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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

350-352

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kern, Udo [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Was ist und was sein soll. Natur und Freiheit bei Immanuel Kant.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2007. XIII, 548 S. m. Abb. gr.8°. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-019226-1.

Rezensent:

Alexander Heit

Das Kantjahr 2004 hat eine Vielzahl von Ringvorlesungen hervorgebracht, die an den Königsberger Philosophen erinnerten und dabei zumeist die Aktualität seines Denkens im Blick hatten. Eine solche Vorlesungsreihe hat auch an der Universität Rostock stattgefunden und ist nun – erweitert durch einige Beiträge, die nicht in Rostock zu hören waren – in einem vom Systematischen Theologen Udo Kern herausgegebenen Sammelband dokumentiert worden. Das dabei entstandene recht umfangreiche Buch vereinigt neben der Einleitung 18 Beiträge mit unterschiedlichster thema­tischer Ausrichtung, die allerdings eine Schwerpunktbildung im Bereich der Moralphilosophie und ihrer religionsphilosophischen Implikationen erkennen lässt. Das erklärt sich zum einen wohl durch das Interesse des Herausgebers an religionstheoretischen Fragestellungen.
Kern macht zum anderen in seinen eigenen Beiträgen in Hinsicht auf Kant auch biographische und sachliche Gründe für das thematische Gefälle geltend. Sein Beitrag mit dem Titel »Denn ich bin Mensch geworden« ist ein informativer Aufsatz zu Kants Biographie, dessen Lektüre mit dem bis vor einiger Zeit häufig zu hörenden Vorurteil aufräumt, Kant habe ein an Erlebnissen armes Leben geführt. Kant wird als ein der Welt zugewendeter Mensch präsentiert, dessen Denken besonders stark durch die Vorgaben der pietistisch-rationalistischen Bildungslandschaft Kö­nigsbergs ge­prägt worden sei. Dieser These von der Bedeutung des protestantisch-pietistischen Erbes folgt auch Kerns gut zu lesende Propä­deutik in Kants kritische Philosophie mit dem Titel »Natur und Freiheit«. Kern versteht die Entfaltung von Kants kritischer Philosophie als eine Denkbewegung, die ihr Ziel in der Entfaltung der Moral- und Religionsphilosophie hat, wobei er zudem meint, Kants Freiheitsbegriff stehe »auf den Schultern von Luthers libertas christiana« (143). Die Religionsschrift und die intensive Auseinandersetzung Kants mit dem Bösen kommen allerdings, und das ist angesichts dieser pointiert religionsphilosophisch orientierten Auslegung der kritischen Schriften erstaunlich, erst in seinem dritten Beitrag zur Sprache, der Kants Ekklesiologie wohlwollend ex­pliziert, aber auch Schwächen an ihr ausmacht, weil sie moraltheo­retisch engführe.
Einer der umfangreichsten und zugleich interessantesten Beiträge stammt von Arnulf von Scheliha, der Kants Philosophie als den Versuch liest, die Leistung der menschlichen Vernunft auf al­len Vollzugsebenen als Kontingenzverarbeitung zu erklären. Von Schelihas Beitrag fügt sich insofern in die Deutungslinie des Gesamtbandes, als er Kants Vernunft ein stufiges Programm von Kontingenzbewältigung abarbeiten sieht, das sein Ziel in der Entfaltung der Religionsphilosophie hat. Schon im einfachsten Fall von Erfahrung wird danach zufällig präsentiertes Anschauungsmaterial einer durch die Verstandesbegriffe vorgegebenen Notwendigkeit eingeordnet – das gilt grundsätzlich auch für die Selbsterkenntnis. Die Zweistämmigkeit der Erfahrung als solche kann nach Kant indes nicht in ein höheres, metaphysisches oder idealistisches Prinzip aufgehoben werden und muss als kontingent akzeptiert werden, wenngleich auch diese Kontingenz eine Bearbeitung durch auf Totalität zielende Vernunftbegriffe erfährt, die allerdings auf ihren regulativen Gebrauch restringiert werden müssen. Die nächste Ebene der Kontingenzbewältigung wird mit der Entfaltung von Kants Moralphilosophie erreicht. Von Scheliha meint, Kant habe den Vernunftideen auf dieser Stufe eine nicht bloß regulative, sondern konstitutive Funktion zukommen