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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

355-357

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Oeser, Erhard

Titel/Untertitel:

Das selbstbewusste Gehirn. Perspektiven der Neurophilosophie.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006. 219 S. m. Abb. 8°. Geb. EUR 34,90. ISBN 978-3-534-19068-3.

Rezensent:

Dirk Evers

Neben dem angegebenen Titel in dieser Rezension besprochen:

Wieser, Wolfgang: Gehirn und Genom. Ein neues Drehbuch für die Evolution. München: Beck 2007. 285 S. 8°. Geb. EUR 22,90. ISBN 978-3-406-55634-0.


Das Buch des emeritierten Professors für Zoologie an der Universität Innsbruck Wolfgang Wieser ist eine von fachkundiger Seite vorgenommene Korrektur an einem reinen Gen-Determinismus in der Manier von Richard Dawkins, wie dieser ihn etwa in seinem ersten Bestseller »Das egoistische Gen« von 1976 vertreten hat. Ge­gen eine Reduzierung der Mechanismen der Evolution auf Zufall, strukturelle Zwänge und die Aktivität egoistischer Gene will W. zeigen, dass vor allem die Entwicklung des Menschen sich zwar auf genetischer Grundlage vollzogen hat, sich aber allein durch Mutation und Selektion des Erbguts nicht angemessen beschreiben lässt. War für Dawkins das Gen die fundamentale Einheit, an die die Evolution anknüpft und die die Körper der Lebewesen nur als Überlebensmaschine benutzt, so zeigt W. anhand der durch das Gehirn ermöglichten sozialen und kulturellen Evolution des Menschen, wie sich über die genetische Vererbung hinaus Mechanismen der – in einem orthodoxen Darwinismus verpönten– Vererbung erworbener Eigenschaften herausgebildet haben. Von daher erklärt sich das Nebeneinander von »Gehirn und Ge­nom« im Titel des Buches.
Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass die über die Gene gesteuerte phylogenetische Evolution sich auf einer ganz anderen Zeitskala vollzieht als die kulturelle Entwicklung des Menschen. Darüber hinaus gilt, dass die kulturelle Evolution mit der phylogenetischen zwar formale Ähnlichkeiten zeigt, in ihr aber gerade solche Mechanismen am Werk sind, die in der genetischen Evolution nur eine untergeordnete Rolle spielen oder gar zu ihr im Gegensatz stehen: Die Evolution vollzieht sich gerichtet, an Stelle des Individuums fungiert die Gruppe als Einheit der Selektion, die Weitergabe erworbener Eigenschaften ist die wichtigste Strategie. W. zieht das Fazit, dass unsere Vorstellung einer Evolution der Lebewesen bis hin zum Menschen wesentlich komplexer gedacht werden muss und die rein molekulargenetische Sicht durch Überlegungen aus Bereichen wie Soziologie, Archäologie, Anthropologie und Verhaltenswissenschaften zu erweitern ist.
Zusätzliche Plausibilität gewinnt W.s These durch den Nachweis, dass in der Ausbildung vernetzter Zusammenhänge bei vielzelligen Organismen und durch ihre Koppelung an Milieus die Epigenese lange vor der Entstehung des Menschen ein wichtiger Faktor wird: also die immer komplizierter werdende Entwicklung eines adulten Lebewesens aus der befruchteten Eizelle, für die das Wechselspiel mit der natürlichen, sozialen und ökologischen Umwelt von entscheidender Bedeutung ist. Die Evolution des Gehirns des Menschen führt diese Entwicklung weiter und eröffnet durch Sprache und Kultur die Möglichkeit, dass immer neue soziale Umwelten erzeugt werden können, die auf der genetischen Disposition des Menschen aufruhen, sich aber von der direkten Determinierung durch die Gene ablösen. Dies geht bis dahin, dass mit Literatur und Kunst symbolische Welten erzeugt werden, die alles Gegenständliche überschreiten und »Wege zum Absoluten« (244) entwerfen können. Durch die über das Gehirn vermittelte Einbettung der Evolution des Menschen in soziale, sprachliche und kulturelle Zusammenhänge treten an die Stelle einer bloß quantitativen Steigerung der Zahl reproduktionsfähiger Nachkommen verstärkt qualitative Merkmale wie Solidarität, Gemeinschaft, technischer Fortschritt (Letzterer oft gerade mit einer Abnahme der Reproduktionsleistung verbunden). Mit solchen Einsichten werden unselige Frontstellungen nachhaltig aufgebrochen, die auch 150 Jahre nach Darwin manche öffentlich ausgetragenen Debatten um die Bedeutung der Evolutionstheorie prägen.
W.s Buch stellt so ein hilfreiches Gegengewicht zu genetisch-reduktionistischen Auffassungen der Evolution dar. Es ist gut und verständlich zu lesen und bietet dem Geisteswissenschaftler eine Fülle von interessanten Einsichten und Anknüpfungspunkten. Es bleibt dabei nahe an den durch die Naturwissenschaften offengelegten Phänomenen und kommt ohne jeden eigenen Systemzwang daher. Und wenn W. den Eindruck schildert, »dem Genom wäre in der Gestalt des Gehirns nicht bloß ein Partner, sondern auch ein Rivale erstanden« (37), dann ist das eine These, die das Interesse einer Theologie finden sollte, die gegen sozial-darwinistische Engführungen auch evolutionstheoretisch zu argumentieren sucht. Denn dann stellt die kulturelle Evolution nicht bloß die Fortsetzung der phylogenetischen Evolution mit anderen Mitteln dar, sondern beginnt sich von dieser zu emanzipieren und gelegentlich gegen sie zu agieren.
