Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

April/2009

Spalte:

420-422

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Tamcke, Martin

Titel/Untertitel:

Christen in der islamischen Welt. Von Mohammed bis zur Gegenwart.

Verlag:

München: Beck 2008. 205 S. m. Abb. u. 1 Kt. 8° = Beck’sche Reihe, 1765. Kart. EUR 12,95. ISBN 978-3-406-56819-0.

Rezensent:

Ludwig Hagemann

Martin Tamcke, Professor für Ökumenische Theologie an der Universität Göttingen, hat sich mit diesem Buch ein anspruchsvolles Ziel gesetzt: Er möchte »einen Zugang schaffen zum Verständnis der Christen im Orient, etwas von den spezifischen Bedingungen und Verhältnissen, Möglichkeiten und Grenzen christlichen Le­bens unter muslimischer Herrschaft vermitteln« (11).
Deswegen hat er gut daran getan, für den Leser zunächst die islamischen Rahmenbedingungen abzustecken, die mit der arabisch-islamischen Eroberung auf die Christen zukamen: Unter dem Dach des Islams zu leben, hieß für sie, auf der Grundlage der sog. Schutzverträge fortan sich »zwischen Toleranz und Demütigung« (24) einrichten zu müssen – als Bürger zweiter Klasse in einem muslimischen Gemeinwesen. Sie wurden »zu Fremden in ihren Heimatländern« (29). Dass diese Situation, einmal festgeschrieben, bis heute überall dort andauert, wo der Islam die staatstragende Macht darstellt, wirkt geradezu anachronistisch.
Der Untertitel »Von Mohammed bis zur Gegenwart« irritiert zunächst, lässt sich doch diese gewaltige Zeitspanne nicht in ein Taschenbuch pressen; ist auch nicht gewollt, versichert T., Selektion war geboten (12). Denn der Schwerpunkt der Arbeit liegt in der Situationsbeschreibung der Christen im Vorderen Orient, und zwar in jeweiligen Momentaufnahmen aus Geschichte und Gegenwart. Das erhöht die Spannung, der Leser muss sich auf je neue Verhältnisse und Umstände einstellen, wie die dort lebenden Christen auch. Abhängig vom islamischen Herrschaftsmonopol schwankte die ihnen zugestandene Freiheit zwischen Koexistenz und Repression mit leidvollen Folgen für die Psyche. T. spricht zu Recht vom »Dhimmi-Syndrom« (46).
Die große Vielfalt christlich-orientalischer Ethnien, Kulturen und Konfessionen kann verwirrend wirken auf westliche Leser. T. umschifft diese Klippe, indem er den Leser gemeinverständlich einführt in die Vielfalt christlicher Völker im Orient und deren Verhältnis zur islamischen Obrigkeit (62–93). Dass dieses Verhältnis sich auswirkte auf das theologische Gespräch mit Muslimen, darüber informiert exemplarisch das Kapitel »Interreligiöse Dialoge« (94–121). Die angeführten Beispiele unterstreichen zur Genüge, dass von einem Dialog zwischen Christen und Muslimen noch nicht gesprochen werden kann, allenfalls von einem vorsichtigen Austausch gegensätzlicher Positionen, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Es reichte offensichtlich, bestehende Grenzen zwischen beiden Religionen aufgezeigt zu haben.
»Fünfte Kolonie des Westens« oder »Motor der Modernisierung«? (122–151): Wie präsentierten sich die orientalischen Chris­ten? Sie waren nach T. sowohl das eine wie das andere: Einerseits mussten sie herhalten, um westliche Interessen im Orient durchzudrücken, andererseits forcierten sie auf Grund ihres kulturellen Niveaus die Modernisierung. »Wann immer sich orientalische Christen nach Gleichberechtigung sehnten, blieb und bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als für die Modernisierung ihrer Umwelt einzutreten. Und die ist für sie nicht zu haben ohne den Westen. Eine Emigration in den Westen ist nicht zwangsläufig ein ›Ja‹ zur Gesamtheit westlicher Lebenswelt, sondern nur zu den entscheidenden Merkmalen, ohne die man nicht mehr existieren will und denen man sich zugehörig fühlt« (150).
»Zur gegenwärtigen Lage der Christen im Orient« ist das fünfte und letzte Kapitel überschrieben (152–183). T. beleuchtet die Situation im Irak und Iran, im Libanon, in der Türkei sowie Äthiopien und Ägypten, allerdings zu rudimentär. Jordanien und Syrien bleiben ganz außen vor. T. ist der Meinung, dass in den Gesellschaften des Vorderen Orients die Idee des Nationalismus zur Marginalisierung des dortigen Christentums beigetragen habe.
Das Buch schließt mit einer Karte »Der christliche Orient« (184–185) und einer Übersicht über den Bevölkerungsanteil von Christen in islamischen Ländern (186–188). Anmerkungen und Literaturhinweise runden den Band ab (189–190).
T. ist ausgewiesener Kenner kirchlicher Verhältnisse im Nahen Osten. Er weiß um die schwierigen Lebensumstände der orientalischen Christen unter islamischer Herrschaft, auch um ihren kulturellen Beitrag für ihre orientalische Umwelt. Mit viel Sachverstand führt sein Buch ein in die komplexe Wirklichkeit der Christen dort, die als Minderheit ein beredtes Zeugnis dafür sind, dass der Vordere Orient nicht immer schon die Domäne des Islams gewesen ist. – Dass die derzeitige Situation der Christen im Nahen Osten mehr als problematisch ist, wird überdeutlich. Immer mehr ver­suchen auszuwandern, allen voran irakische (und libanesische) Chris­ten, deren Leib und Leben nicht selten bedroht sind.
Die von Muslimen gerühmte Toleranz des Islams, so zeigt T. auf, hat ihre Grenzen, da sie nur diejenigen betrifft (von den Schriftbesitzern), die sich den sog. Schutzverträgen unterwerfen. Zudem hängt sie vom Wohlwollen der jeweils Herrschenden ab. Hier liegt noch ein weites Diskussionspotential vor uns, wenn es um einen Dialog zwischen Christen und Muslimen gehen soll, der diesen Namen verdient.
Das von T. vorgelegte Buch erweist sich als solide Einführung in das orientalische Christentum und seine Lebensumstände unter islamischer Herrschaft. Seine Zielvorgabe, Zugang zum Verständnis der Christen im Orient zu schaffen, hat T. erreicht.