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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

307-309

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Focant, Camille

Titel/Untertitel:

Marc, un évangile étonnant. Recueil d’essais.

Verlag:

Leuven: Leuven University Press; Leuven-Paris-Dudley: Peeters 2006. XV, 402 S. gr.8° = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 194. Kart. EUR 60,00. ISBN 90-5867-512-2 (Leuven University Press); 978-90-429-1699-9 (Peeters).

Rezensent:

Eve-Marie Becker

Der Band des Leuvener katholischen Neutestamentlers Camille Focant stellt eine Sammlung von Aufsätzen und Beiträgen zur Exegese des Markus-Evangeliums dar. Die insgesamt 19 Beiträge sind zwischen 1975 und 2005 entstanden. Sie wurden überwiegend in diversen wichtigen Tagungsbänden, aber auch in einschlägigen Zeitschriften (Revue théologique de Louvain, Revue biblique und New Testament Studies) ausnahmslos auf Französisch veröffentlicht (nur Beitrag Nr. 6: »La construction du personnage de Simon-Pierre dans le second évangile«, 2005 [95–113] war bisher unveröffentlicht). Das Ziel der Sammlung erläutert der Vf. im Vorwort (VII): Die Einzelbeiträge dienten der vorbereitenden Arbeit an dem 2004 erschienenen Kommentar zum Markus-Evangelium (C. Focant, L’évangile selon Marc, Paris 2004, 662 S. [Commentaires bibliques. Nouveau Testament 2], vgl. z. B. die Rezension von S. P. Kealy in RBL 01/2005). Die vorliegende Aufsatz-Sammlung soll im Sinne eines companion book den Zugang zu den einzelnen exegetischen Beiträgen, die im Hintergrund der Arbeit am Kommentar-Werk stehen, erleichtern.
Die Anordnung der Beiträge ist nicht chronologisch, sondern thematisch (»du général au particulier«): Fragen zur Datierung und Textgeschichte (Nr. 1 und 2) eröffnen den Band, gefolgt von weiteren allgemeinen Beiträgen (Nr. 3–6): zur markinischen Darstellung des Gesetzes (Nr. 3), zum Jüngerunverständnis im Markus-Evangelium (Nr. 4), zur Rolle sog. Neben-Personen in Heilungsberichten und Exorzismen (Nr. 5) und zur Konstruktion der Petrus-Figur (Nr. 6). Die Beiträge Nr. 7–19 befassen sich nach der Textabfolge im Evangelium mit Einzelanalysen, z. B. zum Markus-Prolog (Nr. 7), zu Mk 2,1–3,6 (Nr. 8), zu Mk 4,10–12 (Nr. 9), zu Mk 6,14–29 (Nr. 10), zu den narrativen Dubletten in 6,6b–8,26 (Nr. 11) oder zu Mk 7,24–31 (Nr. 12). Die Beiträge Nr. 13 bis 16 greifen Einzelfragen aus dem Bereich der Passionsgeschichte auf. Schließlich befasst sich der Vf. mit dem originalen Markus-Schluss in 16,8 (Nr. 17) und seiner narrativen Funktion (Nr. 18) sowie mit der »finale longue« in Mk 16,9–20 (Nr. 19). Die Beiträge haben eine durchschnittliche Länge von ca. 20 Seiten. Der Band wird durch ein Autoren- und Stellenregister abgeschlossen (383–402). Die einzelnen Beiträge zeigen jeweils eine übersichtliche und klare Gliederung (Einleitung, Analyse, Konklusion/Folgerungen). Sie zeugen von profunder Sach- und Literaturkenntnis und exegetisch überwiegend präziser Textarbeit.
Im Rahmen dieser Rezension kann ich nur wenige Beiträge ausführlicher würdigen: Im Blick auf die Datierung des Markus-Evangeliums (Nr. 1: »La chute de Jérusalem et la datation des évangiles«, 1–20; zuerst veröffentlicht: 1988) plädiert der Vf. vor allem auf der Basis des synoptischen Vergleiches von Mk 13,1–4; 13,14–20 und einer Analyse von Lk 19,41–44 sowie Mt 22,1–14 dafür, das Markus-Evangelium zeitlich vor 70, d. h. zwischen 65 und 70 n. Chr. zu datieren: Die markinischen Texte zeigten – im Unterschied zur Endredaktion in Matthäus und Lukas – keine deutliche Kenntnis der Kriegsereignisse (20). Im zweiten Beitrag (»Un fragment du second évangile à Qumrân 7Q5 = Mc 6,52–53?