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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

315-317

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Moreschini, Claudio, u. Enrico Norelli

Titel/Untertitel:

Handbuch der antiken christlichen Literatur. Aus d. Italienischen übers. v. E. Steinweg-Fleckner u. A. Haberkamm.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007. XVIII, 662 S. gr.8°. Geb. EUR 98,00. ISBN 978-3-579-05387-5.

Rezensent:

Christoph Markschies

Gute neue deutschsprachige Einleitungen in die antike christliche Literatur waren bisher Mangelware: Das einstige Standardwerk von Berthold Altaner/Alfred Stuiber, Patrologie, wurde letztmals 1978 um Literaturnachträge ergänzt, steht aber in Wahrheit auf dem Stand von 1966, das Nachfolgewerk aus demselben Verlagshaus, das mittlerweile in dritter Auflage vorliegende »Lexikon der antiken christlichen Literatur« (LACL), herausgegeben von Siegmar Döpp und Wilhelm Geerlings, ist selbstverständlich so weit als möglich auf dem Stand der Forschung des Jahres 2002, aber ein alphabetisch geordnetes Lexikon aus der Hand vieler Beiträger und keine Literaturgeschichte aus einer Feder. Hubertus Drobners »Lehrbuch der Patrologie«, erstmals 1994 erschienen, konnte sich aus vielerlei Gründen nicht wirklich am Markt durchsetzen. Umso mehr ist es zu begrüßen, dass das Gütersloher Verlagshaus sich entschlossen hat, eine recht erfolgreiche italienische Literaturgeschichte des antiken Christentums (Storia della letteratura cris­tiana antica greca e latina, 2 Bände in 3 Teilen, Brescia 1995/1996), ge­nauer die überaus erfolgreiche Zusammenfassung einer recht er­folgreichen mehrbändigen Literaturgeschichte in einem, wenn auch voluminösen Band (Manuale di letteratura cristiana antica greca e latina, Brescia 1996), ins Deutsche zu übersetzen und so auf den deutschen Markt zu bringen.
Natürlich merkt man dem Buch, das sehr einheitlich wirkt, gleichwohl an, dass es von zwei Gelehrten geschrieben wurde – zur einen Hälfte von dem in Genf lehrenden Patristiker Enrico Norelli und zur anderen Hälfte von dem in Pisa wirkenden Latinisten Claudio Moreschini: In den Abschnitten des Ersteren sind die kurzen Inhaltsangaben der behandelten Schriften jeweils kleine Meisterwerke (z. B. für die »Teppiche« des Clemens von Alexandrien [140 f.]), in den Abschnitten des Zweiten vor allem die einleitenden allgemeineren Paragraphen (z. B. zur Spätantike und ihren literarischen Formen [240–245]). Außerdem handelt es sich erkennbar um eine Einführung zweier italienischer Kollegen, wie man bereits deutlich an der zitierten Sekundärliteratur sehen kann. So werden mehrfach Referate über größere Forschungskontroversen durch die Positionen des römischen Patristikers Manlio Simonetti abgeschlossen, denen sich Norelli und Moreschini anschließen (beispielsweise bei der diffizilen Frage, ob die Hippolyt zugeschriebenen Texte einem oder zwei Autoren angehören [126], bei der schwierigen Aufgabe, die Grundlagenschrift des Origenes zu gliedern [156], bei dem notorischen Problem, wie die Gnosis entstanden ist [85 f.], oder auch bei der äußerst positiven Beurteilung des vernachlässigten spätantiken Autors Facundus von Hermianae [513]). Problematisch ist das alles gewiss nicht, im Gegenteil: Norelli und Moreschini kennen selbstverständlich auch die klassischen deutschen und anderen nichtitalienischen Entwürfe (so setzen sie sich gleich zu Beginn des Handbuches von der einst hierzulande verbreiteten Unterscheidung in Urliteratur und einer christlichen Literatur im eigentlichen Sinne ab, die von Overbeck stammt und noch von Schneemelcher vertreten wurde [3], übernehmen aber ganz selbstverständlich Harnacks These, die pseudocyprianische Schrift gegen die Würfelspieler De aleatoribus sei möglicherweise der älteste lateinische christliche Text, obwohl diese Ansicht schon zu Lebzeiten Harnacks von latinistischer Seite schwer angegriffen wurde [176.182.208]). Die auffällige Konzentration auf italienische Forschungsbeiträge ist außerdem kein biographisch bedingter Zufall, sondern ein sachgemäßes Zeichen