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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

362-364

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rieger, Hans-Martin

Titel/Untertitel:

Theologie als Funktion der Kirche. Eine systematisch-theologische Untersuchung zum Verhältnis von Theologie und Kirche in der Moderne.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XII, 556 S. gr. 8° = Theologische Bibliothek Töpelmann, 139. Geb. EUR 118,00. ISBN 978-3-11-019949-9.

Rezensent:

Wolfgang Beinert

Die umfangreiche Arbeit ist als Habilitationsschrift im Wintersemester 2005/06 an der Theologischen Fakultät der Universität Jena angenommen worden (Betreuer: M. Trowitzsch). Sie befasst sich weit ausholend mit einem wissenschaftstheoretischen Problem, das die christliche Theologie aller Konfessionen nicht erst seit der Aufklärung, aber seitdem doch besonders turbulent umgetrieben hat: Kann sie im Haus der modernen Wissenschaften (repräsentiert durch die Universität) mit ihrer Sonderrolle bestehen und hat sie eine Bedeutung für die Glaubensgemeinschaft (repräsentiert durch die offizielle Kirche)? R. beschränkt sich auf das moderne Luthertum (nicht ohne gelegentliche ökumenische Ausblicke), gibt einen sehr materialreichen Rückblick auf ausgewählte Antworten der letzten 100 Jahre und versucht dann, von einem eigenen, in der lutherischen Tradition stehenden Ansatz vor allem und direkt Antwort auf die Frage zu geben, welchen Stellenwert die akademische wissenschaftliche Theologie für die Kirche besitzt. Na­türlich hat sie Folgen für viele andere theologietheoretische Gebiete.
Der erste Teil »Zur Problembestimmung des Verhältnisses von Theologie und Kirche« gliedert sich in eine theologiehistorische und eine systematisch-wissenschaftstheoretische Abteilung. In der ersten werden nicht weniger als 17 Theologen befragt, angefangen beim »Kirchenvater« Schleiermacher bis Dietrich Bonhoeffer; eher überblicksweise rezensiert R. Gestalten der letzten 50 Jahre (Diem, Iwand, Tillich, Rendtdorff, Pannenberg, Sauter, Lindbeck, Hauerwas und Herms). Letzten Endes geht es um die Erörterung der seit Kant in der christlichen Theologie angestoßenen Frage nach dem Erkenntniszugang zu jenem Gott, der unbezweifelt der eigentliche Zielpunkt der Glaubenswissenschaft ist. Zwei Grundpositionen zeichnen sich in den vielen Entwürfen ab: Die eine besteht in einer spekulativ-kulturprotestantischen Vermittlungstheologie, wie sie exemplarisch schon bei Richard Rothe (1867) diagnostiziert wird; die andere, für die etwa Theodor Kliefoth († 1895) steht, vertritt einen dezidierten und strengen lutherischen Konfessionalismus. Im Allgemeinen behandelt das Werk denn auch seine Helden paarweise, entsprechend der chronologischen mehr oder weniger großen Gleichzeitigkeit (Rothe/Kliefoth, Ritschl/Kähler, Diem/Iwand, Pannenberg/Sauter, Lindbeck/Hauerwas). In der anderen Sektion dieses ersten Teils resümiert R. unter systematisch-theologischem und wissenschaftstheoretischem Aspekt die Ergebnisse der Recherchen. Er zeigt dabei eine große Nähe zur Philosophie Niklas Luhmanns.
Der zweite Hauptteil fokussiert die Grundlinien der Problematik auf zwei weitere zeitgenössische theologische Konzeptionen. Um was es geht, signalisiert schon die Überschrift: »Zwischen einem neuen Kulturprotestantismus und einer neuen Theologie der Offenbarung«. Exponent des Ersteren ist Wilhelm Gräb (»Theo­logie als religionstheologische Kulturhermeneutik«), für die Letztere steht Ingolf U. Dalferth (»Theologie im Horizont der Wirklichkeit Gottes«).
