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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

370-371

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Dober, Hans Martin

Titel/Untertitel:

Seelsorge bei Luther, Schleiermacher und nach Freud.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2008. 273 S. gr.8°. Kart. EUR 38,00. ISBN 978-3-374-02601-2.

Rezensent:

Birgit Weyel

Der Titel dieser Seelsorgelehre ist Programm. Das von dem Tübinger apl. Professor für Praktische Theologie und Pfarrer in Tuttlingen vorgelegte Buch nimmt drei traditionsreiche Stränge der protestantischen Seelsorgelehre auf, verknüpft sie miteinander und entwickelt ein Verständnis von gegenwärtiger Seelsorgetheorie und -praxis, das sich sowohl den wesentlichen Einsichten der Tradition verdankt als auch auf die aktuelle Diskussionslage zugespitzt ist. Eine »Vermittlung von Historie und Gegenwartserfahrung« (17) soll geleistet werden, indem gerade »die evangelische Konstellation in ausgewählten historischen Kontexten« (26) herauspräpariert wird.
Dass dabei die Theologie Martin Luthers breiten Raum einnimmt, vermag unmittelbar einzuleuchten. Der von Gerhard Ebeling hervorgehobene seelsorgerliche Grundzug reformatorischer Theologie tritt prägnant hervor. Die Seelsorgelehre Friedrich Schleiermachers, die D. insbesondere anhand der Reden über die Religion und der Praktischen Theologie entwickelt, wird als Reaktion auf die veränderten gesellschaftlichen Bedingungen des bürgerlichen Zeitalters konturiert. Das von Schleiermacher im kritischen Gespräch mit der philosophischen Tradition (Plato, Kant) und in positiver Aufnahme romantischen Gedankenguts (Individualität, Selbstbildung, Freiheit, prinzipielle Gleichheit der Menschen) entwickelte Verständnis von der Seele und der Sorge um diese ist damit von bleibender Bedeutung für ein protestantisches Seelsorgeverständnis, das sich als historisch gebildetes versteht. Dass neben Luther und Schleiermacher das Seelsorgeverständnis »nach Freud« tritt, signalisiert, dass eine evangelische Seelsorgelehre an den Einsichten der Psychoanalyse nicht vorbeikommt. Hier liegt eine kritische Pointe D.s gegenüber Seelsorgeentwürfen, die sich programmatisch vom psychoanalytischen Paradigma zu verabschieden suchen. Eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Seelenverständnis von Sigmund Freud, wenngleich nicht einfach eine kritiklose Übernahme seiner Religions- und Kulturtheorien, sind nach D. unumgänglich, mehr noch, sie können das evangelische Seelsorgeverständnis nach wie vor anregen, ohne das unverwechselbar Eigene evangelischer Seelsorge aufs Spiel zu setzen. Dazu aber ist eine gedankliche Durchdringung, eine kritisch-konstruktive Rezeption der Psychoanalyse vonnöten, daher ist hier mit Bedacht die Wendung »nach Freud« gewählt.
An der Darstellung des Seelsorgeverständnisses Luthers (II. Luther und die Wiederentdeckung des Evangelischen in Seelsorge und Theologie, 29–65) und Schleiermachers (III. Schleiermacher – oder was wir unter der Seele und der Sorge um sie zu verstehen haben, 66–112) ist die Fokussierung sehr gelungen, weil sie das Seelsorgeverständnis pointiert und zugleich immer in Kontakt mit dem Theoriezusammenhang hält. Die Darstellung Freuds (IV. Freuds Neuverstehen der menschlichen Seele, 113–178), in der die Quellen selbst durch reichliche Zitate eingespielt werden, ist eingebettet in seine Wirkungsgeschichte. D. folgt hier nicht einer schlichten Chronologie, sondern leitet das Kapitel mit einigen prägnanten Bemerkungen insbesondere Paul Ricœurs zu den grundlegenden Aspekten des Freudianismus ein. Das sich anschließende Kapitel (V. Die Seelsorgelehre und Freud, 178–257) zeichnet die vielschichtigen Auseinandersetzungen mit Freuds Seelentheorie in der evangelischen Seelsorgelehre des 20. Jh.s nach, Oskar Pfister, Joachim Scharfenberg, Dietrich Rössler und Eduard Thurneysen – Letzterer vor allem in der Lesart der Relektüre des Bruchs im Seelsorgegespräch, wie sie die Diskussion der letzten Jahrzehnte vorgenommen hat. In dem letzten Absatz des V. Kapitels entwickelt D. im Wesentlichen sein eigenes Verständnis: »Die Konstellation des Evangelischen nach Freud«. Es ruht plausibel auf dem Durchgang durch die theologische und psychoanalytische Tradition auf. Tatsächlich sind die verschiedenen Stränge nunmehr so eng miteinander verknüpft, dass sich eine gemeinsame Signatur der Seelsorge herausgebildet hat. Seelsorge nach Freud geht von einer vertieften Introspektion aus, zugleich ist der Gedanke einer Einheit des Seelenlebens unverzichtbar. In Ergänzung zu Freud ist freilich die Chance der Religion zur Geltung zu bringen, über das Menschenmögliche hinaus, die »Kultur des Verhaltens zum Unverfügbaren« (H. Lübbe) einzubringen. Hier erhält die Seelsorgelehre D.s eine pastoraltheologische Zuspitzung. Aufgabe der Pfarrerinnen und Pfarrer sei es, »die Symbole des Glaubens so in die gegenwärtige Erfahrungswelt zu übersetzen, dass deren befreiende Funktion sich auf das Selbstverhältnis der Zeitgenossen auswirken kann« (241). Diese Symbole unterstehen allerdings der Ambivalenz von Macht und Ohnmacht, die nur in der Hoffnung auf die ›letzten Gedanken‹ der Theologie zu Gunsten einer Einheit und der Möglichkeit der Erlösung aufgelöst wird.
D.s Seelsorgelehre ist in ihrer sorgfältigen Auseinandersetzung mit der Tradition wenig originell, auf die Vervielfältigung der seelsorgerlichen Praxissituationen wird nicht eingegangen, aber gerade darin liegt auch eine Stärke. Das Buch dient der Selbstreflexion evangelischer Seelsorge, die sich als historisch gebildete versteht. Es konzentriert sich auf den Gewinn der Freudschen Seelenlehre und bindet diese konsequent an die protestantische Theologie, wie sie durch Luther und Schleiermacher prominent repräsentiert wird, zurück.