Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

März/2009

Spalte:

381-383

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Tschiftdschjan, Ischchan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Stimmen aus Deutschland. Zum 90. Gedenkjahr des Völkermordes an den Armeniern 1915–2005. Antworten, Aufsätze, Essays, Reden, armenische Augenzeugenberichte. Mit einem Geleitwort v. S. H. Aram I. Katholikos des Großen Hauses von Kilikien.

Verlag:

Antelias-Libanon: Druckerei des Armenischen Katholikosats des Großen Hauses von Kilikien 2005. 417 S. gr.8°. Kart. $ 15,00. ISBN 3-00-017182-7.

Rezensent:

Stefan Reichelt

Gemeinsam mit dem damaligen Studenten der evangelischen Theo­logie in Leipzig Ischchan Tschiftdschjan, Absolvent des Seminars des Armenischen Katholikosats des Großen Hauses von Kilikien in Bikfaja/Libanon (Studium der Armenologie und Theologie) und derzeitiger Promovend am Institut für Philosophie der Universität Leipzig, entwickelte der armenische Katholikos des Großen Hauses von Kilikien S. H. Aram I. die Idee dieser Publikation und förderte ihr Reifen. Ziel der »Stimmen aus Deutschland« ist das Gedenken des Völkermordes an den Armeniern, dem unschätzbare Kulturgüter und wohl 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fielen.
Einem Geleitwort seiner Heiligkeit Katholikos Arams I. (11–14) und einleitenden Bemerkungen folgen Antworten von Publizisten und Wissenschaftlern auf im Eingangsteil (27 f.) gestellte Fragen. Sechs Aufsätzen (147–214) schließen sich neun Essays an. Den Reden von Wolfgang Huber und Helmut Donat (285–297) folgen sechs aus dem Armenischen ins Deutsche übersetzte, das Geschehene un­mittelbar vergegenwärtigende Augenzeugenberichte. Ein An­hang, bestehend aus deutschen Lesern zum Teil erstmals in Buchform zugänglich gemachten Dokumenten kirchlicher und kultureller Organisationen sowie Bundestagsdokumenten (ab 371), beschließt das Gedenkbuch.
Das Forschungsfeld bestimmen u. a. die Arbeiten von Uwe Feigel (Das evangelische Deutschland und Armenien: Die Armenierhilfe deutscher evangelischer Christen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Kontext der deutsch-türkischen Beziehungen, Göttingen 1989), Tessa Hoffmann (Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Christen im Osmanischen Reich 1912–1922, Münster 2004), Hans-Lukas Kieser und Dominik Schaller (Der Völkermord an den Armeniern und die Shoa, Zürich 2002), Axel Meissner (Martin Rades »Christ­liche Welt« und Armenien: Bausteine für eine internationale politische Ethik des Protestantismus, Halle-Wittenberg 2001) und Martin Tamcke (Armin T. Wegner und die Armenier: Anspruch und Wirklichkeit eines Augenzeugen, Hamburg 1996).
Geleistet wurden ebenso die sachthematische Erfassung und Publikation der Dokumente und Zeitschriften des Dr.-Johannes-Lepsius-Archivs Deutschland, Armenien und die Türkei 1895–1925 in den Bänden I (Katalog), II (Mikrofiche-Edition der Dokumente) und III (Thematisches Lexikon zu Personen, Institutionen, Orten und Ereignissen) sowie ihre Edition in München bei K. G. Saur durch Hermann Goltz in den Jahren 1998 bis 2004. So liegen wesentliche Quellen vor. Zu den Publikationen kommen Tagungsbände von Armenologenkongressen, die Zeitschrift Deutsch-Armenische-Korrespondenz u. a. hinzu.
Wenn auch mit deutlicher Verzögerung, hat sich doch die wissenschaftliche Erforschung des Völkermords an den Armeniern hierzulande in den letzten Jahren erheblich entwickelt. So ist es dem geneigten Leser möglich, sich vorläufig zu informieren. Desiderata sind etwa in der Untersuchung der deutsch-armenischen Beziehungen vor allem an der Wende vom 19. zum 20. Jh. und der Beteiligung des deutschen Militärs am Völkermord zu sehen, worauf Hans-Walter Schmuhl in seinem Aufsatzbeitrag Deutschland, Armenien und die Türkei. Anregungen zu einem kritischen Dialog unter Historikern (158–166, bes. 161–165) eindrücklich hinweist. Auch die Haltung der Kirchen sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen – etwa im Verhältnis zum Lebenswerk von Pfarrer Dr. Johannes Lepsius – ist bislang lediglich in einigen Facetten erhellt worden und bedarf weiterer eingehender Untersuchungen, worauf im Beitrag »Erinnern um der Versöhnung willen«. Erklärung des Rates der EKD zum Völkermord an den Armeniern (376–378, hier 377) hingewiesen wird.
Das Buch bringt das Geschehene »... uns deutschen und europäischen Leserinnen und Lesern in einer Weise nahe ..., die Empathie weckt und ein differenziertes Urteil ermöglicht, die Trauer an der Kunst der Darstellung auslöst und zugleich Trauer über vieles, was dargestellt wird« (Bischof Huber, 292). Der Band führt mit seinen verschiedenen Aspekten und Facetten den Lesern das Geschehene neu vor Augen und hilft, die empfindliche Kränkung der Erinnerungsgemeinschaft, die Leugnung des Genozids, die zweite Tö­tung, zu heilen. Möge er dazu beitragen, die Gewissheit weiter reifen zu lassen, dass das Erinnern an das schwer Vorstellbare in immer neuen Formen grundlegend für christliche Identität ist und auch in Deutschland Selbstverständlichkeit wird. Bisher neu und einzigartig ist die große Breite und Vielfalt der eindrücklichen, meist gut nachvollziehbaren Erlebnis- und Sichtweisen, die den Leser auf dem Weg der Entwicklung und Differenzierung eines eigenen Verhältnisses zum Beschriebenen begleiten.
Dem Herausgeber, dem Großen Haus von Kilikien und allen Mitwirkenden wird für das Sammeln und Zusammenstellen aller Beiträge, Dokumente und Zeugnisse gedankt. Mögen die Stimmen aus Deutschland an vielen Orten wahrgenommen werden und den Klang des ökumenischen Chors bereichern. Möge dem noch immer nicht ungetrübten Gedächtnis bald völlige Freiheit und Gerechtigkeit widerfahren.