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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

332-334

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Kunter, Katharina, u. Jens Holger Schjørring [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Kirchen und das Erbe des Kommunismus. Die Zeit nach 1989 – Zäsur, Vergangenheitsbewältigung und Neubeginn. Fallstudien aus Mittel- und Osteuropa und Bestandsaufnahme aus der Ökumene.

Verlag:

Erlangen: Martin-Luther-Verlag 2007. 396 S. m. Abb. u. Tab. 8°. Kart. EUR 29,00. ISBN 978-3-87513-155-0.

Rezensent:

Stefan Samerski

Bereits der lange und komplizierte Titel macht deutlich, dass es sich bei diesem Sammelband um ein wenig homogenes mixtum compositum handelt, das die Dokumentation der Tagung »Kirchen im Kommunismus: Vergangenheitsbewältigung und die Suche nach einer neuen gesellschaftlichen Rolle nach 1989« von 2005 darstellt. Inhomogen wirkt das Werk schon bei einem ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis: Im ersten Hauptteil werden wissenschaft­liche Abhandlungen über die jüngste Situation des Protestantismus in Ost(mittel)europa dargeboten, während der zweite Teil aus Zeitzeugnissen mit stark subjektiver Note besteht. Im dritten Teil werden etwas krampfhaft Fallbeispiele aus dem Ökumenischen Rat der Kirchen, dem Lutherischen Weltbund, der Katholischen und der Orthodoxen Kirche zusammengefasst, die thematisch schwer auf einen Nenner zu bringen sind. Hier spiegelt sich nur ansatzweise die ökumenische Perspektive des Sammelbandes wider, der sich die Herausgeber jedoch verpflichtet fühlen (10). So kommen die Katholische und die Orthodoxe Kirche, der die breite Mehrheit der Bevölkerung in Ost(mittel)europa angehört, in diesem Sammelband kaum zu Wort, obgleich das der Titel des Buches vermittelt. Verständlich werden die Konzeption und das Anliegen des Werkes erst in Zusammenhang mit den vorangegangenen drei Sammelbänden der entsprechenden Tagungen, wo es zielklar um die geschichtliche Aufarbeitung der protestantischen Kirchen in der kommunistischen Ära ging. Das Werk von Kunter/Schjørring legt den Fokus auf die postkommunistische Zeit mit der entsprechenden Vergangenheitsbewältigung, die auch eine halbe Generation später überall nur relativ schleppend vorankommt, aber hochnotwendig für eine Großinstitution wie die Kirche ist, die auf persönliches Vertrauen und Glaubwürdigkeit angewiesen ist. Auch schon deshalb, weil der zeitliche Abstand zu den Ereignissen noch zu kurz ist und zahlreiche damals Handelnde noch weiterhin aktiv sind, bleibt eine saubere und ehrliche Historiographie über diesen Sammelband hinaus ein Desiderat, das auch der nicht leisten kann. Zudem ist der gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Transformationsprozess noch in vollem Gange, so dass Neuorientierungen und Vergangenheitsbewältigung längst noch nicht abgeschlossen sind. Insgesamt wäre dem wichtigen Anliegen des Sammelbandes sicherlich mehr gedient, wenn man ihm eine konzise methodische Konzeption zu Grunde gelegt und nicht historiographische, persönliche und theologische Beiträge gemischt hätte. So viel sei vorab gesagt.
Der erste, als Überblick dienende Beitrag von Miklós Tomka wertet Langzeitstudien und Statistiken aus und weist auf die Orientierungslosigkeit der ost(mittel)europäischen Gesellschaften nach der Wende hin. Inhaltlich bringt er kaum etwas Neues, da sowohl das Material als auch dessen Auswertung zumeist aus der ersten Hälfte der 90er Jahre stammen. Tomka weist sehr richtig darauf hin, dass die Zunahme des Faktors Religion nach der politischen Wende nicht den verfassten Kirchen wie eine reife Frucht in den Schoß fiel, sondern dass diese mit dem Gegenwind von Sekten, Militär und Wirtschaft als Orientierungsgeber zu rechnen hatten. Der Experte für den zeitgenössischen Protestantismus in Polen, Olgierd Kiec, be­leuchtet das tiefe Misstrauen zwischen den evangelischen Kirchen und dem polnischen Staat, das nach 1989 nicht geringer geworden ist. Trotz merklicher Fortschritte in der Ökumene fühlen sich polnische Protestanten immer noch von der omnipräsenten Katholischen Kirche erdrückt. Der sprachlich verbesserungswürdige englische Beitrag über die Kirche