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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

320-322

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Pujiula, Martin

Titel/Untertitel:

Körper und christliche Lebensweise. Clemens von Alexandreia und sein Paidagogos.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XII, 420 S. m. 1 Abb. gr.8° = Millennium-Studien. Millenium Studies, 9. Geb. EUR 88,00. ISBN 978-3-11-018920-9.

Rezensent:

Dietmar Wyrwa

Die hier anzuzeigende Dissertation von M. Pujiula ist an der Universität Kassel im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften am Lehrstuhl für Alte Geschichte bei Helmuth Schneider, dem Mitherausgeber des DNP, entstanden, unter offenbar interdisziplinärer Arbeitsvernetzung, worauf die Übernahme des Zweitgutachtens durch Helmuth Rolfes vom Institut für Katholische Theologie ebendort weist. Die Arbeit will das christliche Erziehungsprogramm untersuchen, das Clemens in seiner Schrift »Der Paidagogos« unter der leitenden Fragestellung, »wie sich jeder einzelne von uns (sc. der sich Christ nennt) zu seinem eigenen Körper verhalten oder vielmehr wie er ihn richtig lenken muss« (Paid. II 1,2), entworfen hat. Zu Recht sieht der Vf. hierin ein Kernproblem christlicher Lebenspraxis, ist doch der Körper für Clemens »das Medium, in dem und durch das der Christ sich auf dem Weg zu Gott bewähren muss« (120, vgl. 151). Indem der Vf. sich dabei namentlich auf die einschlägigen Bücher II und III des Paidagogos konzentriert, hofft er zugleich, dieser Schrift, die, wie er beklagt, in der wissenschaftlichen Diskussion wegen der Arbeitsteilung zwischen Theologen und Althistorikern allzu oft vernachlässigt worden ist, die ihr gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden lassen. Methodisch ist sein Vorgehen durch eine dezidiert interdisziplinäre Arbeitsweise gekennzeichnet, die sich neben den herkömmlichen fachspezifischen Fragestellungen auch neueren Forschungsansätzen etwa sozialgeschichtlicher, medizingeschichtlicher oder mentalitätsgeschichtlicher Art öffnet. An einem exemplarischen Beispiel soll so ein integraler kulturgeschichtlicher Beitrag zur ethischen Bewertung des Umgangs mit dem eigenen Körper erhoben werden (vgl. 9). Bewusst ausschließen möchte der Vf. allerdings eine alltagsgeschichtliche Interpretation des Paidagogos. In einem kurzen Bericht zum Stand der Forschung wendet er kritisch gegen die bekannten Studie von P. J. G. Gussen (1955), die in diese Richtung vorgestoßen ist, ein, dass von Clemens’ normativen Anweisungen nicht einfach auf die empirischen Gegebenheiten der Lebensverhältnisse in Alexandrien zu seiner Zeit zurückgeschlossen werden kann (5.31 mit Verweis auf die diesbezügliche Rezension von L. Früchtel [Gnomon 27, 1955]; hier wäre auch das gewichtige Votum von H. I. Marrou [SC 70, 86–91] am Platz gewesen, der merkwürdigerweise im Forschungsbericht überhaupt nicht genannt wird und auch sonst nur wenige Male beiläufig begegnet).
Der Gang der Untersuchung weist zwei Schwerpunkte auf. Einmal sollen die sog. Einleitungsfragen zum Paidagogos des Clemens geklärt werden, um diese Schrift aus ihren eigenen Voraussetzungen heraus verständlich zu machen, was der Vf. als eigenständigen Forschungsbeitrag verstanden wissen möchte. Diese Fragen, d. h. alles, was irgendwie zur Biographie des Clemens, zu seinem literarischen Wirken, zu den historischen Rahmenbedingungen in Alexandrien und des dortigen Christentums sowie zu seinem er­schließbaren Adressatenkreis gehört, werden sehr weitläufig in Kapitel 2 behandelt (101 Seiten). Das liest sich bisweilen wie ein eigenständiges Referat der Forschungsgeschichte der letzten 100 Jahre, wo neben instruktiven Rückblicken (z. B. 42–49) auch Thesen erneut aufgerollt werden, die längst erledigt geglaubt waren (z. B. 56 –60), wo alte, die Interpretation des Paidagogos höchstens mittelbar tangierende Aporien nochmals hin- und hergewendet werden (z. B. 73–82) oder wo in umstrittenen Einzelfragen neuere Lösungsvorschläge zu Gunsten älterer Forschungspositionen verworfen werden (z. B. 20 ff.53 