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Ausgabe:

Februar/1999

Spalte:

199–201

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Mulsow, Martin, Häfner, Ralph, Neumann, Florian u. Helmut Zedelmaier [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Johann Lorenz Mosheim (1693-1755).

Verlag:

Wiesbaden: Harrassowitz 1997. 407 S. gr.8 = Wolfenbütteler Forschungen, 77. Kart. DM 138,-. ISBN 3-447-03985-X.

Rezensent:

Stephen E. Buckwalter

Zuletzt im Jahre 1906 befaßte sich eine Monographie eingehend mit Leben und Werk des Helmstedter und Göttinger Kirchenhistorikers Johann Lorenz Mosheim. Diese "fast hundertjährige Zeit der Abstinenz" (13) der Mosheim-Forschung wird nun durch den anzuzeigenden Band eindrucksvoll nachgeholt: Vierzehn Beiträge aus den Bereichen der Philosophie, Theologie, Geschichte, Rechtsgeschichte und Philologie werfen neues Licht auf verschiedene Aspekte des Werkes dieses zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung stehenden Theologen und stellen die Weichen für die Forschung der kommenden Jahrzehnte. Zu verdanken haben wir dies der "Münchener Forschungsgruppe Frühe Neuzeit", der die Hgg. angehören. Sie veranstaltete im September 1994 ein fächerübergreifendes Symposion über Mosheim in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel und gibt nun die dort gehaltenen Referate sowie einige zusätzliche Beiträge der Öffentlichkeit als Buch weiter. Dieses enthält einen derart großen Reichtum an Informationen und Einsichten, daß eine knappe Besprechung es kaum angemessen würdigen kann. Es seien im folgenden zumindest einige Grundzüge erwähnt.

In einem einführenden Aufsatz hebt Helmut Zedelmaier die zukunftsweisende Bedeutung der radikalen Kritik Mosheims an der für seine Zeit typischen, von enzyklopädischer Sammelwut gekennzeichneten "historia litteraria" hervor. Die von Mosheim geforderte "Disziplinierung und Methodisierung im Umgang mit den Texten der Vergangenheit" zeichnet den Beginn einer "Entwicklung, die zu dem modernen Ensemble geisteswissenschaftlicher Disziplinen führte, die auch noch unser Forschen und Schreiben orientieren und disziplinieren" (43).

Martin Mulsow geht auf Mosheims besonderes Interesse für die als Ketzer verpönten Gestalten der Kirchengeschichte näher ein. Bei diesem Forschungsschwerpunkt war es Mosheim keineswegs daran gelegen, vormalige Ketzer zu "rehabilitieren" - was das tatsächliche Anliegen mancher auf ihn blickender Zeitgenossen war -, sondern eine nüchterne, die Affekte der historischen Akteure (und des Historikers selbst!) kritisch abwägende pragmatische Geschichtsmethode einzuüben.

Henning Graf Reventlow entdeckt in Mosheims Replik auf die umstrittenen theologiegeschichtlichen Thesen des Englischen Deisten John Toland zwar erste Anzeichen einer für die Aufklärung typischen exakten Wissenschaftsmethodik, in erster Linie jedoch die polemische und apologetische Tätigkeit eines gewöhnlichen Vertreters des orthodoxen Luthertums. Gewiß ist Mosheim "Begründer einer neuen Wissenschaftsepoche" (109). Es gilt jedoch auch festzuhalten: "Der Kirchengeschichtler wächst aus dem Polemiker und Apologeten heraus" (110).

Florian Neumann stellt die von der bisherigen Forschung postulierte Abhängigkeit Mosheims von der französischen und englischen Kirchengeschichtsschreibung in Frage und sieht Mosheims kirchenhistorischen Ansatz "aus seiner Tätigkeit als Prediger und akademischer Lehrer" (113) entspringen. Zu diesem lehrhaften Ansatz fand er unabhängig von den später von ihm konsultierten Werken westeuropäischer Kirchenhistoriker. Somit kann die Bezeichnung Mosheims als "Vater der neueren Kirchengeschichte" uneingeschränkt weiter gelten (146).

