107. Kart. EUR 35,00. ISBN 978-3-429-02741-4.

Rezensent:

Christfried Böttrich

Kaum ein Thema der lukanischen Theologie ist in der exegetischen Diskussion so aufmerksam wahrgenommen und so breit diskutiert worden wie das des Umganges mit materiellen Gütern. Die Bandbreite der Aussagen, die sich nur mühsam auf einen Nenner bringen lässt, hat dabei zu ganz unterschiedlichen Interpretationen geführt: Bislang musste sich der Evangelist Lukas nahezu jede Vereinnahmung – vom weltflüchtigen Asketen bis hin zum Anwalt revolutionärer Umstürze – gefallen lassen. Literarkritik, Formkritik, Redaktionskritik und sozialgeschichtliche Exegese haben ihre Instrumentarien an der lukanischen Position zum Thema ›Armut‹ ausgiebig erprobt, gegenüber ihrer Praxisrelevanz jedoch immer eine gewisse Verlegenheit empfunden. Trotz der erschöpfenden Behandlung des Materials sind somit immer noch genug Fragen offen geblieben.
Die Dissertation von Hans-Georg Gradl nimmt das Thema mit Hilfe eines neuen methodischen Ansatzes in Angriff. Ihr Anliegen ist es zunächst, »den Text als bleibendes Medium der Kommunikation zu begreifen und jenen Strukturen des Textes nachzugehen, die den Eintritt des Lesers – und zwar jeden Lesers – ermöglichen« (23). Die besondere Stoßrichtung eines solchen Kommunikationsprozesses sieht G. in der Frage, was der Text bei seinem Lesepub­likum erreichen will, sofern man Sprache als »ein Moment des Handelns und außerhalb seiner nicht verständlich« (nach dem einleitenden Motto von J.-P. Sartre, 11) betrachtet.
Auf eine eigene forschungsgeschichtliche Übersicht zur Thematik von Armut und Reichtum bei Lukas verzichtet G. mit Blick auf andere bereits vorliegende Darstellungen bzw. auf Grund der disparaten Diskussionslage. Umso größere Sorgfalt verwendet er dafür auf die methodische Grundlegung seiner Untersuchung. Das erste Kapitel entfaltet auf 124 Seiten »I. Methodische Grundsätze und Leitlinien«. Daran schließt sich in den beiden folgenden Kapiteln die Exegese ausgewählter Texte an, wobei die Titel schon die wechselseitigen Korrespondenzen zwischen beiden Teilen des lukanischen Doppelwerkes andeuten: »II. Urbild und Lehre – das Lukasevangelium«, »III. Abbild und Entfaltung – die Apostelgeschichte«. Ein letztes Kapitel bündelt unter »IV. Sichtung und Ausblick« den Ertrag, der noch einmal die Methodenreflexion in den Mittelpunkt stellt. Zusätzlich zu Bibliographie, Autoren- und Stellenregister enthält der Band am Schluss ein Glossar mit sechs Begriffen, das vor allem noch einmal ein methodisches Ausrufezeichen setzt.
Der Anstoß für einen textpragmatischen Zugang zum Thema resultiert für G. weniger aus der Erschöpfung des bisherigen Me­thodenarsenals als vielmehr aus der Eigenart des Stoffes selbst: »Denn atmet nicht in gerade solch praktischen, auf das Leben und die Wirklichkeit gerichteten Themen wie Armut und Reichtum ein pragmatisches Potential, welches am ehesten noch eine pragmalinguistische, auf die Sprech-Handlungs-Komponente und die intendierten Effekte beim Rezipienten gerichtete Exegese zu heben vermag?« (24) Das einleitende Kapitel, das die ganze weitläufige Methodenlandschaft ausleuchtet, ist von einem integrativen Be­mühen geprägt: »Sprechakttheorie, Wirkungsästhetik, der kommunikative Prozess, die in den Text eingeschriebenen Figuren des Autors und Lesers, die Unbestimmtheitsstellen und Strategien, welche das Gewebe des Textes formen und für den Leser öffnen – sie geben ein Panorama jenes gemeinsamen und verbindenden, sich gegenseitig ergänzenden und auslegenden Landstrichs und Untersuchungsinteresses ab, das hier Textpragmatik genannt wird.« (95)
Dem methodischen Ansatz entspricht die konsequent synchrone Betrachtungsweise beider Teile des lukanischen Doppelwerkes. Die Textauswahl spiegelt indessen weniger die wechselseitigen Beziehungen als vielmehr den Versuch wider, jeweils repräsentative Texte unterschiedlicher Herkunft und Form in den Blick zu nehmen. Dabei spielt gleich der erste Textabschnitt eine besondere, für das gesamte Doppelwerk bedeutende Rolle: Das Vorwort (Lk 1,1–4) erscheint als eine »Anleitung zum Lesen«, in der die fundamentale Kommunikationssituation eingeführt und entwickelt wird. Den entscheidenden Haftpunkt für das Thema von Armut und Reichtum stellt darin die Widmung an Theophilos dar: Aus der Spannung zwischen dieser Oberschichtenperspektive und der im Folgenden entwickelten Parteinahme Jesu für die Armen erwächst eine pragmatische Dynamik, die von Anfang an alle Abgrenzungen sozialer Art in Frage stellt. Zugleich vermag der Name Theophilos bei den Rezipienten sein symbolisches Potential zu entfalten und die Haltung des Modell-Lesers gegenüber der Botschaft des Evangeliums zu skizzieren. Vom Vorwort aus erfolgt dann ein Blick auf die Struktur des Evangeliums im Ganzen, die jedoch nur einen »groben Aufriss« bzw. eine »erste Orientierung« für den Prozess des Lesens geben will. Damit verbindet sich eine Art Survey auf der Textoberfläche, der die wichtigsten themenrelevanten Passagen zusammenstellt.
