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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

330-331

Kategorie:

Kirchengeschichte: 20. Jahrhundert, Zeitgeschichte

Autor/Hrsg.:

Friedenthal-Haase, Martha [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Evangelische Akademien in der DDR. Bildungsstätten zwischen Widerstand und Anpassung.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2007. 712 S. gr.8°. Geb. EUR 48,00. ISBN 978-3-374-02465-0.

Rezensent:

Rudolf Mau

Die kirchlichen Akademien in der DDR waren »Lernorte eigener Art«, da sie nicht dem staatlichen Bildungsmonopol unterworfen waren und vor allem dank der nie abreißenden Beziehungen nach Westdeutschland immer auch eine Brücke nach außen bildeten. Inmitten der ideologischen Diktatur blieben sie eine »Enklave relativer akademischer Freiheit« (15.18). Das ist die Kernaussage des Bandes, der die Ergebnisse einer vierjährigen Forschungsarbeit präsentiert, die von Martha Friedenthal-Haase, Inhaberin des Lehrstuhls für Erwachsenenbildung des Instituts für Erziehungswissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena, geleitet wurde. Weitere sechs Autorinnen und Autoren, darunter vier mit theologischer Qualifikation, waren an der Publikation beteiligt. Ein Oberseminar zu Fragen der Erwachsenenbildung hatte die Arbeit am Projekt begleitet. Die Darstellung beruht weitgehend auf Ergebnissen der Befragung von Leitern und Teilnehmern der Akademietagungen. Mit dem Untertitel »Zwischen Widerstand und Anpassung« greift die Publikation ein ebenso gängiges wie auch umstrittenes Deutungsschema auf, das hier nun aber aus bildungstheoretischer Sicht eindringlich und weiterführend reflektiert wird.
In seinem ersten Teil behandelt das Buch »übergreifende Perspektiven und Sachverhalte« zur Bildungsthematik (27–206). Dem besonderen Profil einzelner Institutionen gilt eine Reihe weiterer Beiträge (209–425). Ein umfangreicher Anhang dokumentiert Quellen aus der Arbeit der Akademien mit besonderer Beachtung politisch brisanter Jahre (441–689). Das Personenregister mit etwa 1200 Namen zeigt den Radius von Erkundung und Befragungen (695–709).
Ein historischer Überblick von Aribert Rothe beschreibt die Evangelischen Akademien als »besondere Orte in Bildungsgeschichte und Bildungslandschaft« (27–88). Er verweist auf Ansätze des Akademiegedankens in den Evangelischen Wochen der Bekennenden Kirche (bis zu deren Verbot), auf Helmut Thielickes Anregung von 1942 zur »theologischen Durchdringung aller Lebensgebiete« und auf die Gründung der Evangelischen Akademie Bad Boll schon im Herbst 1945 als »Typus der Evangelischen Akademie«, erinnert aber auch an deren Vorläufer in der älteren evangelischen Volksbildungsbewegung, die auch bei den »Deutschen Christen« und in nationalprotestantischen Kreisen Resonanz gefunden hatte (38). Ab 1948 kam es in rascher Folge zu Neugründungen, jetzt schon im Spannungsfeld der Ost-West-Konfrontation. Das ge­meinsame Leitmotiv der Akademiearbeit in beiden Teilen Deutschlands war die Mitverantwortung für das öffentliche Leben im Zeichen der Orientierungskraft der christlichen Botschaft. Die Ta­gungsthemen waren in Ost und West über längere Zeit weitgehend identisch. Unter der ideologischen Diktatur war und blieb die Akademiearbeit nur dadurch möglich, dass die Landeskirchen sie trugen und verantworteten. Schon auf Grund der besonders sorgfältigen, auch vom SED-Zentralkomitee beachteten Findung ge­eigneter Themen waren die Tagungen attraktiv (98). Ihrer Westkontakte wegen galten die Akademien als »Kampforganisationen gegen den Sozialismus« und wurden staatsfeindlicher Betätigung bezichtigt. Später gewann die ökumenische Orientierung an Be­deutung. Mit den Akademietagungen und ihrem lehrhaften Vortragsstil konkurrierten bald auch neue kirchliche Bildungsange­bote wie die Gemeindeseminare.