Das besonders Moderne an Mosheims historiographischem Ansatz sieht Ulrich Johannes Schneider in Mosheims Begriff der Kirche als eines menschlichen Vereins, der auf eine "erstaunliche Analogie" in der formalen Bestimmung von Kirche und Sekte hinausläuft (149) und "die Distanzierung des Historikers" impliziert (151). Wer die Kirche nicht als "substantielles Kontinuum" betrachtet, kann nicht mehr "alles geschichtlich Veränderliche daran ... relativieren" (156) .Der Kirchenhistoriker Mosheim verzichtet somit auf einen "aus der Darstellung selbst ausgenommenen eklektischen Standpunkt" (191).

Bei seiner Analyse von Mosheims kompliziertem Verhältnis zum Platonismus entdeckt Wilhelm Schmidt-Biggemann eine grundsätzliche Spannung im Ansatz des Kirchenhistorikers: Einerseits will Mosheim die als apostolische Praxis interpretierte Einfachheit der biblischen Offenbarung vor dogmatisch-philosophischer Überfremdung retten (205) - daher seine tiefe Abneigung gegen den Neuplatonismus -, andererseits ist er nicht bereit, auf eine "begriffliche Fassung seines Glaubens", zumal in bezug auf Trinität und Christologie, zu verzichten (210), wie seine posthum veröffentlichte Dogmatik zeigt. "Eine Antwort auf diese Spannung ist immer noch nicht in Sicht" (210), resümiert Schmidt-Biggemann.

Die Auseinandersetzung mit dem Neuplatonismus spielt ebenfalls in Sarah Huttons Beitrag über Mosheims Übersetzung und kritische Kommentierung von Ralph Cudworths True Intellectual System of the Universe eine zentrale Rolle. Mosheims Gebrauch der philologischen Analyse und seine nüchterne, weltliche Herangehensweise an die Philosophie der Antike markieren den Übergang vom synkretistischen Humanismus zum Klassizismus der Aufklärung und haben somit "mehr mit dem 20. als mit dem 17. Jahrhundert gemeinsam" (226).

Ralph Häfner würdigt am Beispiel der Origenes-Kritik Mosheims das Innovative an dessen historischer Hermeneutik: Er sieht es in der Beurteilung antiker und frühchristlicher Autoren "im Horizont der Denkmöglichkeiten ihres Zeitalters" (245) und in der Hervorhebung der Unterschiede zum eigenen Zeitalter (248) gegeben. Hiermit verbot sich für Mosheim ein vorschneller Vergleich Origenes’ etwa mit Xenophanes oder Spinoza.

Dem erwähnten Beitrag Reventlows entsprechend ordnet E. P. Meijering Mosheim klar in das Lager der lutherischen Orthodoxie ein. Gleichwohl sind wichtige Neuerungen gegenüber der Orthodoxie zu verzeichnen, etwa der Verzicht auf die Anführung von testes veritatis aus der Alten Kirche und des Mittelalters für die protestantische Lehre (268 f.) sowie überhaupt Mosheims Befreiung der Kirchengeschichte aus "der Vorherrschaft der orthodoxen Dogmatik" (274). Es bleibt jedoch bei der Feststellung: "Mosheims Methode stellt nur eine Erneuerung innerhalb der kirchlichen Orthodoxie dar" (275).

Bisher unerkannte Verbindungen Mosheims zur calixtinischen Tradition der Helmstedter Universität hebt Inge Mager hervor. Mit seiner in zahlreichen Reden thematisierten tiefen Aversion gegen theologisches Gezänk knüpft Mosheim "an die von Georg Calixt begründete irenische Tradition in Helmstedt an" (285). Freilich unterscheidet ihn von Calixt die Rückkehr "zu der in der Hl. Schrift enthaltenen göttlichen Offenbarung als alleinigem, unverrückbarem theologischem Maßstab" (289).

In seiner Untersuchung von Mosheim als Homiletiker sieht ihn Johann Anselm Steiger einerseits "in Sachen Versöhnungslehre und Passionsfrömmigkeit der Reformation und der Orthodoxie verhaftet" (317), andererseits jedoch durch eine vermeintliche "legalistische und leidensemphatische Tendenz" (323) ganz in der Tradition Karlstadts, Schwenckfelds und der mittelalterlichen imitatio-Christi-Frömmigkeit. "Mosheim ist der festen Überzeugung", so Steiger, "daß die menschliche Perfektibilität es dem Christen ermöglicht, vom Tun der Sünde abzulassen" (324). Diese Gesetzlichkeit habe Mosheim wiederum für die Pflichtethik der Aufklärung empfänglich gemacht.

