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Ausgabe:

April/2009

Spalte:

411-413

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Brandes, Wolfram, u. Felicitas Schmieder

Titel/Untertitel:

Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2008. XIX, 432 S. m. Abb. gr.8° = Millennium-Studien; Millenium Studies, 16. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-018621-5.

Rezensent:

Klaus Hock

Nur mittelbar ergibt sich der Zusammenhang von »Millenium-Studien« und dem Thema dieses Bandes – »Endzeitvorstellungen«. Denn der Gegenstandsbereich der »Studien« – Kultur und Ge­schichte des ersten Jahrtausends – ist nicht auf Endzeitvorstellungen beschränkt, und umgekehrt finden sich diese auch in anderen historischen Phasen. Tatsächlich fällt dieser Band aus der Reihe insofern heraus, als er den Blick über die Christentumsgeschichte hinaus auf eschatologische Vorstellungen in den monotheistischen Weltreligionen richtet und sich dabei auch nicht auf die erste Jahrtausendwende christlicher Zeitrechnung begrenzt. Entsprechend thematisiert der Band – wie auch die ihm zu Grunde liegende Tagung, die im Frühjahr 2005 in Frankfurt am Main stattfand – »das Problem der christlichen Endzeiterwartung der ersten anderthalb Jahrtausende« (VIII), genau besehen sogar der ersten 17 Jahrhunderte. Dennoch bleibt das Jahr 1000 n. Chr. auch für diesen Band der Achsenpunkt, auf den die Beiträge fokussiert sind. Programmatisch wird bezweckt, die in der Forschung bislang vorherrschende einseitige Wahrnehmung, die vornehmlich auf den »christlichen Westen« beschränkt war und weder das Byzantinische Reich noch die ab dem 7. Jh. unter islamische Herrschaft geratenen Kirchen des »christlichen Ostens« angemessen berücksichtigt hatte, einer Korrektur zu unterziehen. Die nicht nur geographische, sondern auch religionsgeschichtliche Ausweitung der Perspektive auf Judentum und Islam hat sich somit gleichsam organisch ergeben. Doch noch etwas macht diesen Band bemerkenswert – obgleich es gewissermaßen auf der Hand liegen sollte: seine aktuellen Gegenwartsbezüge, die gleich im ersten Beitrag des kanadischen Mittelalterhistorikers Andrew Colin Gow aufgezeigt werden. So umständlich der Titel dieses Beitrags formuliert ist, so überzeugend wird sein Inhalt entfaltet, der in der gegebenen Kürze selbstverständlich skizzenhaft bleiben muss, aber in einem großen Bogen historische Zusammenhänge zwischen antiken und gegenwärtigen Endzeitbildern aufzeigt. Auf diese Weise wird prägnant vor Augen geführt, von welcher aktuellen Relevanz die Beschäftigung mit vermeintlich fernen, vergangenen, überwundenen und vergessenen Endzeitvorstellungen ist: Das fremd Gewordene entwickelt gerade dann seine Wirkmächtigkeit, wenn es nicht mehr gewusst und erkannt wird, und kann seine destruktiven Potentiale vornehmlich in einer Situation entfalten, in der die den Endzeitszenarien zu Grunde liegenden Motive unverstanden bleiben. »(D)as hochriskante Gefahrenmoment ›eschatologisches Ge­dankengut‹, wo immer möglich, nicht zu übersehen, öffentlich zu machen und auf seine Gefahren hinzudeuten« (12), gehört somit nicht nur in das Feld der politischen Auseinandersetzung, sondern ebenso in den Bereich wissenschaftlicher Verantwortung. Auch die Mediävistik offenbart sich vor diesem Hintergrund als eminent gegenwartsbezogene Wissenschaft.