f.102–112). Merkwürdig nimmt sich die um­fängliche Widerlegung eines L. Früchtel zugeschriebenen Einwandes, der Paidagogos könne nicht in Alexandrien entstanden sein, aus. Das hatte L. Früchtel (Gnomon 27, 1955, 607) so gar nicht behauptet. Wenn der Vf. die in diesem Zusammenhang relevante Erwähnung des mendesischen Weines sozialgeschichtlich breit untermauert (31–39), so bestätigte er damit die ansonsten gar nicht zweifelhafte alexandrinische Abfassung des Paidagogos. Immerhin wäre noch erwähnenswert gewesen, dass dieser liebliche Weißwein gern in diätetischen Zusammenhängen empfohlen wird (z. B. Hippokr., aff. 13,22; Ps. Galen, succ. 19, 738,7; Galen, comp. med. 12, 572,14; med. 12, 444,11; Pap. mag., 1, 88 u. ö.), was ganz zum literarisch-topischen Charakter der Stelle passt.
Von größerem Gewicht für die Forschung sind die Untersuchungen dort, wo sie sich dem zweiten Schwerpunkt der Arbeit, dem Thema des Körpers im Paidagogos, widmen. Unter der Überschrift »Die Beurteilung des Körpers« gibt Kapitel 3 einen komprimierten Überblick über die Wertung des Körpers in paganer, biblischer und frühchristlicher Tradition, aus denen sich Clemens’ eigenständig formulierte Position speist (37 Seiten). Demnach zeige Clemens phi­losophischerseits im Grundsätzlichen kaum Berührungen mit der abschätzigen Haltung eines Epiktet oder Mark Aurel, sondern stehe näher bei Musonius und Plutarch, auch wenn eine philosophisch geprägte Distanz gegenüber dem Körper und seinen Regungen, den Affekten, nicht völlig fehlt. Andererseits führen das hellenistisch vermittelte biblische Erbe und die frühchristliche Tradition zur Bejahung der schöpfungs-, inkarnations- und auferstehungstheologisch begründeten Würde des Körpers, die eine Leibfeindlichkeit, sei es gnostischer, sei es enkratitischer Provenienz, unmöglich macht. Doch sei zu beachten, dass es Clemens im Unterschied zu Buch III der Stromateis im Paidagogos nicht um dogmatische Positionierung geht, sondern um die lebenspraktischen Konsequenzen, um Orthopraxis des Körpers. – Das leitet hinüber zu den folgenden beiden Kapiteln, die in dialektischer Zuordnung Clemens’ Orientierungsnormen unter sys­tematischen Gesichtspunkten auf der Grundlage reichen Parallelmaterials und in sachlich ausgewogener Differenzierung analysieren. Kapitel 4, überschrieben »Die Sorge für den Körper«, behandelt Aspekte in Clemens’ Anweisungen, die eine positive, bejahende Beurteilung des Körpers implizieren (84 Seiten), und Kapitel 5, überschrieben »Die Furcht vor dem Körper«, thematisiert Aussagen, denen eine distanzierte, skeptische Haltung gegenüber dem Körper zu Grunde liegt (98 Seiten).
Generell – das zeigen die Ausführungen des Vf.s sehr eindrück­lich– verficht Clemens das legitime Recht eines jeden Christen und einer jeden Christin, auf sein bzw. auf ihr körperliches Wohlbefinden zu achten. Er bejaht die Befriedigung notwendiger körperlicher Bedürfnisse im Rahmen eines ausreichenden Maßes, so dass auch für die Aufrechterhaltung der Gesundheit gesorgt ist. Besonderes Interesse ziehen die Ausführungen des Vf.s zur antiken Diätetik auf sich (168–177), wo er nachweist, dass Clemens ebendieser Tradition, und zwar weniger der medizinischen als der philosophischen Diätetik, verpflichtet ist und mit ihr christliche Motive verbindet. Die Beziehungen zur gesundheitsorientierten Diätetik, die auch Frauen einbezieht, geht nicht nur aus seinen Empfehlungen einfacher Ernährung, sondern auch aus seiner Befürwortung körperlicher Betä­tigungen hervor. Ebenso akzeptiert er Bad und Körperpflege, wenn­gleich auf diesen Gebieten in stärkerem Maße restriktive Reg­lementierungen, doch ohne grundsätzliche Infragestellung, festzustellen sind. Einer asketischen Haltung nähere sich Clemens lediglich dort, wo er fordert, den Schlaf soweit wie möglich zu reduzieren (234 f.). Insgesamt jedoch sei die Anerkennung der Sorge für den Körper und zumal für seine Gesundheit »in dieser Deutlichkeit in der christlichen Literatur seiner Zeit einmalig« (338).
