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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

309-311

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hartenstein, Judith

Titel/Untertitel:

Charakterisierung im Dialog. Maria Magdalena, Petrus, Thomas und die Mutter Jesu im Johannesevangelium.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; Fribourg: Academic Press Fribourg 2007. 347 S. gr.8° = Novum Testamentum et Orbis Antiquus. Studien zur Umwelt des Neuen Testamentes, 64. Geb. EUR 60,90. ISBN 978-3-525-53987-3 (Vandenhoeck & Ruprecht); 978-3-7278-1587-4 (Academic Press Fribourg).

Rezensent:

Tobias Nicklas

Bei dieser Arbeit handelt es sich um Judith Hartensteins unter der Begleitung von Angela Standhartinger in Marburg angenommene Habilitationsschrift des Jahres 2006. Die Vfn. ist aus ihren bisherigen Schriften als ausgewiesene Expertin in Sachen »Evangelienliteratur des 2. Jahrhunderts« bekannt. Diese Expertise bringt sie auch hier ein, erweitert ihr Profil aber sowohl in textlicher als auch methodologischer Hinsicht. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht das JohEv. In ihrer Untersuchung von Techniken der Charakterisierung von Jüngergestalten in diesem Text greift die Vfn. Impulse aus der Erzählforschung auf, führt sie aber kreativ weiter. Vollkommen mit Recht beobachtet sie nämlich, dass sich »die Darstellung von Personen im JohEv … nicht aus dem Text des Evangeliums allein erheben« (14) lässt: Der Text setzt ja Leserinnen und Leser voraus, die, anders als bei modernen Romanen, aus deren Analyse moderne Erzähltheorien erwachsen sind, schon mit ge­wissen Vorkenntnissen und Vorerwartungen an den Text herangehen.
Die Vfn. beansprucht zu Recht nicht, einen Lektürevorgang des 2. Jh.s zu beschreiben, in ihrem Ansatz, der eine historische Erweiterung erzähltheoretischer Konzepte bieten will, zieht sie vielmehr antike Vergleichstexte heran, in denen die gleichen Figuren wie im JohEv begegnen. Anhand dieser versucht sie eine »Rekonstruktion des historischen Kontextes des JohEv«, in der es ihr um die »zu verschiedenen Personen vorhandenen Vorstellungen« (beide Zitate auf S. 37) geht. Zwar lasse sich das tatsächliche Vorwissen antiker Leserinnen und Leser zu Einzelfiguren des JohEv kaum mehr erfassen, Zeugnisse aus ähnlicher Zeit wie das JohEv, in denen dieselben Figuren eine Rolle spielten, aber könnten helfen, mögliche Vorstellungen zu rekonstruieren. Das Problem liegt bereits in dem Begriff »ähnlich«: Bereits im Falle der Synoptiker ist ja nicht unumstritten, ob diese wirklich alle älter als das Johannesevangelium sind; die Vfn. aber geht weiter und interessiert sich auch für Texte eindeutig späteren Datums wie etwa das Mariaevangelium, das m. E. bereits das JohEv rezipiert. Dies wird zunächst damit gerechtfertigt, dass ja auch diese Texte ältere Traditionen beinhalten könnten. Da deren Rekonstruktion im Einzelnen aber immer sehr mit Hypothesen behaftet bleiben muss, entscheidet sich die Vfn. letztlich dann doch für den Vergleich der Texte in ihrer Endgestalt. Damit entsteht natürlich eine gewisse Schieflage zwischen historischer und narratologischer Fragestellung: Eine eindeutige Entscheidung zum intertextuellen »Nebeneinander«, die bewusst die diachrone Frage außer Acht lässt, wäre hier m. E. konsequenter gewesen.