In diesem Sammelband finden sich insgesamt 20 Einzelbeiträge, die aus verschiedenen Disziplinen stammen und somit ganz spezifische Forschungstraditionen repräsentieren, in denen durchaus unterschiedliche Gegenstände verhandelt werden. Die der Publikation zu Grunde liegende Tagung war so tatsächlich im besten Sinne interdisziplinär und hat zweifelsohne dem von den Herausgebern in der Einleitung bekräftigten »transdisziplinären Anliegen« (VIII) Rechnung getragen, wenngleich dieses wohl auf der Konferenz selbst stärker zum Tragen gekommen sein mag, als es in der veröffentlichten Form der Fall sein kann. Hierzu bleiben die einzelnen Beiträge dann doch zu sehr Einzelbeiträge, deren Bezug aufeinander und Verbindung miteinander bis auf wenige Ausnahmen – wie ebenjenen »Grundsatzartikel« von Gow, der die Zusammenhänge deutlich werden lässt – sich nicht automatisch aufdrängen und auch in den einleitenden Bemerkungen nur an­satzweise hergestellt werden können.
Vier Beiträge sollen exemplarisch herausgegriffen werden, um zu verdeutlichen, worin der akademische »Mehrwert« der Frankfurter Konferenz besteht.
Gerrit J. Reininks Aufsatz arbeitet anhand ausgewählter Quel­lentexte akribisch heraus, wie zwei Genres – apologetische und apokalyptische Literatur – zunächst nebeneinander tradiert wurden und weshalb sie später zu einer Gattung zusammenfließen konnten: »although the apocalyptic texts … chronologically precede the apologetic texts, both genres … represent two sides of the same picture: the reinforcement of their own community against the religion of the rulers« (86). Dieser Prozess lässt sich an der Legende des Mönchs Bah.īrā, der Mohammed als Propheten identifiziert haben soll, illustrieren. Zur Abbasidenzeit wird diese Überlieferung in syrisch-christlicher Tradition zu einem Text, der endzeit­liche Aussagen mit theologischer Disputation verknüpft und vornehmlich vor dem Hintergrund zunehmender Bedrängnis der christlichen Kirchen durch muslimische Herrscher zu lesen ist. Ironischerweise bildet die Bah.īrā-Legende so bei aller völlig unterschiedlichen, konträren Rezeption in Christentum und Islam einen gemeinsamen Bezugspunkt zwischen beiden Religionen.
Wout Jac. van Bekkum spürt am Beispiel der Vorstellung von den vier Weltreichen der Überlieferung und dem Wandel apokalyptischer Traditionen nach. Der aus dem Danielbuch stammende Topos wird in der frührabbinischen Literatur weiterentwickelt und erhält so nach und nach zwar in der liturgischen Dichtung seinen Ort, findet aber keinen Eingang ins rituelle Gebet. Trotz dieser formalen Verfestigung in der jüdischen Hymnographie behielten die darin tradierten eschatologischen Bilderwelten insofern ihre Flexibilität, als sie in re-interpretierter und aktualisierter Form immer wieder auf neue politische Konstellationen angewandt werden konnten: »When the fifth or even eighth kingdom was understood as a new oppressor of Israel, Muslim rule was generally as­signed the former Byzantine role and adapted into the scheme of the four or double four kingdoms« (118). Diese Endzeitvorstellung erreichte im 7. Jh. angesichts der geopolitischen Kon­fron­ta­tion zwischen Byzanz, Persien und dem aufstrebenden ara­bi­schen Reich einen ersten Höhepunkt, hielt sich dann über viele Jahrhunderte und fand neue Aktualisierung im Spanien des 15. Jh.s, kurz vor der Vertreibung der Juden im Zuge der Reconquista.