für die derzeit herausragende Rolle dieser Nation im wissenschaftlichen Diskurs über die christliche Antike; Simonettis Thesen beispielsweise werden so auch im deutschen Sprachraum endlich etwas breiter rezipiert. Außerdem ertrinkt das als Lehrbuch gedachte Werk nicht in Forschungsreferaten; immer wieder einmal wird die Diskussion ano­nymisiert zusammengefasst (»einige Wissenschaftler« haben sich für die Zuschreibung des Christus patiens an Gregor von Nazianz ausgesprochen: 310). Die Urteile sind klar und (meistens) nachvollziehbar: Der Matthäus-Kommentar des Hilarius von Poitiers ist (im Vergleich zu dem großen Werk des Origenes und im Unterschied zu seinen trinitätstheologischen Schriften) »provinziell« (397) und die Heiligenviten des Bischofs Ennodius von Pavia »sehr langweilig« (523).
Leider hat der Verlag dem vorzüglichen Werk der beiden italienischen Gelehrten nicht die Betreuung zukommen lassen, die man bei einer Übersetzung eines so herausragenden Buches erwarten darf: Weder hat er das Werk durchgängig auf den Stand des Jahres 2007 gebracht noch diejenigen einschlägigen deutschsprachigen Standardwerke grundsätzlich ergänzt, die in einem italienischen Handbuch selbstverständlich nichts verloren hatten.
Einige wenige Beispiele: Wohl sind die englischen, französischen und italienischen Gesamtübersetzungen der Schriften von Nag Hammadi genannt, nicht aber die deutsche Gesamtübersetzung »Nag Hammadi Deutsch« (Berlin-New York 2001/2003, Studienausgabe 2007: 87 f.). Praktisch alle deutschen Arbeiten, die in den letzten Jahren zur Trinitätstheologie des 4. Jh.s geschrieben wurden, fehlen, obwohl darin selbstverständlich Beiträge zur Geschichte der antiken christlichen Literatur zu finden sind: Abramowski, Bergjan, Brennecke, Drecoll, Löhr, Strutwolf und Vinzent, um nur einige zu nennen. Gelegentlich sind aber stattdessen eher arbiträr einige Dissertationen der Jahre 2006 und 2007 nachgetragen. Leider fehlt auch neuere italienische Literatur: Für Papias sind zwar die deutschen Fragmenteneditionen von Körtner und Kürzinger ge­nannt (beide 1983), nicht aber Enrico Norellis eigene, meisterliche Ausgabe (Papia di Hierapolis, Esposizione degli oracoli del signore, Mailand 2005), die zweisprachige Ambrosius-Ausgabe ist erwähnt, nicht aber die neue Origenes-Edition im selben Verlagshaus. Es fehlen die Bände Michael Lattkes zu den Oden Salomos (114), die epochale Neuedition des griechischen Textes des Danielkommentars von Hippolyt durch Marcel Richard (130), Harald Buchingers wunderbare Dissertation über die Pascha-Schrift des Origenes (165) und sehr viele Bände der durch Wilhelm Geerlings so energisch vorangetriebenen Reihe »Fontes Christiani«: Im Ab­schnitt zu Irenaeus von Lyon sind beispielsweise wohl die Bände der französischen Vorbildreihe »Sources Chrétiennes« und Antonio Orbes großer Kommentar genannt, nicht aber Norbert Brox’ schöne Ausgabe in den »Fontes«. Immerhin sind für Didymus den Blinden nicht nur Hermann Josef Siebens Ausgabe von De spiritu sancto, sondern auch viele weitere, eher weniger bekannte deutsche Editionen erwähnt (282). Auch wenn in den letzten Jahren viele antike christliche Texte in Frankreich und Italien mustergültig ediert worden sind, sollte man doch die große deutsche Athanasiusausgabe nicht verschweigen, die von Hans Lietzmann inauguriert, von Hans-Georg Opitz begonnen wurde und in jüngster Zeit unter Martin Tetz wie Hanns Christof Brennecke ein gutes Stück vorangekommen ist. Apolinarius von Laodicaea darf man so viele Jahre nach Lietzmanns Edition nicht mehr nach der »Patrologia Graeca«, der cloaca maxima der patristischen Editionen (Eduard Schwartz), zitieren oder bibliographieren (277); Gleiches gilt für den antimontanistischen Autor Hegemonius (270). Theodorus Lector wurde schon 1971 (21995) durch Günther Christian Hansen in den GCS herausgegeben und muss nicht mehr nach PG zitiert werden (anders auf S. 637).