In ihrer allgemeinen Analyse der Charakterisierung im JohEv werden nicht nur entscheidende erzählerische Techniken herausgearbeitet; wichtig erscheint mir hier vor allem das Ergebnis, dass beinahe alle Figuren als in hohem Maße ambivalent zu gelten haben. Man könnte das Spektrum der vorgeschlagenen Techniken allerdings eventuell erweitern: Manches Mal spielt wohl auch Charakterisierung auf Grund intertextueller Bezugnahme eine Rolle. So könnte man z. B. darüber nachdenken, ob nicht in der Osterszene Joh 20,1.11–18 Maria von Magdala wie die Liebende aus Hld 3 charakterisiert wird, die nun aber – anders als diese – den von ihr Geliebten nicht festhalten kann. Bereits hier kommt die Vfn. aber zu bemerkenswerten Beobachtungen: Besonders wichtig erscheint mir dabei der Gedanke der Offenheit der Charakterisierung; die Vfn. stellt das JohEv als Text voller Überraschungen dar, der immer wieder die Vorerwartungen von Leserinnen und Lesern durchkreuzt und der die Bedeutung des Handelns seiner Figuren nicht immer unmittelbar und eindeutig erkennbar macht. Sicherlich weiterführend ist auch der Gedanke, dass die Leser und Leserinnen des JohEv vor allem den Figuren des Textes nahestehen, die als zukünftige Jünger und Jüngerinnen auf dem Weg zu Jesus sind, dass aber auf Grund der komplexen Zeitstrukturen des Evangeliums mit seinen Zukunftsaussagen, die aus Sicht der Leser wiederum bereits Vergangenes betreffen, wiederum Distanzen zu den Figuren der Erzählung kreiert werden.
Nach diesen grundlegenden Beobachtungen wendet sich die Vfn. nun einzelnen Charakteren der erzählten Welt des Textes zu: Maria von Magdala, Petrus, Thomas sowie Maria, der Mutter Jesu, deren Rollen sie eben nicht nur aus Joh selbst, sondern auch mit Hilfe anderer antiker christlicher Evangelien beleuchtet. Dabei gelingt der Vfn. eine Vielzahl wertvoller Beobachtungen am Text, die nicht im Einzelnen angesprochen werden können. In vielen Fällen zeigen sich die Vergleichstexte als wirklich hilfreich, um das Bild der verschiedenen Figuren im JohEv schärfer zu profilieren. So arbeitet die Vfn. durch den Vergleich mit Passagen aus den Synoptikern, dem EvThom und dem EvPhil heraus, wie sehr in der joh Zeichnung der Maria von Magdala Geschlechterrollen überschritten sind (137 f.). Interessant sind auch die strukturellen Parallelen, die die Vfn. zwischen der Botschaft Marias in den Synoptikern und der bei Joh entdeckt: »Bei Mk und Mt ist die wichtigste räumliche Bewegung Jesu sein Weg von Galiläa nach Jerusalem, hier steht die Rückkehr zum Ausgangspunkt für den möglichen Neuanfang. Im JohEv kommt Jesus von oben, vom Vater, und kehrt auch wieder dorthin zurück, hier wird die schon vorher angekündigte Rück­kehr beschrieben« (146). Vor allem anhand von Joh 20,1–18 erkennt die Vfn. eine Überlegenheit Marias gegenüber Petrus, den sie als »von ihren Informationen abhängig, … in seinem Erleben als vorläufig« (151) beschreibt. Im Zusammenhang mit der Petrusgestalt beobachtet sie ein Zueinander zweier Tendenzen: Verstärkung der Autorität bei gleichzeitiger Kritik; das Gesamtbild aber bleibe positiv. Anders als in anderen frühchristlichen Schriften sei Petrus »im JohEv viel stärker … in die Gruppe der JüngerInnen eingeordnet und auf andere angewiesen; denn auch andere JüngerInnen haben im JohEv besondere Funktionen bei Berufung, Bekenntnis oder Erscheinung« (298). Wird, wie die Vfn. betont, im JohEv auch eine (bereits vorgegebene?) Autorität des Thomas in Frage gestellt? Dies ist möglich – gerade hier aber stößt die angewandte Methode m. E. doch am stärksten an Grenzen, da wir zu dieser Gestalt und ihrer Zeichnung im JohEv kaum Paralleltexte haben (und da das literarische Verhältnis etwa des EvThom zu Joh doch sehr umstritten ist). Richtig ist sicherlich auch die Beobachtung, dass die »Mutter Jesu« im JohEv, obwohl als solche bezeichnet, weniger in ihrer Mutterrolle als in ihrer Funktion als Jüngerin zu sehen ist.
Trotz der Kritik am Detail der methodischen Reflexion zeigt sich der Zugang der Vfn. als überaus originell und ergiebig: Das Gesamtbild der Figurenwelt des Johannesevangeliums wird in sich stimmig interpretiert, manch konträre Auffassungen bisheriger Forschung werden überwunden bzw. integriert. Der angewandte intertextuelle Zugang könnte sich bei entsprechender Adaption auch im Zusammenhang mit anderen frühchristlichen Texten als ertragreich erweisen.