«, 21–29; zuerst veröffentlicht: 1985) diskutiert der Vf. die 1972 von O’Callaghan aufgestellte und 1984 von Thiede erneuerte These, 7Q5 sei als Fragment von Mk 6,52–53 zu betrachten, im Rahmen der damals noch neuen Fragestellung. Demzufolge könnte – gleichwohl abhängig von der auch unter Paläographen umstrittenen Datierung von 7Q5 – zumindest ein Teil des Evangeliums vielleicht bereits vor 50 n. Chr. in Qumran bekannt gewesen sein. Der Vf. allerdings weist neben einer Vielzahl anderer Fragen auch bereits auf die Probleme und Unsicherheiten hin, die mit der Rekonstruktion des Wortlauts von 7Q5 auf der Basis von letztlich nur neun sicher erkennbaren Buchstaben verbunden sind (22 ff.).
Der 15. Beitrag (»Vérité historique et vérité narrative. Le récit de la Passion en Marc«, 305–320; zuerst veröffentlicht: 2000) beschäftigt sich vor dem Hintergrund geschichtsphilosophischer und -theoretischer Debatten (z. B. P. Ricœur, 1955) mit der Frage nach dem Verhältnis von historischer und narrativer ›Wahrheit‹ in der markinischen Passionserzählung. Der Vf. kommt dabei zum Schluss, dass zwar die Hinrichtung Jesu, kaum aber einzelne Erzählelemente im Blick auf deren ›historischen Wahrheitsgehalt‹ diskutiert werden könnten (320): Die historische Wahrheit erschließe sich vielmehr jenseits der chronologischen Erfassung der Passionsereignisse, gleichsam auf einer meta-physischen symbolischen Sinnebene (»sens symbolique«). Der Vf. versteht dies aber weniger als eine literaturgeschichtliche denn als eine philosophisch-theologische Lö­sung im Diskurs über die Bewertung historiographischer Erzählelemente im Markus-Evangelium.
Fazit: Sowohl in den Einzelbeiträgen als auch in deren anthologischer Zusammenstellung wird zum einen ein breites Interesse an– auch in methodischer Hinsicht – unterschiedlichen exegetischen Fragestellungen erkennbar. Der Vf. arbeitet dabei insgesamt auf der Basis einer interessanten Verschränkung synchroner und diachroner Perspektiven (z. B. Literar- bzw. Quellenkritik und narrative Konstruktionen im Markus-Evangelium, z. B. Beitrag Nr. 4). Zum anderen zeigt sich ein hohes Maß an exegetischer Genauigkeit und Präzision in der frankophonen Exegese, die zudem be­sonders durch die multilinguale Wahrnehmung von Forschungsergebnissen aus dem frankophonen, anglophonen, skandinavischen und deutschsprachigen Bereich der Markus-Exegese gekennzeichnet ist. Der Vf. gehört zweifellos nicht nur dadurch zu den weltweit führenden Markus-Exegeten. Die erneute Ausgabe und Veröffentlichung der Einzelbeiträge stellt – wie vom Vf. gewünscht – eine wichtige Ergänzung für die Rezeption des Kommentar-Werkes dar. Dass die Beiträge aus einem Zeitraum von 30 Jahren in weitgehend unveränderter Form zum Wiederabdruck gelangten, birgt allerdings auch Schwierigkeiten: Die weitere Entwicklung der Forschungsdiskussionen lässt sich so nicht nachzeichnen. In dieser Hinsicht wäre gerade ein sachlich-kritisches update zumindest der Beiträge, die älter als ca. fünf bis acht Jahre sind, für den Leser unter der Leitfrage spannend: Wie würde der Vf. seine früheren Beiträge aus der Sicht des Forschungsstandes im Jahre 2006 beurteilen? Nur der älteste Beitrag von 1975 (Nr. 4) enthält am Ende ein bibliographisches update (79–81) bis 2002.
So liegt das Verdienst dieses Bandes mehr in der forschungsgeschichtlichen Dokumentation von exegetischen Beiträgen eines wichtigen Markus-Exegeten als in einer unmittelbaren Einflussnahme auf den aktuellen exegetischen Diskurs etwa über Fragen der Datierung des Markus-Evangeliums oder der Deutung des Evangeliums-Schlusses. Gleichwohl mahnt die anregende multilinguale Rezeption exegetischer Forschung besonders im deutschsprachigen und anglophonen Kontext zur Nachahmung.