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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

414-418

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Kusche, Karl-Josef

Titel/Untertitel:

Juden – Christen – Muslime. Herkunft und Zukunft.

Verlag:

Düsseldorf: Patmos 2007. 683 S. 8°. Geb. EUR 29,90. ISBN 978-3-491-72500-3.

Rezensent:

Friedmann Eißler

Das anzuzeigende magnum opus des an der Tübinger katholisch-theologischen Fakultät lehrenden Ökumeneforschers ist der erste große Wurf einer konsequent trialogischen Lektüre der Heiligen Schriften der abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam, gleichsam die erste umfassende Erkundung des Terrains einer Theologie des Trialogs aus den Ur-Kunden unter breiter Berücksichtigung ihrer vielfältigen Wirkungsgeschichte(n). Der ausführliche, die wissenschaftliche Sorgfalt ausweisende Literatur- und Anmerkungsapparat nebst Personenregister im Anhang be­einträchtigt nicht die leichte Lesbarkeit und Zugänglichkeit des Buches, das sich auf weite Strecken im Vortragsstil, ja als Teil eines Gesprächs nicht ohne rhetorische Redundanz und Originalität an eine breite, theologisch interessierte Leserschaft richtet. (Auch das ausführliche Inhaltsverzeichnis steigert die Benutzerfreundlichkeit.) – Erklärtes Ziel ist die Anleitung »Vom Konfrontations- zum Beziehungsdenken«, so auch die Überschrift von Teil I. Und dies trialogisch, dem Vermächtnis Leo Baecks verpflichtet, Respekt voreinander zu lernen im Bewusstsein der Teilhabe an der einen Menschheit. Juden, Christen und Muslime sollen ihre Identität als Angehörige einer eigenen prophetisch orientierten Glaubens- und Weggemeinschaft vor und zu dem einen Gott (110.443.540 f.) nicht gegeneinander ausspielen, sondern als »einander ergänzende« Vielfalt verstehen.
Es sind die großen biblischen Gestalten Adam, Noach, Mose, Jesus/Maria und Abraham mit ihren jeweiligen Traditionskomplexen (Teile II–VI), anhand derer K. das »vernetzte Denken« einübt, das über Solidarität und politische Stellungnahmen hinaus der Vernetztheit der Religionen und Kulturen Rechnung tragen soll, indem es zur theologischen Anerkennung des je Anderen durchdringt. Identitätsgewinnung nicht durch Abgrenzung, sondern in Relationalität zum Anderen, dessen Existenz vor Gott aus der Perspektive der jeweils eigenen legitimen Glaubenszeugnisse heraus mitbedacht wird – das ist der Anspruch.
Diese Relationalität wird etabliert durch methodische Perspektivwechsel, die Unterschiede keinesfalls nivellieren oder gar negieren sollen, sondern im Sinne der Dignity of Difference (Jonathan Sacks) das jeweilige Selbstverständnis gerade möglichst adäquat erfassen und in das Beziehungsdenken einbeziehen wollen. So ergibt sich im Wesentlichen die Gliederung der Hauptteile (zu Jesus/Maria und Abraham abweichende Verfahren): Ein erstes Kapitel (»Zeitspirale«) sammelt, ordnet, erzählt den »Urstoff« der Glaubensgeschichte(n) auf der Basis bibelwissenschaftlicher Erkenntnisse noch einmal. Kapitel 2 interpretiert jeweils ausführlich die »Spiegelungen der großen Stoffe im Koran«. Auch wenn man hier methodisch nachhaken muss (warum nicht: ... im Islam? s. u.), ist das große Verdienst hervorzuheben, dass K. die Korantexte nicht nur umfassend darbietet, sondern sie in enger Verschränkung mit Parallelen, intertextuellen Bezügen und Divergenzen und vor allem in chronologischer Reihenfolge interpretiert. Allein dies wird das Werk für viele zu einem Handbuch werden lassen, das einen fruchtbaren Erstzugang zu den Korantexten erschließen kann.