Die Auswahl der zu behandelnden Beispiele ist auf zwei markante Einheiten begrenzt – auf ein Teilstück der Feldrede (Lk 6,20–38: Seligpreisungen und Feindesliebe) sowie auf die Beispielgeschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus (Lk 16,19–31). Sowohl die Seligpreisungen und Weherufe als auch die Aussagen zur Feindesliebe leben von einem Kontrastbild. Im Falle des prophetisch geprägten »selig« und »wehe« zielt die Pragmatik auf eine Identifikation, die jedoch nicht Armut und Reichtum an sich, sondern dem Umgang mit Mangel und Wohlstand gilt. Die »Undeutlichkeit« der angerissenen Situation nötigt zu konkretem Handeln in der eigenen Lebenssituation, also zur eigenständigen Füllung eines vom Text vorgegebenen Spielraums. Im Falle der paränetisch geprägten Aufforderung zur Feindesliebe, die hier als »Nagelprobe« einer allgemeinen Zuwendung zum Nächsten verstanden ist, zeichnet sich der allgemeine Rahmen für die konkrete Einstellung gegenüber materiellen Gütern ab. Die Aufforderung zur Nachahmung der Barmherzigkeit Gottes in Lk 6,36 macht schließlich Gottes Handeln »zum Prinzip und Erkennungszeichen der christlichen Gemeinschaft überhaupt« (218). Teil eines Kontrastbildes sind auch die Figuren in der Beispielgeschichte vom reichen Prasser und dem armen Lazarus, die sich in die große Sequenz von Lk 16,1–31 einfügt und darin als eine Art Gegenstück zur Parabel vom ungerechten Verwalter (Lk 16,1–8) fungiert. Die farbige Erzählung, deren Appellcharakter angesichts des erschreckenden »zu spät« an Dringlichkeit gewinnt, drängt vor allem durch ihr offenes Ende das Lesepublikum zur Entscheidung. Wiederum geht es nicht darum, sich mit dem Armen zu identifizieren, sondern den Handlungsimpuls zum sozialen Engagement aufzunehmen. Beide Texteinheiten zielen auf einen Adressatenkreis, der in der sozialen Oberschicht und gewiss nicht unter den Ersthörern des Evangeliums zu suchen ist. »Die geschilderten perlokutionären Effekte lassen eine entsprechende Vielfalt, einen deutlichen Übersetzungs- und Verwirklichungsspielraum erkennen.« (265) Es geht demzufolge nicht um die Präsentation eines Normenkatalogs, sondern um die Verwicklung des Einzelnen und seiner spezifischen Situation in einen vom Text ausgelösten Prozess.
Die Textauswahl zur Apostelgeschichte nimmt dieses Schema auf. Erneut wird das Vorwort als Leseanleitung interpretiert und sowohl für die Rückbindung an den ersten als auch für die Vorbereitung auf den zweiten Teil des Doppelwerkes fruchtbar gemacht. Die Gliederung des Makrotextes hat gleicherweise den Charakter einer Skizze und orientiert sich an dem Programmwort Apg 1,8. Dessen primär geographische Perspektive wird schließlich noch einmal als spiegelbildliche Entsprechung in Beziehung zur Anlage des Evangeliums gesetzt. Durch die Rückbindung an das Tun und Lehren Jesu im ersten Teil ist das Thema bereits impliziert, was zugleich die Erwartung seiner weiteren Entfaltung weckt. Ein Überblick über die relevanten Texte deutet wiederum die Streuung des Materials an.
