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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

352-354

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Lehner, Ulrich L.

Titel/Untertitel:

Kants Vorsehungskonzept auf dem Hintergrund der deutschen Schulphilosophie und -theo­logie.

Verlag:

Leiden-Boston: Brill 2007. X, 532 S. gr.8° = Brill’s Studies in Intellectual History, 149. Geb. EUR 99,00. ISBN 978-90-04-15607-0.

Rezensent:

Arnulf von Scheliha

Bei diesem Buch handelt es sich um eine Dissertation, die im Sommersemester 2005 von der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Regensburg angenommen worden ist. Betreuer der Arbeit war Ulrich G. Leinsle. Das in 27 (!) Kapitel eingeteilte Buch ist in vier Abschnitte gegliedert. Vorab stehen eine knappe »Einleitung« (1. Kapitel) und ein »Kurzer Überblick über die Vorsehungslehre in Philosophie und Theologie« (2. Kapitel). Im Ersten Teil stellt der Vf. »Philosophische Vorsehungskonzepte« vor (Kapitel 3–9). Der erheblich kürzere Zweite Teil präsentiert unter der Überschrift »Theologische Vorsehungskonzepte« die wichtigsten Bestimmungen aus den Dogmatiken von Siegmund Jacob Baumgarten und Johann Friedrich Stapfer (Kapitel 10–11). »Der ›vorkri­tische‹ Kant« ist das Thema des Dritten Teils (Kapitel 12–21), in dem der Vf. den Spuren der Vorsehungslehre in Kants Schriften und Fragmenten bis zu »›Von den verschiedenen Racen der Menschen‹ (1775)« nachgeht. Der Vierte Teil schließlich befasst sich mit dem »›kritischen‹ Kant« (Kapitel 22–26), bevor im Kapitel 27 der Ertrag der Untersuchungen zusammengefasst wird.
An der Einteilung erstaunen Zuordnung und Proportionen. So ordnet der Vf. die evangelischen Neologen Johann Joachim Spalding (vgl. 115–119) und Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (Ka­pitel 9) unter die Denker »aus der philosophischen Fakultät« (2). Beide waren bekanntlich leitende Geistliche evangelischer Landeskirchen sowie theologische Publizisten und verstanden sich gerade nicht als Universitätstheologen oder -philosophen. Der jüdische Religionsphilosoph Moses Mendelssohn (Kapitel 7) begründete seinen Ruhm ebenfalls als Publizist und Privatgelehrter. Da in diesem Teil ebenfalls der Hamburger Gymnasialprofessor Hermann Sa­muel Reimarus behandelt wird (Kapitel 8), kann der Leser auch eine Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Gotthold Ephraim Lessings, deren Nähe zu Kant auf der Hand liegt, erwarten: freilich vergeblich. Vom Vf. behandelte Schulphilosophen im engeren Sinne sind eigentlich nur Christian Wolff (Kapitel 4), Alexander Gottlieb Baumgarten (Kapitel 5) und Christian August Crusius (Kapitel 6). Der Klarheit der gedanklichen Arbeit hätte es gut getan, wenn der Vf. hier zwischen den Universitätsphilosophen und -theo­logen einerseits und den freien Publizisten andererseits un­terschieden hätte, zumal auf diese Weise die öffentliche Relevanz des Vorsehungsglaubens in jener Zeit hätte deutlich herausgearbeitet werden können. In der Zusammenfassung räumt der Vf. übrigens ein, dass die von ihm in Kapitel 3 bloß summarisch behandelten Einflüsse von Newton, Bayle oder Leibniz auf Kants Vorsehungsverständnis nachhaltiger sind als die derjenigen Denker, die er ausführlich darstellt (vgl. 465 f.).
Die Stärke dieses Buches besteht in der materialreichen Bearbeitung des Themas und in der philosophiehistorisch profunden Einbettung der Vorsehungslehre Kants. Die einschlägige Forschungsliteratur zu jedem Autor wird herangezogen. Der ansehnliche Umfang des Buches ist Ausdruck solider Quellenkenntnis. Auf diese Weise wird kenntlich, dass in der Aufklärungsepoche der Vorsehungsglaube nicht allein ein dogmatischer Lehrtatbestand war, sondern fachübergreifender Horizont religiöser und philoso­phischer Vergewisserung über ›letzte Fragen‹, der auch noch den ›Bruch‹ durch die kritische Philosophie Kants umspannte.
Aber schon diese Feststellung ist eine Interpretation des Re­zensenten. Denn die Schwäche des Buches liegt darin, dass sich der Vf. bei der Aufbereitung von Quellen und Forschungsliteratur von keiner übergreifenden Frage leiten lässt. Religionstheoretische, problem- oder frömmigkeitsgeschichtliche Perspektiven sind nicht erkennbar. Die Einzelinterpretationen sind rein immanent, und selbst dort, wo der Vf. kenntnisreich auf zum Teil überraschende Verbindungen z. B. in den Briefwechseln der Protagonis­ten aufmerksam macht, bleiben diese Hinweise interpretatorisch unergiebig. Die Zusammenfassung enthält keine historischen oder systematischen Perspektiven.