Die weiteren Kapitel erarbeiten das spezifisch Jüdische und das spezifisch Christliche, um schließlich die Ergebnisse aufeinander zu beziehen und nach Konsequenzen für den praktischen Dialog zu fragen. Der praxisorientierte Charakter zeigt sich auch darin, dass K. durchgehend mit einer Fülle von Beispielen aus der jüngeren und jüngsten Geschichte interreligiöser Begegnungen wie auch aus Kunst, Literatur und Wissenschaft (Thomas Mann, Leo Baeck, Jan Assmann u. a.) aufwartet und so Trialog auf der Höhe der Zeit formuliert. Unter griffigen Thesen etwa zur adamitischen, zur noachidischen und zur abrahamischen Ökumene werden große Topoi der Theologie verortet wie Schöpfung, Anthro­pologie, Christologie, Ethik. Dabei entstehen zum Teil eigene aufschlussreiche Durchgänge zu Themen wie Menschenwürde, Men­schenrechte, Völkerrecht, Menschheitsethos, die eine be­mer­kenswerte Zusam­men­schau der abrahamischen Traditionen in hoher Aktualität bieten.
Zu den Voraussetzungen des Trialogs zählt K. ein Verständnis der Asymmetrie der Heiligen Schriften, die er freilich dahingehend reflektiert, dass er methodisch und theologisch den Koran als Ausgangspunkt wählt und damit das »Ende eines Glaubensprozesses«, »der mit Abraham begann, durch Mose und Jesus neu ausgerichtet und durch Mohammed zu einem Abschluss gebracht ist« (110). Damit klingt eine grundlegende Weichenstellung an, die tatsächlich islamisch kaum anders formuliert werden würde. Wenn darüber hinaus der Koran als Maßstab dafür gilt, wann »ein trilateraler Konsens gegeben« ist (110), so fragt sich einerseits, ob hier gegen alle Beteuerung nicht doch ein reduktionistisches Verfahren zum Zug kommt, das unter Preisgabe des jeweiligen systematischen Zusam­menhangs eine wertende Partitionierung der Tradition im Sinne einer Konsenshermeneutik vornimmt. Denn wie soll man sich auf diesem Wege einen »trilateralen Konsens« vorstellen? Wäre etwa in Bezug auf Abraham schon allein die Aussage »Abraham ist bereit, seinen Sohn zu opfern« ein trilateraler Konsens – unabhängig von der Art des Befehls, der Identität des Sohnes, der Art des vorgesehenen Opfers, der Bezogenheit auf die Israelverheißung etc.? Oder, um bei Abraham zu bleiben: Ist die »abrahamische Hingabe«, das »Wissen um das Risiko des Gottvertrauens«, das »Loslassen« und »Aufbrechen aus dem Alten« trilateraler Konsens – ohne sich Re­chenschaft darüber abzulegen, was denn die wohlklingenden Formeln jeweils konkret meinen (wodurch man jenseits von allgemeinmenschlichen religiösen Erfahrungen auf durchaus kontroverse Inhalte stieße)? Oder wird hier doch, was für den Dialog als zu sperrig oder gar widerständig erscheint, gleichsam des gemeinsamen runden Tisches verwiesen und durch eigene, geschmeidigere Diskurselemente ersetzt, die das friedliche Miteinander nicht stören? Es fällt jedenfalls auf, dass zwar von Differenzen und vom eigenen Profil die Rede ist, diese aber ganz allgemein gehaltenen, eher vage formulierten Gemeinsamkeiten untergeordnet bleiben. So bleibt die »Teilhabe an Glaubenserfahrungen der je Anderen« prioritär, manchmal wirkt es fast banal: Man will »Grunderfahrungen des Menschlichen vor Gott teilen« (198), »Aufbrüche wagen« (621), alle Sicherheiten hinter sich lassen. Auf der Ebene solcher Unverbindlichkeit lässt sich fraglos eine Menge Gemeinsamkeiten verzeichnen.
Andererseits fällt auf, an wie vielen Stellen K. sich zumindest im Grundsatz islamische Positionen zu eigen macht. Dies gilt in unterschiedlichem Maße für die koranische Perspektive wie für die Grundzüge des Koranverständnisses (96 ff.), für die Interpretation des Imago Dei-Konzepts (170: die koranische »Stellvertreter«-Rede sei im Vergleich zur biblischen die »angemessenere, weil Anthropomorphismus von vornherein vermeidende Auslegung der ›Abbild‹-Rede«) ebenso wie für die nachparadiesische adamitische Existenz (188) sowie für die Überwindung der Sünde (»Entfremdung«) durch »Neuausrichtung« (201, womit an anderer Stelle der koranisch-soteriologische Begriff der »Rechtleitung«, huda, wiedergegeben wird, vgl. 178). Selbst in Bezug auf die Kreuzigungsleugnung des Korans sieht K. einen »prinzipiellen Konsens« mit dem Neuen Testament, denn sie beziehe sich auf die Anfeindung Jesu durch Zeitgenossen, die neutestamentlich bestätigt werde (508)! Der Koran schließlich erkläre »das Evangelium« (islamische Diktion) nicht für ungültig, sondern wolle die Christen auf den richtigen Weg führen (533).
Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Tendenz zur Selbstzurücknahme und Selbstkritik, sobald es um christliche Inhalte geht. Eigenartig, dass K. den Anschein erweckt, gerade im Blick auf spezifisch Christliches die »ganzen Schwierigkeiten« bekennen oder »energisch eine theologische Neubesinnung« fordern zu müssen (513). Gewiss, honorig ist Selbstkritik, aber sie nimmt hier gelegentlich geradezu den Klang einer Entschuldigung an (man vergleiche nur die Einführung zu Paulus, 181 ff.). Sicher wird »einfach drauflosbekennen« die Alternative nicht sein (513). Dennoch ist es schade, dass für einen Autor dieses Formats das Zeugnis des (eigenen) Glaubens offenbar in erster Linie »ein schwieriger Prozess« ist (519). Ein Zeugnis eigener Art dafür ist der pathetische Epilog mit seiner Empörung über die Art der christlichen Präsenz in der Moschee in Córdoba, worauf hier eben nur hingewiesen werden soll.
Beides (islamisierende Kontextualisierung und Christentumskritik) kommt zusammen in den zentralen Fragen der Christologie ebenso wie auch der Hamartiologie. In Bezug auf Letztere ist eine eklatante Vermischung von christlichen und islamischen Theolo­gumena zu verzeichnen (vgl. nur 201 f.), nirgends ist K. freilich auch von einer evangelisch verantwortbaren Theologie weiter entfernt als im Kontext der Einschätzung der Sünde und ihrer Überwindung (203!). Wollte man es pointiert formulieren, so könnte man von einer »Islamisierung« des Trialogs sprechen – und läge hinsichtlich der vorgetragenen christologischen Kritik am wenigsten falsch.
Dialog sei kein Austausch von Nettigkeiten, betont K. immer wieder. Trinitarische Reflexion wäre ein anspruchsvolles Thema in dieser Hinsicht, gehört für ihn jedoch offensichtlich nicht zum Kern christlichen Glaubens und scheint daher schlicht verzichtbar. In bester trialogischer Absicht wird hier der Theologe zum Religionswissenschaftler, der im koranischen Jesus – freilich Grundlinien der islamischen Theologie verfehlend – die »Repräsentation Gottes in seiner Person und in seinem Wirken« erkennt (520), dies für kompatibel mit christlichen Grundaussagen hält und deshalb im Anschluss an M. Bauschke von einer koranischen Christologie reden kann. Christen könnten das vere homo des Korans »mit Zustimmung hören«, sie dürften Jesus gegen alle »vulgär-christlichen Vergöttlichungstendenzen« nicht vergöttlichen (ebd.). Mit scharfer Kritik reagiert K. auf das Jesus-Buch des Papstes (530), dem er diesbezüglich die Reduktion auf eine einzige dogmatische Formel vorwirft. Die Rede von der Gottheit Christi sei ein kulturgeschichtlich bedingtes Phänomen 300 Jahre nach Jesu Tod. Die eigene Reduktion auf eine jüdisch bzw. islamisch akzeptable Prophetologie hingegen wird nicht nur als trialogischer Fortschritt gepriesen, sie gipfelt in der Mahnung: »Im Trialog haben Christen darauf zu achten, dass ihr Bekenntnis zu Jesus Christus als ›Gottessohn‹ und Herrn nicht die Einheit und Einzigartigkeit Gottes gefährdet.« (532) In islamischer Diktio n– ›Gottessohn‹ in Anführungszeichen und tauhid als Voraussetzung für den Dialog! – werden hier Beschränkungen sichtbar, die plötzlich gesonderte Trialogreservate ahnen lassen, in denen sich doch bitte nur die recht Eingestimmten treffen sollten. Wo haben denn Christen, so möchte man fragen, durch das biblische Christusbekenntnis je die Einheit und Einzigartigkeit Gottes gefährdet, wenn es denn trinitarisch eingebettet und nicht tritheis­tisch missdeutet war?