in Tschechien (Ivana­ Noble) hält nicht das wissenschaftliche Niveau der vor­angegangenen Artikel, sondern ähnelt einem Plädoyer: Die große Chance für die Kirchen nach 1990 müsse als Öffnung gegenüber den gesellschaftlichen Ansprüchen genutzt werden. Peter Sˇ vorc stellt historisch-kritisch die Situation des Augsburger Bekenntnisses in der Slowakei dar. Die Evangelische Kirche wollte bewusst einen Beitrag leisten zur erstmaligen Eigenstaatlichkeit in der Ge­schichte. Katharina Kunter beschäftigt sich mit der Erinnerungskultur in der DDR; der dortige Protestantismus, der gleichermaßen durch Kooperation und Widerstand geprägt war, trat nach der Wende in eine Phase der Selbstreflexion und der Historiographie ein.
In Estland ist es dem Kommunismus gelungen, kirchliche Traditionen zu einem großen Teil zu vernichten. Riho Altnurme weist nach, dass dort die kirchliche Praxis seit 1991 konstant zurückgeht und die Rückkehr der Lutherischen Kirche in die Gesellschaft nicht gelungen ist. Zu ergänzen wäre hier (was auch für vergleichbare osteuropäische Staaten gilt), dass die mit der Russifizierung ge­paarte Religionspolitik der Sowjetunion bei der Zerschlagung der Kirchen dort besondere »Erfolge« erzielen konnte, wo das Land konfessionell stark inhomogen war. Der Altmeister der russischen Re­ligionshistoriographie, Gerd Stricker, zeigt auf, dass der Massen­exodus der Russlanddeutschen nach 1994 zu einem Aussterben der lutherischen Gemeinden in den GUS-Staaten führte. Der Rest bekam den Druck der Orthodoxen Kirche nicht so deutlich zu spüren wie die Katholische Kirche, wodurch ökumenische Gespräche für die Evangelischen weniger belastet sind. Ex-Jugoslawien bietet eine unübersichtliche politische und religiöse Landschaft. Ludwig Steindorff weist auf das geringe protestantische Leben in dieser Region hin, die noch auf eine geschichtliche Erforschung wartet. Ähnlich wie in den GUS-Staaten ist in Rumänien durch den Wegzug der lutherischen Bevölkerung (Deutsche) der Fortbestand dieser konfessionellen Denomination überhaupt bedroht (Hermann Pitters).
In den Zeitzeugnissen aus Estland, Ungarn, Serbien und Norwegen kommen nicht nur ganz andere Aspekte (Exilkirche) und außerhalb der Gesamtthematik liegende Regionen zur Sprache, sie bieten auch methodologisch Schwierigkeiten bei der Rezeption, insbesondere dann, wenn sogar die Beiträge mit Fußnoten und Literaturangaben gespickt sind (Terray, Zászkaliczky).
Der dritte Teil, »Das ökumenische Erbe«, ist bereits in sich sehr inhomogen. Der instruktive und selbstkritische Beitrag von Armin Boyens beleuchtet die Arbeit des Ökumenischen Rates der Kirchen und seine Vergangenheitsbewältigung nach 1995, ohne allerdings Osteuropa näher zu berücksichtigen. Jens Holger Schjørring versucht eine Bestandsaufnahme der Arbeit des Lutherischen Weltkonvents/Weltbunds der letzten 50 Jahre, den er nach 1945 unkritisch als »Bollwerk gegen den Totalitarismus« (298) charakterisiert. Richtig ist sicherlich, dass die Ost-West-Thematik für den Weltbund ein Problem unter vielen war. Der Kenner Csaba Szabó be­leuchtet dagegen nur die Situation der Katholischen Kirche in Un­garn zwischen 1945 und 1989, was an der Thematik des Sammelbandes streng genommen vorbeigeht. Der bewährte Beobachter Dieter Bingen zeigt die letzten beiden Dezennien von Polens katholischer Kirchengeschichte auf; und Per-Arne Bodin widmet sich dankbar der Orthodoxen Kirche im Kommunismus, ohne allerdings Substantielles zur Vergangenheitsbewältigung nach 1990 zu sagen.
Die abschließenden beiden Beiträge setzen sich wiederum me­thodisch stark vom Bisherigen ab. Nicholas Hope beobachtet in einem weit ausholenden Überblick als Statement Kontinuitäten und Wandel nach 1989 in ökumenischer Sichtweise; Michael Beintker geht es um die theologischen Herausforderungen des kommunistischen Erbes für die Kirchen, wobei er der kritischen protestantischen Theologie Pilotfunktion für die Bewältigung der kirchlichen Gegenwartsprobleme nach dem Fall des Kommunismus zuordnet.
Insgesamt gesehen bietet der Sammelband zahlreiche wertvolle Einzelerkenntnisse, die trotz der wenig konzisen Form der Kompilation Aufmerksamkeit verdienen – so wie insbesondere das Thema des Sammelbandes.