lassen, und macht dafür eine Reihe von Gründen geltend. Freiheit ist diejenige Idee, die Kontingenz in Handlungen ausschließen soll, indem mit ihr der Wille alternativlos auf das Sittengesetz verpflichtet wird. Allerdings wird die praktische Vernunft bei der Reflexion auf sich selbst des Risikos eingedenk, dass Glückseligkeit als der eine Zweck menschlicher Wesen nur kontingent mit dem andere n– nämlich Moralität – realisiert wird. Zur Bewältigung dieses Kontingenzrisikos muss die Vernunft auf religiöse Ideen ausgreifen. Schließlich, so von Scheliha, bettet Kant die gesamte Natur- und Kulturwelt – und also Kontingenzen jedweder Form – in eine religiös-teleologische Deutung ein, die umstandsabhängig ist und der Welt- und Kulturgeschichte aus bestimmter Perspektive Sinn unterlegt. Diese Leistung der reflektierenden Urteilskraft ist nicht als Rückfall in die metaphysische Spekulation zu begreifen, weil Kant auf ihren epistemischen Status reflektiert und die Art des Führwahrhaltens von derartiger Geschichtsdeutung nicht als Wissen, sondern als Glauben bestimmt.
Seit einiger Zeit wird in der Literatur das Verhältnis von Moralität und Glück, wie Kant es bestimmt, intensiver diskutiert. Es scheint sich dabei um ein Thema zu handeln, das über die Attraktivität von Kants Ethik mit entscheidet. Im vorliegenden Band finden sich auch zwei Beiträge, die dieser Frage gewidmet sind. Bert­ram Kienzle fragt: »Macht das Sittengesetz unglücklich?« Und auch der Beitrag von Hans Jürgen Wendel arbeitet sich an der Glücks­thematik unter dem Titel »Vernünftige Selbstbestimmung und gutes Leben« ab. Kienzles Aufsatz ist eine Kantinterpretation, die nahe am Primärtext argumentiert und vor dem Hintergrund von Kants Maximentheorie zu dem Schluss kommt, dass das Sittengesetz nicht notwendig unglücklich macht – nämlich dann nicht, wenn die gebotene Handlung zufällig glücklich macht. Es ist auffällig, dass Kienzle nur einen der beiden Glücksbegriffe bei Kant im Blick hat, und zwar denjenigen, der zur landläufigen Definition von Glück als durchgehender Annehmlichkeit, die zur Sittlichkeit im Widerspruch steht, passt. Kants Postulatenlehre, die zur Auflösung der Spannung dient, wird von Kienzle kritisch beäugt. Der ebenfalls bei Kant sich findende Begriff der moralischen Glückseligkeit, die sich aus Zufriedenheit über den eigenen sittlichen Vollzug einstellt, wird nicht erwähnt.
Letzteres gilt auch für den Beitrag von Wendel, der weniger stark am Originaltext orientiert ist. Wendel meint, Kant habe in der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs einen Handlungszweck untergebracht, der sich aus reiner Formalität eigentlich nicht deduzieren lässt. Kant verfolge also auch in der Bestimmung des guten Willens – ganz gegen seine Beteuerung – einen Zweck: nämlich die Realisierung der freien und vernünftig selbstbestimmten Persönlichkeit. Wendel diagnostiziert also, dass Kant die reine Formalität des guten Willens theoretisch nicht durchhalten konnte. Er greift nun den Gedanken der Selbstbestimmung auf, koppelt ihn allerdings von der Bindung an das kantisch gedachte Sittengesetz objektiver Geltung ab. Selbstbestimmtes Leben ist nach Wendel – in Anlehnung an Heidegger – ›je mein‹ selbst be­stimmtes Leben und folgt insofern rein subjektiven Regeln. Dieser Art von Selbstbestimmung kann, im besten Fall und aufs ganze Leben gesehen, Glück korrespondieren.
Im Sammelband finden sich darüber hinaus zum Teil sehr lesenswerte Beiträge zur vorkritischen Philosophie, zur Wissenschaftstheorie, weitere Beiträge zur praktischen Philosophie und zur Geschichtsphilosophie, zum »Streit der Fakultäten« und zur Rezeption Kants im Protestantismus, zur Hauptfrage der dritten Kritik etc. Das Themenspektrum lässt aufscheinen, wie umfassend Kants Philosophie ist. Dabei hat der Leser aber nicht das Gefühl, eine nicht zusammengehörende Akkumulation von Beiträgen vor sich zu haben, weil der Band gelungene Überblicksbeiträge bietet, durch die sich die Spezialthemen im Gesamtsystem von Kants Philosophie verorten lassen.