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Ausgabe:

November/1996

Spalte:

1061–1063

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Bauer, Johannes Bapt

Titel/Untertitel:

Die Polykarpbriefe. Übers. u. erklärt

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1995. 112 S. gr. 8° = Kommentar zu den Apostolischen Vätern, 5. Ergänzungsreihe zum Kritisch-exegetischen Kommentar über das Neue Testament, 5. Lw. DM 58,­. ISBN 3-525-51678-9

Rezensent:

Hermut Löhr

Obwohl nicht gerade als Beispiel pointierter Argumentation und origineller Reflexion, sondern eher als Zeugnis formelhafter und "gußeiserner" (P. Vielhauer) Theologie bekannt, ist das Schreiben des Bischofs Polykarp von Smyrna an die christliche Gemeinde von Philippi (= Pol) als wichtige Quelle für die Kirchen- und Theologiegeschichte des zweiten Jh.s und als vermutliche Hinterlassenschaft eines der angesehensten Kirchenmänner dieser Zeit gewiß einen Kommentar wert. Doch werden die Erwartungen, die man an B.s Buch haben mochte, enttäuscht: Der vorliegende Band erweist sich nicht als das kommentierende Kompendium zu Pol, auf das man für die renommierte KAV-Reihe hoffen durfte.

Die Einleitung (9-30) behandelt die antike Stadt Smyrna, das Leben Polykarps, literarisches Genus und Stil, die griechische Textüberlieferung, die alte lateinische Übersetzung, die Hypothese der Briefteilung, Thema und Inhalt des jetzt sog. zweiten Polykarpbriefes, die theologische Stellung allgemein, die Eschatologie, das Verhältnis zu den Past und zu 1Clem.

Wesentliche Ergebnisse gemäß B. sind: In der Nachfolge P. N. Harrisons und mit J. A. Fischer u. a. ist Pol literarkritisch in zwei Briefe aufzuteilen (12). 1Pol, ein Begleitschreiben ("covering note") zu dem den Philippern gesandten Corpus der ignatianischen Briefe, entspricht dem traditionellen Kap. 13, Kap. 1-12 und 14 (dies gegen Harrison) gehören demnach zu 2Pol. 1Pol kann noch zur Zeit der Romreise des Ignatius verfaßt worden sein (18); 2Pol wird "in das 2. oder 3. Jahrzehnt des 2. Jh.s" (5) gewiesen.

Zu Ort und Zeit der Kompilation äußert B. keine Vermutung (die altkirchlichen Zeugnisse kannten stets nur einen Polykarpbrief). Die in Pol 6,3-7,2 Angegriffenen sind "Doketen", deren nähere Bestimmung jedoch nicht möglich (58) und deren Anwesenheit in Philippi nicht sicher vorauszusetzen ist (21). Denkt B. an Gnostiker (vgl. 23 und 59 f.)? Jedenfalls: "Mit Markion hat das nichts zu tun" (23; vorsichtiger im Vorwort: 5). Der eigentliche, aktuelle Anlaß des Schreibens ist der Fall des (nicht-häretischen) Presbyters Valens und seiner Frau (20 f.). Pol zitiert ausgiebig aus dem NT, aber man findet "bei ihm keine Spur des Kanons der vier Evangelien, namentlich Johannes" (21). Besondere Nähe besteht zu Past und 1Clem. Dagegen fehlen der alttestamentliche Schriftbeweis und der Bezug zum zeitgenössischen Judentum (22). Pol kennt die Ämter des Presbyters, des Diakons und das "Quasiministerium der Witwen" (22: die Witwen leben, "insofern sie ein Amt in der Kirche haben, von den Opfergaben der Gläubigen"); daß er den Episkopentitel nicht nennt, beweist nichts (ebd.). Die Eschatologie von Pol ist gegenüber dem NT ethisiert, die Naherwartung zurückgedrängt (24 f.).

Man vermißt in dieser Einleitung die Darstellung wichtiger Aspekte, so etwa die Echtheitsfrage (die Authentizität wird vorausgesetzt), Disposition des Schreibens, religions- und traditionsgeschichtliche Hintergründe, eine vollständige Übersicht über die altkirchlichen Testimonien. Auch bleiben viele Auskünfte zu den tatsächlich behandelten Themen zu knapp. Zur Diskussion um das Todesjahr Polykarps heißt es: "Wann das Martyrium Polykarps stattgefunden hat, ist seit langem höchst kontrovers. Verfolgt man die Forschungsgeschichte und die Argumentation, so kommt man heute mit einiger Sicherheit auf das Todesdatum, den 23. Februar 167" (12) ­ mehr nicht.