Hermeneutisch und inhaltlich problematisch ist die Kant-Interpretation. Angesichts des geistesgeschichtlichen Ranges von Kants kritischer Philosophie fällt die knapp 100-seitige Untersuchung seines vorkritischen Werkes zu ausführlich aus. Dieser Umfang wäre nur gerechtfertigt, wenn die gängige Einteilung von Kants Werk aus der hier gewählten Perspektive thematischer Kontinuität problematisiert würde. Auch der Zugang zum kritischen Werk Kants ist erstaunlich. Denn die kritischen Hauptwerke, die »Kritik der reinen Vernunft« und die »Kritik der praktischen Vernunft«, werden auf bloß sieben Seiten zusammengefasst und sachlich gar nicht ausgewertet. Darin und bei der eingehenden Lektüre zeigt sich, dass der Vf. an der kritischen Philosophie Kants kein sachliches Interesse hat. Vielmehr legt er es darauf an, das theologiekritische Potential der Erkenntnistheorie von vornherein zu entschärfen. Bezeichnend ist der Satz, mit dem der Vf. sein Kant-Kapitel eröffnet: »Schon zu Lebzeiten Kants wird die kritische Philosophie kontrovers diskutiert. Bis heute ist sie heftig umstritten.« (301)
Mit dieser Bemerkung enthebt sich der Vf. der Aufgabe, Kants Vorsehungskonzept auf dessen kritische Rekonstruktion der Vernunft zu beziehen. Stattdessen werden die Hauptthesen Kants knapp, oberflächlich und leider auch fehlerhaft referiert. Dass etwa »die drei Postulate Gott, Freiheit und Unsterblichkeit … unabdingbare Grundlagen« (301) des Handelns seien, wird man jedenfalls nicht als zutreffendes Resümee der praktischen Philosophie Kants ansehen können. Faktisch setzt sich der Vf. mit den beiden ersten Kritiken auch gar nicht auseinander. Vielmehr begibt er sich auf unsicheren Boden, indem er von der von Pölitz herausgegebenen Metaphysikvorlesung ausgeht, die nicht dem Gedankengang der Kritik der reinen Vernunft folgt, sondern dem klassischen Aufriss der Metaphysik, wodurch die Erkenntniskritik Kants stets nachgetragen werden muss. Eine methodische Reflexion auf die hermeneutischen Probleme, die sich bei der Interpretation von Vorlesungsnachschriften ergeben, insbesondere dann, wenn sich die Vorlesung an Lehrbüchern orientiert, erfolgt nicht.
Den eigentlichen Schwerpunkt in diesem Teil bilden die »Kritik der Urteilskraft«, die Religionsschriften sowie die Gelegenheitsschriften zur Geschichtsphilosophie, Anthropologie und poli­tischen Philosophie. Deren Verknüpfung zu den kritischen Hauptschriften bleibt unklar, und das hat Auswirkungen auf das inhaltliche Ergebnis der Studie. Mit Pauline Kleingeld (Fortschritt und Vernunft. Zur Geschichtsphilosophie Kants, Würzburg 1993) rückt der Vf. Kants Christentumsdeutung dominant in die Wirkungsgeschichte des Pietismus und marginalisiert zugleich Kants Anknüpfung an die aufgeklärte Kirchen- und Frömmigkeitskritik. Die Differenz von Einsichten der theoretischen und der praktischen Vernunft wird zwar beständig erwähnt, aber bezüglich des Vor­sehungsglaubens epistemisch nicht durchgehalten. Vielmehr verführt der zu Recht herausgestellte Primat der Praktischen Philosophie den Vf. zu ganz unkantischen ontologisierenden Formulierungen, wie z. B.: »Denn bei Kant bleibt Gott Ermöglichungsgrund der moralischen Welt. Allerdings bleibt seiner Vorsehung nicht mehr viel zu tun, da sie bis auf den einmal dem Menschen zu eigen gemachten Vorsehungsplan der Moralität nichts zu Wege bringt.« (477)
Am Ende stellt der kundige Leser fest, dass er über die Bedeutung der Vorsehungslehre bei Kant nichts Neues erfahren hat. Dass »Kants Konzept der Vorsehung auf den Einfluss vieler verschiedener Denker philosophischer und theologischer Provenienz zurückgeht« (483), war zu erwarten. Dass Kants kritische Philosophie auch eine Lösung religionstheoretisch offener Fragen anstrebt, ist der Kant-Forschung nicht unbekannt. Aber auf den im Grunde schlichten Sachverhalt, dass Kant die am Ende der »Kritik der reinen Vernunft« gestellt Frage »Was darf ich hoffen?« (B 833) auf mehreren Ebenen beantwortet und dabei der Vorsehungsglaube die religiöse Deutung der rational nicht einholbaren Einheitsintention der Vernunft ist, darauf geht der Vf. gar nicht ein. Weil er sich viel zu oft in einem ontologisierenden Sprachduktus verliert, ist es ihm nicht möglich, gerade in den erkenntniskritischen Restriktionen den Kern des lutherisch geprägten Fiduzialglaubens zu identifizieren, der zuvor sowohl die praktische Weltfrömmigkeit der Aufklärungstheologen als auch den Pietismus geprägt hatte. So ist das Buch nicht mehr als eine gelehrte Zusammenstellung wichtiger Äußerungen zur Vorsehungslehre im 18. Jh. Es ist weder ein Beitrag zur Rekonstruktion der hinter ihr liegenden Frömmigkeits- oder Mentalitätsgeschichte noch zur Geschichte der theologischen Umformung dieser Lehre in der Aufklärungsepoche.