So nimmt es am Ende nicht wunder, dass wie das Judentum bundesgeschichtlich so der Islam auf Grund des Segens Ismaels und Hagars segensgeschichtlich zu verstehen sei (617); ja, der Islam sei Zeichen des geschichtlichen Wirkens »von Gottes Geist, der auch der Geist Jesu Christi ist« (619). Denn es gelte für die Deutung »der weiteren Welt- und Religionsgeschichte« nach Christus und nach der Sendung des Geistes, dass sie eine Geschichte »mit und durch Christus« ist. Unter dieser Perspektive wird eine Frage virulent, die die gesamte Lektüre des Buches begleitet: Was ist dann mit all den unerwähnten nichtabrahamischen Religionen und religiösen Be­wegungen, den Baha’í, den Mormonen, den Zeugen Jehovas und so fort, ganz zu schweigen von der Vielfalt neureligiöser Strömungen östlicher Provenienz?
Zusammengefasst: Der große Promotor einer »abrahamischen Ökumene« stellt das Projekt des Trialogs durch dieses Buch auf eine enorm erweiterte und fundierte Basis, die religionstheologisch reflektiert und praxisbezogen einen systematischen Leitfaden an die Hand gibt, an dem sich künftige Entwürfe orientieren werden. Er entfaltet vor unseren Augen ein faszinierendes Gemälde der produktiven Verarbeitungen, intertextuellen Verflechtungen und dialogischen Vernetzungen der biblischen Urstoffe durch die Glaubensurkunden der abrahamischen Religionen bis in unsere Zeit.
Die crux der Unternehmung liegt in dem, was nicht gesagt wird. Die religionstheologische Option der Komplementarität, die K. voraussetzt und die dem bekannten buddhistischen Elefantengleichnis entspricht, wird an keiner Stelle hinsichtlich ihrer erkenntnistheoretischen und theologischen Implikationen thematisiert. Es wird nicht offengelegt, dass ihre Grundannahmen mit guten Gründen religionstheologisch bestritten worden sind. Um nur an eine Schwierigkeit zu erinnern: Die behauptete Konvergenz in der Transzendenz bedarf einer Metakonstruktion, insofern sie – im Elefantengleichnis gesprochen – das Postulat des Sehenden ist. Diese Position ist uns nicht gegeben. Sie übersteigt die Differenzen auf eine übergeordnete Einheit hin, die im Dialog allein Gegenstand des Glaubens und der Hoffnung sein, nicht aber zur schlichten Koordination und damit Nivellierung der Differenzen anleiten kann.
Seinem Anspruch, neben den Gemeinsamkeiten die Differenzen und Divergenzen ernst zu nehmen, wird K. daher nur ansatzweise gerecht, insbesondere im Hinblick auf den Islam. Er ist in diesem Buch ein zurechtgelegter, »westlich« gelesener Islam. Die dezidiert literaturwissenschaftlich intertextuelle Lektüre der Korantexte gleichsam mit westlicher Brille, die muslimischerseits allenfalls liberale reformerische Interpretationen einbezieht, jedoch die ge­samte islamische Auslegungstradition (die ebenjene Divergenzen bis heute bestimmt) als »Selbstimmunisierung« einer »traditionalistischen muslimischen Koranologie« diffamiert (91) und komplett ignoriert, kann nicht leisten, was das Gesamtwerk suggeriert: ein wirklich realitätsbezogenes Gespräch, das nicht mit einem idealen Islam oder dem schmalen Segment einer europäisierten Dialogelite zu führen ist, sondern mit den vitalen Glaubens- und Lebensweisen, die die islamische Welt bis heute prägen und auch hierzulande nicht ohne Einfluss sind. Bei aller Hochachtung vor der bahnbrechenden Leistung dieses Werkes: Einige der entscheidenden Aufgaben eines künftigen Trialogs sind damit erst angezeigt.