Die Mitteilungen über "literarisches Genus und Stil" (12) bestehen im wesentlichen aus je einem Zitat aus Jordans Literaturgeschichte und Nordens "Kunstprosa". Recht ausführlich stellt B. die griechische und lateinische Textüberlieferung dar (13-15.15-18), doch fehlt der explizite Hinweis, welcher kritische Text übersetzt und kommentiert wird (auf textkritische Fragen geht die Kommentierung nur ausnahmsweise ein).

Der Abschnitt zur Teilungshypothese (18 f.) endet aporetisch, denn B. zitiert die ihm entgegenstehenden Überlegungen Völters so ausführlich und ohne Auseinandersetzung, daß man zuletzt wieder ratlos vor B.s eigener Auffassung steht. Die ganz zutreffende Einsicht, daß man die Teilungshypothese gerade nicht auf das berühmte "qui cum eo sunt" Pol 13,2 stützen darf (der zugrundeliegende griechische Text hat möglicherweise ohne Verb formuliert), wird erst in der Kommentierung (32) nachgetragen.

Zum Verhältnis von Pol zu den Pastoralbriefen (25-28) wird breit von Campenhausens These zitiert ­ aber ohne eigene Stellungnahme. Tatsächliche syntaktische und semantische Berührungen werden auf ca. zehn Zeilen dargestellt. Zur Frage nach den Berührungen mit 1Clem wird die schon von Lightfoot gebotene und von Völter revidierte Liste unkommentiert wiedergegeben (28-30). Man wünschte zudem eine zusammenfassende Darstellung der Berührungen von Pol mit 1Petr und den Ignatianen.

Die Kommentierung stellt 1Pol voran, um dann kapitelweise 2Pol zu behandeln. Sie bietet neben philologischen und sachlichen Erklärungen die Dokumentation von mit Pol vergleichbarem Material aus der frühchristlichen und patristischen Literatur. Eine schöne Erläuterung liest man zu 11,3: B. identifiziert in dieser Passage eines der von ihm so genannten "Vexierzitate", hier in Form einer Kombination verschiedener paulinischer Passagen. Auch traditionsgeschichtliche Einblicke werden gewährt, ohne daß man jedoch den Eindruck einer wirklich systematischen Auswertung des Materials (mit den heute zur Verfügung stehenden Hilfsmitteln) gewönne oder daß auf mögliche Wege der Vermittlung reflektiert würde. Insgesamt verstärkt der Kommentarteil den an der Einleitung gewonnenen ambivalenten Eindruck; nicht immer habe ich verstanden, warum B. gerade dies und nicht jenes ausführlicher mitteilt und bedenkt.

Vom Kommentar her ergeben sich Klarstellungen, bisweilen jedoch auch erhebliche Spannungen zu dem in der Einleitung Festgestellten. Spuren von Joh lassen sich entdecken; vgl. zu 10,1: 63 Anm. 2; zu 12,3: 69 Anm. 12 und 73 ("eine Kombination von Joh 15,16... mit 1 Tim 4,15"); daß Pol keine Berührung mit dem zeitgenössischen Judentum hat, schließt offenbar besondere traditionsgeschichtliche Nähe zur Qumranliteratur nicht aus (43.49); in 12,1 begegnet durchaus ein alttestamentlicher Schriftbeweis (69-71); in 4,3 ist kein Witwenstand im Dienst der Gemeinde gemeint (51). Daß Polykarp sich nicht als Bischof bezeichnet, mag sich daraus erklären, daß "das Heraustreten des Bischofs aus der Reihe der Presbyter noch nicht so entschieden wie später empfunden worden ist" (34). Weiter geht die Feststellung, daß es bei den Philippern "noch nicht den Monepiskopat gab" (ebd.).

In der Übersetzung fallen Flüchtigkeiten und m.E. zu weit gehende Freiheiten auf, so bleibt 5,2 kai Christou unübersetzt; 6,1 erweicht zum geläufigeren Plural "Witwen, Waisen und Arme"; 7,1 formuliert "steht auf der Seite des Teufels" statt "ist aus dem Teufel"; 7,2: "wachen in Gebeten" statt "nüchtern sein zu den Gebeten"; 8,2 und 9,1 übersetzen hypomone unkommentiert mit "Leiden". Die Wiedergabe von episteusamen 8,2 durch "wir haben dieses/daran geglaubt" wird als "eine zu schwache, oberflächliche Übersetzung" (61) abgelehnt, aber dennoch geboten.

Nützlich sind der im Anhang gebotene Wiederabdruck der Funkschen Rekonstruktion der altlateinischen Übersetzung von Pol (87-93) und das für Kommentare leider noch nicht allgemein übliche Namens- und Sachregister (109-112; 95-109: Autoren und Stellen).