Den Leser dürfte am meisten die eigene Position R.s interessieren. Sie wird im dritten Hauptteil unter dem Titel »Umrisse einer staurologisch orientierten Verhältnisbestimmung in gegenwärtiger Verantwortung« dargelegt. Gemeint ist damit natürlich die komplizierte Relation Kirche – akademische Theologie. Startpunkt ist die Klärung des Problems, welche Erkenntnisse der materialen Dogmatik in den Theologiebegriff eingebracht werden müssen. Für protestantisches Theologisieren kann das nur die Rechtfertigungslehre sein, gesehen unter dem Blickwinkel der von Martin Luther entworfenen theologia crucis. »Sie wird deshalb zur kriteriologischen Grundlegung des ... Theologiebegriffs und der Verhältnisbestimmung von Theologie und Kirche genommen« (402). Denn das »Wort vom Kreuz« vermag den doppelten Effekt hervorzubringen – einmal die Partizipation der Theologie an den materialen Überzeugungen der Kirche, zum anderen die Legitimität kirchenkritischen Verhaltens, das mit der Wissenschaftlichkeit der Theologie gegeben ist, zu begründen. Theologie bekommt somit eine in etwa ambivalente Funktion: Sie ist »eine Theorie des Systems im System ..., insofern sie sich dessen interner Perspektive anschließt, zugleich aber Religion und deren Selbstbeschreibung zum Gegenstand hat« (406).
Diese These untermauert das Buch in einer Analyse der Kreuzestheologie zunächst des Paulus, dann des Reformators, dessen Wort leitend bleibt: »Crux probat omnia«. Dabei werden durchaus die kritischen Punkte eines solchen Ansatzes gewürdigt, zumal Lu­thers Denken von R. sehr wohl mit Ansätzen abgeglichen wird, die im Ausgang vom Osterereignis zu einer theologia gloriae gelangen. Maßgebend bleibt die theologia crucis schlussendlich deswegen für R., weil sie in der Version des Wittenbergers vom Anspruch getragen sei, »dass sich im Gekreuzigten die eine wirkliche Wirklichkeit Gottes erschließt, welche in Gottes schöpferischer Liebe ihren Maßstab und Grund hat und welche die menschliche Wirklichkeitskonstitution als Scheinwirklichkeit enthüllt« (422).
Theologie und Kirche sind entsprechend dieser Untersuchung nicht miteinander identisch, sie sind aber auch keine beziehungslos oder gar prinzipiell antagonistisch einander gegenüberstehenden Größen. Die Kirche muss sich als christliche dem Evangelium als Wort vom Kreuz unterstellen, die Theologie als christliche Theo­logie hat die zweifache Aufgabe, sich selber diesem Maßstab zu unterwerfen und dann auch der Kirche diesen gleichen Dienst zu leisten – auch hier ist, in beiden Fällen, kritisches Potential Voraussetzung. R. beleuchtet das knapp am Beispiel der institutionellen Gestalt Kirche. Sie ist kein Adiaphoron, wenn gelten soll, dass die am Kreuz sich zeigende Gottesliebe normierendes Kriterium für eine sachentsprechende Figuration des Strukturellen ist.
Das Literaturverzeichnis beansprucht nicht weniger als 52 eng gesetzte Seiten. Allein dieser Umstand spricht laut für die staunenswerte Leistung, die dieser Gang durch die Theoriegeschichte der modernen Glaubenswissenschaft und die sich anschließende minutiöse systematische Auswertung bedeutet. Das Werk kann als signifikanter Beitrag des reformatorischen Denkens und gleichzeitig auch als ein unter ökumenischer Perspektive beachtenswerter Anstoß zur Lösung einer Angelegenheit gelten, die hochaktuell ist, denkt man an die immer wieder aufbrechende und bei leeren Kassen sich verschärfende Diskussion über die »echte« Wissenschaftlichkeit einer vielen Zeitgenossen sehr merkwürdigen universitären Disziplin, die in anstößiger Weise einer Gruppierung verbunden ist, die mehr und mehr an gesellschaftlicher Relevanz einbüßt. Die manchmal etwas schwere und schwer verständliche Diktion eines halbtausendseitigen Buches steht freilich dieser Chance ein wenig im Wege. Letztere sollte aber mit allen Kräften genutzt werden um der Theologie, um der Kirche(n) und last but not least um der Gesellschaft willen.