Auch das Buch des Wiener Philosophen und Wissenschaftshistorikers Erhard Oeser beschäftigt sich mit dem Gehirn des Menschen. Es nimmt seinen Ausgang allerdings bei der arg reißerischen These, die Ergebnisse der modernen Hirnforschung fügten dem Menschenbild nicht nur nach Kopernikus, Darwin und Freud eine weitere Kränkung zu, diese stellten überhaupt »die vielleicht größte Herausforderung an das philosophische Denken seit seinem mehrtausendjährigen Bestehen« (9) dar. Mit dem gefährdeten Menschenbild verbindet Oe., ohne dies systematisch zu rekonstruieren, die üblichen Allgemeinplätze: eine Sonderstellung des Menschen gegenüber den Tieren, ein realistisch aufgefasstes Ich, freien Willen und Gottesglauben – allesamt Kategorien, die nun unter dem Ansturm der empirischen Hirnforschung in ihrer Bedeutung bedroht sein sollen. Gegen diese Herausforderung will Oe. eine eigene Disziplin etablieren, die er im Anschluss an Patricia Churchland und andere »Neurophilosophie« nennt und die nicht nur Sprachkritik zur Vermeidung von Kategorienfehlern betreiben soll, sondern »eine direkte Verbindung zwischen philosophischen Problemstellungen und der Hirnforschung wieder herzustellen versucht« (14).
Diesen »sozusagen im Alleingang unternommenen Integrationsversuch von Evolutionstheorie, Neurowissenschaft und Phi­losophie« (11) führt Oe. dann in 14 Kapiteln aus. Dabei gesteht er zu, dass seine Neurophilosophie »noch nicht als eigene systematische wissenschaftliche Disziplin angesehen werden kann«, doch sollten »bereits die groben Umrisse und die folgenschweren Perspektiven« (18) eines solchen Unternehmens sichtbar werden. Dies allerdings erscheint dem Rezensenten durchaus zweifelhaft, handelt es sich bei alledem doch wohl eher um eine Mannigfaltigkeit inter- und transdisziplinärer Erörterungen, denen sowohl in methodischer als auch in inhaltlicher Hinsicht das Einheit stiftende Prinzip fehlt.
Lässt man die etwas alarmistische Rhetorik auf sich beruhen, so kann man in den Ausführungen Oe.s manch interessanten Fund machen. Er kritisiert zunächst gleichermaßen die dualistische und die reduktionistische Perspektive auf das Verhältnis von Geist und Gehirn, um dann über funktionale und entwicklungstheoretische Erörterungen zu den Gegenständen zu gelangen, die er zu Beginn als die für das Menschenbild entscheidenden identifiziert hatte wie Emotionen, Sprache, Ästhetik, Moral, Recht und Religion, deren neurobiologische Grundlagen er jeweils beschreibt. Die Welt der mentalen Phänomene sucht Oe. dadurch zu retten, dass er zwischen Dualismus und Reduktionismus mit dem Konzept eines »mentalen Feldes« einen dritten Weg andeutet, bei dem das Mentale als emergentes Phänomen erscheint, das wiederum zurückwirken kann auf die ihm zu Grunde liegenden Prozesse. Das ist weder neu noch von großer Erklärungskraft, hält aber die Möglichkeit einer phänomenal reicheren Beschreibung der Zusammenhänge von neurophysiologischen Vorgängen mit psychischen und mentalen Kategorien offen und erweist sich insbesondere im Kapitel über die Sprache als hilfreich. Weniger gelungen ist allerdings die Anwendung dieser Denkfigur auf andere soziale und kulturelle Phänomene. Vor allem der in populärwissenschaftlichen Büchern über Hirnforschung zurzeit offensichtlich unvermeidliche Ab­schnitt über die neurobiologischen Grundlagen der Religion, der bei Oe. von mystischen Erlebnissen bis zu Nahtod-Erfahrungen reicht, kann auch nicht ansatzweise dem Phänomen menschlicher Religiosität gerecht werden.
Und die Frage der Willensfreiheit? Der freie Wille (leider wird einfach vorausgesetzt, dass jeder versteht, was damit gemeint ist) ist jedenfalls für Oe. »die notwendige Grundlage jeder Moral und Rechtsordnung« (163) und weder eine Illusion noch eine transzen­dentalphilosophisch vorauszusetzende Kategorie. Sie zeigt phylo- und ontogenetisch aufweisbare Stufen, und »als eine Hirnleistung besonderer Art« ist von ihr zu sagen, dass sie »erst mühsam im Laufe eines individuellen Lebens erkämpft werden muss und wegen der großen Störanfälligkeit unseres Gehirns auch wieder verloren gehen kann« (198 f.). Dies dürfte, recht verstanden, eine in Bezug auf Handlungsfreiheit nicht unplausible, aber individualistisch verengte These sein. Sie wäre wohl schon phänomenologisch, erst recht aber theologisch durch den Hinweis zu ergänzen, dass Freiheit dem Individuum wesentlich von außen zugemutet und zugespielt wird.