Außerdem fehlt dem Buch erkennbar eine letzte Durchsicht auf Flüchtigkeitsfehler: Jörg Frey, nicht Fry (39), Kurt Rudolph hat nicht über den gnostischen Dialog als literarischen »Genuss« ge­schrieben, sondern als Genus (71), Pierre de Labriolles Quellensammlung zum Montanismus erschien nicht erstmals 1980, sondern im Nachdruck (94), der große Tertullianforscher heißt René Braun und nicht »N.« (197), für den Donatisten Tyconius wird jeweils nur eine Seitenzahl gegeben: PL 18, 15– [66]; PLS I, 622–[652], obwohl beide Editionen gar nicht mehr zitierfähig sind, Winkelmanns Bearbeitung der Ausgabe des Philostorgius von Bidez erschien sicher nicht 19722 (628) usw. – in einem für Studierende bestimmten Einführungswerk sind solche Kleinigkeiten leider keine Petitessen, zumal das italienische Original hier im Gegensatz zu seiner deutschen Übersetzung mustergültig korrekt ist (im Falle von Frey und Rudolph vgl. Storia Vol. I, 132.219).
Trotz solcher, dem Verlag anzulastender Mängel, die in einer weiteren Auflage unbedingt behoben werden müssen, aber auch leicht behoben werden können, liegt wie gesagt ein herausragender Entwurf einer christlichen Literaturgeschichte vor – durchgängig an der Aufgabe orientiert, einen antiken Autor »vor allem als christlichen Schriftsteller zu betrachten« (301). Da christliche Literatur nach Norelli und Moreschini durch die Inhalte definiert wird (2), beginnt ihr Buch bei den Paulusbriefen (5) und endet mit Autoren des 6. Jh.s (646–649: Olympiodor von Alexandrien, Kosmas Indikopleustes, Oecumenius von Tricca und Andreas von Caesarea). Johannes von Damaskus, der sonst gern die patristische Epoche abschließt, bleibt außen vor. Enrico Norelli zeichnet ein beeindruckend geschlossenes Bild der literarischen Überlieferung, das neben den Texten der Hochliteratur auch die Kirchenordnungen und die apokryphe Literatur umfasst. Insbesondere Claudio Moreschini legt seinen Schwerpunkt nicht auf die Dogmengeschichte, sondern eher auf die Biographie der Autoren, die Kulturgeschichte und die Literaturgeschichte im engeren Sinne. So gelingt ihm beispielsweise bei der Schilderung der gleichzeitig dezentralen, aber nicht abgelegenen Position Kappadoziens und der gemeinsamen Biographie der großen Kappadozier eine spannende Charakterzeichnung – in seiner jüngst erschienenen italienischen Monographie »I Padri Cappadoci« (Rom 2008) sind Moreschini auch ein­drück­liche Passagen zur trinitätstheologischen Debatte der Zeit gelungen. Die hierzulande eher vernachlässigten asketischen Schriften des Kappadoziers Basilius werden auf dem letzten Stand der Forschung sehr präzise referiert (398 f.). Natürlich kann man auch ein hervorragendes Werk noch verbessern: Im »Handbuch« bleiben insbesondere die Antiochener etwas blass (nämlich vor allem als Exegeten – auch 1996 konnte man über das christolo­gische Hauptwerk Theodor von Mopsuestias, De incarnatione, schon mehr schreiben). Apolinaris und Theodor haben nicht einfach chris­tologische »Häresien« formuliert, sondern in einer Art Gegenzug die Einheit in Christus bzw. die Unterscheidung akzentuiert, vielleicht auch überakzentuiert – aber der Häresiebegriff führt hier wenig weiter. Die Theologie des Nestorius kann man nach den Forschungen von Alois Kardinal Grillmeier und Luise Abramowski deutlich gerechter profilieren (565 f.). Die jüngsten Debatten über den pelagianischen Streit und die nicht nur in diesem Zusammenhang aufgebrochene kritische Diskussion über Augustinus haben ebenfalls Erwähnung verdient.
Enrico Norelli und Claudio Moreschini ist ein beeindruckendes Werk aus einem Guss gelungen, das sich ungeachtet seines einleitenden Charakters flüssig, ja geradezu spannend liest. Die vor allem bei der Übersetzung in den deutschen Sprachraum entstandenen Probleme insbesondere bei der Literaturdarbietung lassen sich schnell beheben, beispielsweise in einer (höchst erwünschten) zweiten Auflage.
Für eine Neuauflage wäre (übrigens auch in den beiden italienischen Vorlagewerken) eine noch stärkere graphische Trennung von Editionen und Sekundärliteratur hilfreich. Vor allem die Editionen müssen auf dem letzten Stand sein, und für die studentischen Benutzer sollten wenigstens auch die deutschen und englischen Übersetzungen umfassend bibliographiert sein.