Beide ausführlicher behandelten Beispiele sind dem Eingangsteil der Apostelgeschichte entnommen. Das erste betrifft die Gemeindesummarien in Apg 2,42–47 und 4,32–35. Das zweite greift die Erzählungen von Barnabas sowie von Hananias und Saphira als einer positiven und einer negativen Illustration auf. Beide Summarien führen zunächst »eine ideale Lösung und mustergültige Verwirklichung von Kernaussagen des Evangeliums vor Augen ...« (309). Dabei tritt unter den Elementen des Gemeindelebens vor allem jene Form der »Koinonia« in den Blick, die im Ausgleich von Gütern je nach Bedarf besteht. Das handlungsleitende Interesse richtet sich auf die Realisierung von Dtn 15,4 (»Es soll bei dir keinen Bedürftigen geben ...«). Als weitere Ko-Texte zieht G. noch die Sozialkritik der Propheten Israels und die Abhandlungen zum Freundschaftsideal in der hellenistischen Philosophie heran. Der stärkste pragmatische Impuls wird indessen durch den Bezug auf die beiden Episoden von Barnabas und von Hananias und Saphira gesetzt. Sie stellen ihre Leserschaft »vor die Verantwortung für das eigene Tun: Gott oder Mammon!« (389). Generell gilt aber auch hier: »Die Frage nach dem richtigen Verhalten gegenüber Besitz und Gut bleibt – wie schon im Evangelium – eingespannt und verwoben in das noch grundsätzlichere Anliegen, zum Glauben und zur Nachfolge zu bewegen.« (396) Und so, wie am Ende des Evangeliums ein neuer Anfang steht, fordert nun auch der offene Schluss der Apostelgeschichte die Adressaten auf, selbst in die Fortschreibung der Geschichte einzutreten und »dem Werk in der eigenen Existenz Leben und Dauer zu schenken« (414).
Am Ende weitet sich noch einmal der Horizont. Die Frage nach dem richtigen Umgang mit Besitz und Gut ist nur ein Teil der umfassenden intentio operis, zu deren Bestimmung G. zwei mögliche Rezeptionslinien benennt: das universale Evangelium der Verkündigung und das inklusive Evangelium der Zuwendung. In beide Linien ist die Haltung gegenüber materiellen Gütern als ein besonderes Element eingezeichnet. Hinsichtlich der inhaltlichen Zusammenfassung muss G. dann allerdings »eine gewisse Schwerfälligkeit« (425) konzedieren, die aus der angewandten Methodik folgt. Denn letztlich bleibt es hier bei dem Plädoyer für eine stärkere Beachtung der Textpragmatik in der Exegese. Die Konkretion wird der Leserschaft überlassen – was im Rahmen des textpragmatischen Ansatzes immerhin als konsequent erscheint. Die Exegese vermag nur Impulse freizulegen und Handlungsspielräume zu beschreiben, anstatt ein »kopierbares System« zu vermitteln. Es geht um Leitbilder, die das Lesepublikum in Bewegung setzen und zur Aktualisierung in neuen Lebenszusammenhängen veranlassen. Dennoch gibt es auch in sachlicher Hinsicht ein Ergebnis: Für Lukas »geht es weder um ein Askeseideal noch um eine grundsätzliche Verurteilung des Reichtums. Die Nachfolge, der Ausgleich, die Einheit und die Gemeinschaft werden zum verbindenden Element zwischen Arm und Reich« (439).
Der Gewinn dieser Untersuchung liegt darin, den Handlungsaspekt der lukanischen Aussagen zum Umgang mit materiellen Gütern fundiert herausgearbeitet zu haben, ohne sich dabei in Fragen ihrer Uneinheitlichkeit oder ihrer Realisierbarkeit zu verstri­cken. Letztlich bleibt aber dort, wo die pragmatische Analyse den Leserinnen und Lesern einen konstitutiven Part einräumt, für die Exegese nur der Ausblick im Konjunktiv: »Der Leser und der Text wären dann nicht länger vom Tun dispensiert und die Thematik nicht länger nur mehr neutral gegenüber der Lebenswirklichkeit...« (450) – ein Konjunktiv freilich, der (sicher ganz im Sinne des Lukas) zum weiteren Gespräch nicht nur einlädt, sondern nötigt.