Bildung war für die ideologische Diktatur eine zentrale Machtfrage. Sie wurde durch die alternativen kirchlichen Bildungsangebote tangiert. Deren Stil wurde bedeutsam: Hier gab es »unzensierte Informations- und Bildungsprozesse« und »Freiräume dialogischen Lernens«. Angesichts verbreiteter Resignation konnten die Sprache und Symbole der jüdisch-christlichen Tradition dem Prinzip Hoffnung Raum verschaffen (65.68). Ihren Teilnehmern boten die Akademien freilich auch recht unterschiedliche Erfahrungen. So war in Thüringen oder Sachsen mehr innerkirchliche Zurückgezogenheit zu erleben, in Sachsen-Anhalt zunehmend ein offenes Sich-Einlassen auf die Fragen der Zeit.
Interviews der Herausgeberin mit Akademie-Studienleiterngalten den »Bildungsvorstellungen und Bildungsidealen im ostdeutschen Protestantismus« (89–110). Sie betonten einhellig den Gegensatz zu der auf Lernstoffvermittlung, Schulung und Formung der »sozialistischen Persönlichkeit« zielenden DDR-Bildungsdoktrin und nannten als Propria der Akademiearbeit Offenheit und Dialog, ein Kultivieren von Geist, Leib und Seele, den seelsorgerlichen Aspekt, Förderung von Mündigkeit, auch einen in die Gesellschaft hineinwirkenden Missionsgedanken. Bedeutsam wurde, dass Teilnehmer sich hier »ganz frei« fühlen konnten. Die Distanz zu DDR-Normen und der lebendige Umgang miteinander machten die Akademie als einen »Grenzort« erlebbar (108).
Gespräche über »Selbstbildungsprozesse in der DDR«, die Sabine Nagel mit Tagungsteilnehmern führte, bestätigen und ergänzen dies (111–155). Sonst ständig durch den Staat bevormundet, erlebten sie die Tagungen als eine wichtige Quelle »nicht-konformer Bildung«. Die Offenheit dieser Arbeit, ihre Internationalität und Interkulturalität ließen sie das Christentum als eine »andere Kultur« erleben – im Grunde als das, »was eigentlich normal ist« (140.145). Indem die Tagungen in einem relativ geschützten Raum Orientierungs- und Urteilsfähigkeit vermittelten, wurden sie für die Teilnehmer zu einer »herausragenden Ressource für ihre Selbstbildung« (152).
Die Herausgeberin bündelt den Ertrag der vorangehenden Kapitel unter dem Aspekt »›Widerstand‹ und ›Anpassung‹ in der Perspektive von Bildung« (157–206). Für die Deutung ihrer Erfahrungen und ihrer Haltung erschienen den Befragten diese Begriffe zunächst kaum geeignet, da im neueren Diskurs »Widerstand« vor allem politisch-aktionistisch und »Anpassung« meist auch als Versagen gedeutet wurde; in den Interviews waren auch durchaus unterschiedliche Urteile über die DDR samt (enttäuschter) Re­formerwartungen zur Sprache gekommen. Friedenthal-Haase sucht aber, einem weiter gefassten, mentalen (»pädagogisch-an­dragogischen«) Sinn des Begriffspaares Geltung zu verschaffen: Bei »konflikthafter Auseinandersetzung mit Normen und Machtansprüchen« jeglicher Art sei Widerstand als »hemmende Gegenkraft« und Anpassung als »zweckmäßige Einstellung auf Umwelteinflüsse« zu verstehen (162). Dank ihrer Distanz zur SED-Diktatur und der Auseinandersetzung mit dem durch sie dominierten Umfeld sei die Arbeit der Evangelischen Akademien ein »substanzieller Beitrag zum geistigen Widerstand in der DDR« gewesen (160). Eine »Tat des Widerstands« sei schon die »Behauptung und Bewahrung von etwas ›Anderem‹, von einem menschheitlichen Wertsystem, das über die Staatsideologie hinausweist und an der Möglichkeit sittlicher Autonomie orientiert ist«, gewesen (435).
Das Forschungsprojekt bezog sich vor allem auf die landeskirchlichen Akademien. Zu den überregionalen Akademien wird anhand der Literatur informiert (Luther-Akademie, 58 ff.; Evangelische Forschungsakademie, 385 ff.). – Was das Buch an einem speziellen kirchlichen Arbeitsfeld zeigt – insbesondere mit sorgsamer Erkundung und Beschreibung mentaler Vorgänge –, verdient Beachtung auch darüber hinaus. Der bildungswissenschaftliche Ertrag ist auch theologisch relevant und bereichert die Debatte zur kirchlichen Zeitgeschichte.