Mehrere Artikel befassen sich mit Endzeiterwartungen im by­zantinischen Reich, wobei der Beitrag des Byzantinistikers Paul Magdalino den augenblicklichen Forschungsstand unprätentiös zusammenfasst und einen kurzen Überblick über die Entwicklung apokalyptischer Vorstellungen im östlichen Christentum gibt. Er kann aufzeigen, dass es zwar einige Gemeinsamkeiten zwischen »westlichen« und »östlichen« Endzeitszenarien gab – den Gedanken einer sechs oder sieben Phasen durchlaufenden Weltgeschichte, die Gestalt des Antichristen, oder das Konzept eines mit der Inkarnation eröffneten Zeitalters, dessen Ende nahe bevorsteht –, dass jedoch auch eine Reihe signifikanter Unterschiede bestanden, die im Laufe der Zeit immer deutlicher zu Tage traten. Diese betrafen bereits das chronologische Schema, nach dem Osten und Westen die verbleibende Zeit einzuteilen versuchten, aber mehr noch die Zeichen des nahenden Endes – in Byzanz waren es solche, die auf den Untergang Konstantinopels hinzuweisen schienen – und konträre Auffassungen darüber, wie schnell das Weltende hereinbrechen werde, nachdem die römisch-katholische Konzeption des Purgatoriums im westlichen Christentum diesbezüglich zu einer »Entschleunigung« geführt hatte. Im Rahmen der eigenständigen Entwicklung byzantinischer Endzeitvorstellungen verdichteten sich ab Ende des 13. Jh.s apokalyptische Erwartungen, die primär die Erfahrung zunehmender Desintegration des byzantinischen Reichs widerspiegelten; die Zerstörung der Kuppel und der Apsis der Hagia Sophia infolge eines Erdbebens im Jahre 1346 schien diese Befürchtungen eindrucksvoll zu bestätigen.
Der Religionswissenschaftler David B. Cook untersucht in seinem Beitrag islamische Endzeiterwartungen im Kontext des Mongolensturms. Die skrupulöse Analyse legt das Wechselspiel zwischen historischen Ereignissen und darauf reagierenden apokalyptischen Deutungen offen, wobei die Re-Interpretation des ḥadīṯ für die Ausbildung der Endzeiterwartungen von besonderer Be­deutung war und schließlich die Wahrnehmung der Ereignisse so stark färbte, dass sich die Frage nach der Zuverlässigkeit des historiographischen Materials aus der Hand muslimischer Autoren stellt: »to what extent can one rely upon the historians of this time? It may very well be that their descriptions of the Mongols were made to be in accordance with the well-known descriptions of Gog and Magog in order to communicate their horror at the mass destruction wreaked by the Mongols upon the Muslim world« (311). Doch das Gewicht der konkreten historischen Erfahrung wiegt am Ende doch bei Weitem schwerer als der Referenzrahmen endzeitlicher Überlieferungen: »The apocalyptic identifications there gave a context to their depredations, but faded quickly from the literary and historical materials after the Mongols had passed from the scene« (312).
Die Ausleuchtung der bislang völlig unterbelichteten – glei­chermaßen eigenständigen wie im ständigen Austausch mit dem »christlichen Westen« entfalteten – Endzeitvorstellungen im by­zantinischen Reich; die Einbeziehung je spezifischer, aber ebenfalls verschränkter und sich gegenseitig befruchtender apokalyptischer Traditionen in den drei miteinander verbundenen und aufeinander bezogenen monotheistischen Religionen – Judentum, Chris­tentum und Islam; und die Herstellung eines reflektierten Bezugs zwischen der Arbeit am historischen, sprachlich wie religionsgeschichtlich vielfältigen, zum Teil disparaten Quellenmaterial und dem gegenwärtigen Kontext, in dem Endzeitszenarien noch (und wieder) en vogue sind – vornehmlich in diesen drei Aspekten lässt sich jenseits des Verdienstes der einzelnen Fachbeiträge der akademische »Mehrwert« der Frankfurter Tagung in ihrer publizierten Form bemessen. Einige kurze Notizen zu den Autorinnen und Autoren hätte dabei geholfen, den Horizont und die Reichweite des transdisziplinären Anliegens auch aus den Arbeitsgebieten der Beitragenden und dem durch sie repräsentierten Fächerspektrum etwas konkreter erkennbar werden zu lassen.