Peter Landau konstatiert in der Vorstellung von der "Notwendigkeit des Lehramts" die einzige theologische Komponente in Mosheims Kirchenbegriff (331). Ansonsten verstehe dieser die Kirche als "innerweltliche Gesellschaft und Organisation, deren Veränderungen ohne den Rückgriff auf spirituelle Faktoren erklärt werden können" (343). Zwar schätzt Mosheim die "fundamentaldemokratische Verfassung" (333) der frühen Kirche hoch ein. Eine Vorbildfunktion habe sie aber aufgrund der sozialbedingten Unvermeidbarkeit der historischen Entwicklung bei ihm nicht (344). Deshalb kann Mosheim nur eingeschränkt als Anhänger der Kirchenverfassungstheorie des Kollegialismus im Sinne Christoph Matthäus Pfaffs gelten.

Die im Laufe der Jahre 1735 bis 1752 erschienene Sittenlehre der Heiligen Schrift Mosheims steht im Mittelpunkt der Ausführungen Friedrich Vollhardts. Interessant an diesem Werk ist Mosheims Erarbeitung einer sich auf die naturrechtliche Vernunft stützenden, jedoch sich von ihr eindeutig unterscheidenden christlichen Pflichtenlehre. In bewußter Nachahmung populärliterarischer Gattungen seiner Zeit richtet Mosheim außerdem in dieser Schrift die eigene Waffe der Religionsspötter - die Satire - gegen diese und überführt die aufklärerische Christentumskritik der mangelnden Wissenschaftlichkeit. Obwohl für Mosheim religiöse Pflichten Priorität vor bürgerlichen Pflichten haben, bemüht sich seine Sittenlehre um eine Vermittlung "zwischen christlicher Moral und civilem Ethos" (372).

Hochinteressante Angaben Ralph Häfners und Martin Mulsows zum Inhalt der Bibliothek Mosheims, die überraschend viel Reiseliteratur sowie zahlreiche Bücher in englischer Sprache umfaßte, schließen diesen reichhaltigen Band ab (373-399).

Die besprochenen Beiträge, die, wie schon anhand der obigen Ausführungen vermutet werden kann, keineswegs eine "gemeinsame Linie" vertreten, reißen schon durch ihre unterschiedlichen, zum Teil sich widersprechenden Ansätze eine Fülle von Fragen an. Ungelöst bleibt diejenige der Einordnung Mosheims in die geistes- und theologiegeschichtlichen Strömungen seiner Zeit. Bei einigen Autoren wird sie durch eine Verankerung in der Orthodoxie, bei anderen mit der Feststellung des Überwiegens profaner und aufklärerischer Motive beantwortet. Erwähnenswert ist der von Martin Mulsow im Vorwort gemachte Vorschlag, die unglückliche, für Mosheim noch immer benutzte Kategorie der "Übergangstheologie" mit derjenigen der "konservativen Aufklärung" oder der "vernünftigen Orthodoxie" zu ersetzen (13).

Der größte Vorzug dieses Bandes besteht ohne Zweifel in seiner Interdisziplinarität. Gerade für Theologen sind die Beiträge der Nicht-Theologen aufgrund wertvoller Einsichten in bisher wenig wahrgenommene philologische und philosophiegeschichtliche Implikationen des Werkes Mosheims von unschätzbarem Wert.

Freilich bleibt die hohe Beteiligung von Nicht-Theologen an diesem Band nicht ohne Spuren: Auf S. 197 f. wird der Leser mit der ungewöhnlichen Schreibweise "Monoteletismus" konfrontiert (korrekt dagegen auf 267), auf S. 188 Anm. 80 gar mit dem unsäglichen "neutestamentarisch"; auf den jeweiligen Autor nicht zurückzuführen dagegen ist die unglückliche Auslassung eines griechischen Wortes auf S. 108. Auf inhaltlicher Ebene vermißt man im gesamten Werk einen Hinweis auf die wichtige, Mosheim auch behandelnde Dissertation von Klaus Wetzel (Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660-1760, Gießen/Basel 1983).

Diese geringen Schönheitsfehler ändern jedoch nichts an der Tatsache, daß dieses Werk ein erfreuliches, gelungenes Beispiel fächerübergreifender Arbeit darstellt und einen unverzichtbaren Beitrag zur Geistes- und Theologiegeschichte des frühen 18. Jh.s leistet. Die Mosheim-Forschung erfährt einen gewaltigen Sprung nach vorne.