Die Aufgeschlossenheit gegenüber den Belangen des Körpers findet indessen eine Grenze, wo das berechtigte und zulässige Maß überschritten wird. Alles, was darüber hinausgeht wie etwa übertriebene und unnatürliche Kosmetik oder Haarpflege, wird von Clemens als potentiell bedrohlich gewertet und, weil es die Sittlichkeit zu zersetzen geeignet ist, abgelehnt. Gefordert sind Mäßigung, Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung. Wiederum ist es aufschlussreich, dass der Vf. in diesem Zusammenhang Clemens’ Vertrautheit mit der antiken Physiognomik nachweisen kann (263–278).
Einen weiteren diesbezüglichen Aspekt stellt die Scham vor dem Körper dar. Zwar vertritt Clemens trotz gewisser Reservationen gegenüber körperlichen Ausscheidungen »keine puritanische Tabuisierung des Körpers«, auch nicht der Geschlechtsorgane, denn Gott habe sich auch nicht geschämt, sie zu erschaffen (279). Aber im Hinblick auf das Schamgefühl wird der Körper bei Männern ganz anders beurteilt als bei Frauen. Während körperliche Entblößung von Männern je nach den gegebenen Umständen im Gymnasium oder im Bad etwa hinnehmbar sei, ist dergleichen bei Frauen keineswegs zu dulden. Da fordert Clemens weithin konform mit zeitgenössischen Moralvorstellungen angesichts der verführerischen Liebreize des weiblichen Körpers die völlige Verhüllung der Frauen in der Öffentlichkeit, ihre weitestgehende Ausgrenzung aus dem gesellschaftlichen Leben und – ohne Rücksicht auf sozialbedingte Faktoren – ihren generellen Ausschluss aus gemischten Bädern. Vom Körper der Frau geht in seinen Augen eine verführerische Gefahr aus, wodurch sie selbst zu Fall kommen und andere zu Fall bringen kann, und Letzteres hat für ihn das durchschlagende Gewicht. Deshalb registriert der Vf. mit Recht eine durchgehende Inkonzinnität in Clemens’ Haltung, insofern er zwar Männer und Frauen gleichermaßen als mögliche Leser seiner Schrift in Betracht zieht, aber die im Paidagogos zum Ausdruck kommende Sichtweise grundsätzlich männlich geprägt ist (112–115.312.336). Was sodann Clemens’ Haltung zur Sexualität betrifft, so ist seine schöpfungstheologisch begründete Bejahung der Legitimität des Geschlechtsverkehrs, sofern dieser ausschließlich zur ehelichen Zeugung von Kindern und natürlich unter Wahrung strengster Sittsamkeit geschieht, hinlänglich bekannt. Aber der Vf. kann auch auf eine andere, weniger beachtete Gedankenlinie bei Clemens aufmerksam machen, wonach der Geschlechtsverkehr im Einklang mit den Reglementierungen der medizinischen Diätetik auf Grund der ihm zugeschriebenen negativen gesundheitlichen Auswirkungen sehr kritisch gesehen wird. Insgesamt nehme die Sexualität bei Clemens jedoch noch nicht jene zentrale Stellung ein, die ihr bei späteren christlichen Autoren beigemessen wird.
Kapitel 7 »Schluß« fasst das Ergebnis dieser kundigen und materialreichen Untersuchung zusammen, gefolgt vom Literaturverzeichnis – einer wahren Fundgrube für interdisziplinäre Studien – und einem Register. Bei der Lektüre des Schlusswortes drängt sich die weiterführende Frage auf, ob das dialektisch ausgewogene Verhältnis von positiver Aufgeschlossenheit und distanzierter Reserve gegenüber dem Körper, das die Position des Paidagogos so unverwechselbar auszeichnet, sich auch auf der höheren, nicht mehr bloß durch Affektkontrolle, sondern durch Affektlosigkeit be­stimmten Stufe des vollkommenen Gnostikers durchhält. Der Vf. thematisiert diese Frage leider nicht mehr, doch scheint er sie wenigstens im Grundsätzlichen implizit zu bejahen, wenn er da­von spricht, dass es schwerfalle, von Clemens aus, wie er sich hier darstelle, eine kontinuierliche Entwicklung zum späteren Mönchtum zu ziehen, und dass sich seine Haltung in der weiteren Ge­schichte nicht durchgesetzt habe (342 f.). Wahrscheinlich hätte der Vf. damit sogar Recht. Indessen urteilte (vom Vf. nicht genannt) kein Geringerer als H. Chadwick, um dieses jüngst verstorbenen großen Gelehrten und intimen Clemens-Kenners auch hier zu gedenken, dass die Bücher III und VII der Stromateis von erstrangiger Bedeutung für das Verständnis der Ursprünge der christlichen Aszetik seien, und bezeichnete deshalb Clemens einen »Liberal Puritan«.