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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

305-307

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Clarke, Andrew D.

Titel/Untertitel:

A Pauline Theology of Church Leadership.

Verlag:

London-New York: T & T Clark (Continuum) 2008. VIII, 212 S. gr.8° = Library of New Testament Studies, 362. Geb. £ 65,00. ISBN 978-0-567-04560-7.

Rezensent:

Walter Klaiber

Die Frage nach der Leitungsverantwortung in Gemeinde und Kirche ist aktueller denn je. Im charismatischen Bereich sucht man mehr »Leiterschaft« – ein Neologismus, der dem englischen lead­ership nachgebildet ist; in der ökumenischen Diskussion ist die Frage des Amtes umstrittener denn je. Ein Buch, das eine paulinische Theologie der Kirchenleitung anbietet, kann also mit gesteigertem Interesse rechnen.
Andrew Clarke, Dozent für Neues Testament an der Universität von Aberdeen, ist für diese Aufgabe gut gerüstet. 1993 erschien in AGSU 18 seine Dissertation: Secular and Christian Leadership in Corinth. A Socio-Historical and Exegetical Study of 1 Corinthians, und im Jahr 2000 veröffentlichte er in der Reihe: First-Century Chris­tians in the Graeco-Roman World die Studie Serve the Community of the Church. Christians as Leaders and Ministers. Beide Arbeiten vergleichen Führungsmodelle in der antiken Gesellschaft mit dem entsprechenden Befund in den paulinischen Briefen. In seinem neuen Buch will C. auf Grund von historischen und soziologischen Analysen eine systematische Behandlung der Frage bieten, nach welchen Grundsätzen und mit welchen Mitteln in den paulinischen Gemeinden Leitung ausgeübt wurde.
Das Werk zeichnet sich durch ein hohes Maß an methodischer Reflexion aus. Auf ein erstes Kapitel über methodische Fragen, das vor allem historische Fragen behandelt, folgt ein zweites zu hermeneutischen Problemen, das sehr differenziert über die Bedingungen unseres Verstehens biblischer Texte reflektiert. Hier setzt sich C. mit den postmodernen Zweifeln an der Möglichkeit und Sinnhaftigkeit des Versuchs auseinander, die Intention biblischer Autoren zu eruieren oder gar als autoritative Weisung zu betrachten. Er nimmt diese Anfragen ernst, findet aber doch zu einem vorsich­tigen Optimismus, dass bei entsprechend selbstkritischem Vor­gehen im Kontext einer forschenden (akademischen oder kirchlichen?) Gemeinschaft zwar keine einheitlichen Schlussfolgerungen, aber doch verlässliche Ergebnisse zu erwarten sind. Angesichts dieser methodischen Vorsicht überrascht es, dass C. die Deuteropaulinen und die Pastoralbriefe von vorne herein in die Untersuchung einbezieht. Das entspricht einem Vor-Urteil C.s, das sich dann als Ergebnis der Untersuchung bestätigt, dass es zwischen den frühen Paulusbriefen und den späteren Teilen des Corpus Paulinum (einschließlich der Darstellung des kirchenleitenden Handelns des Apostels in der Apostelgeschichte) nur graduelle Unterschiede gibt.
Allerdings bietet C. dann im Folgenden eine sehr differenzierte Darstellung der Art und Weise, wie in den Paulusbriefen Leitungsautorität und -verantwortung durch den Apostel und andere Personen wahrgenommen wird. Er untersucht zunächst die Titel, die für Führungspersonen verwendet werden, und registriert die oft besprochene Tatsache, dass gerade die Begriffe fehlen, die in der Gesellschaft Führungsanspruch signalisieren. Dann geht es um den Status, den leitende Persönlichkeiten einnehmen, um die Autorität (power), die sie beanspruchen, um die Aufgaben, die sie wahrnehmen, und um die Mittel (tools), die sie zur Verfügung haben, um ihre Leitungsaufgaben wahrzunehmen. C. untersucht die entsprechenden Fragen sehr umsichtig im Gespräch mit der neueren (englischsprachigen) Forschung. Die oft beachtenswerten Einzelüberlegungen und -ergebnisse können im Rahmen einer Rezension nicht referiert werden. Wir müssen uns hier mit Hinweisen auf das Gesamtergebnis begnügen.
Ein erklärtes Ziel der Arbeit ist es, deutlich zu machen, dass es in den paulinischen Gemeinden von Anfang an nicht so etwas wie eine »egalitäre« Gemeindeordnung gegeben hat. Diese Auffassung hält C. für einen exegetischen Mythos im Protestantismus des 19. und 20. Jh.s. Er betont, dass es auch in den frühesten Paulusbriefen deutliche Ansätze für eine hierarchisch gegliederte Ordnung gibt, und verweist dazu auf Stellen wie 1Kor 16,15–18 oder 1Th 5,12 f. Diese Beobachtungen stützen dann auch seine Auffassung von einer grundsätzlichen Kontinuität in der theologischen Bewertung von Gemeindeleitung im ganzen Corpus Paulinum. Andererseits wendet sich C. an mehreren Stellen gegen den Vorwurf, die paulinische Gemeindeparänese ziele auf eine autoritäre und manipulative Uniformierung und Gleichschaltung des theologischen Denkens in den Gemeinden, was sich insbesondere in der Mahnung, seinem Vorbild zu folgen, ausdrücke. C. setzt sich hier mit der Arbeit von E. A. Castelli, Imitating Paul: A Discourse of Power, 1991, auseinander und weist nach, dass Paulus – in gewissen Grenzen – durchaus die Vielfalt der Meinungen und Verhaltensweisen in den Gemeinden fördert und schützt.
Der Kernpunkt der historischen und soziologischen Argumentation ist allerdings der Versuch zu zeigen, dass die Autoritätsstrukturen in den paulinischen Gemeinden von den frühen bis zu den späten Briefen auf der Existenz von Hausgemeinden und damit auf der Metaphorik des »Hauses« (household) beruhen. Das Bild vom Leib bietet eine wichtige Ergänzung, ist aber auch hierarchisch strukturiert und widerspricht nicht dem grundlegenden Gedanken einer Leitung durch »Hausväter« (und gelegentlich wohl auch »Hausmütter«). Dieser ist bestimmend, auch wo für diese Funktionen noch keine festen Titel verwendet werden, wie z. B. im 1Kor oder 1Thess; er prägt aber auch die Bedeutung der sich nach und nach ausbildenden Begriffe für die Leitungsfunktionen: Der ἐπίσκοπος ist Leiter einer solchen Hausgemeinde, der in der Regel auch den Auftrag zu lehren hatte. C. übersetzt das Wort konsequent mit overseer, um die Funktion klar von der des späteren monarchischen Bischofs zu unterscheiden, die erst nötig wurde, als sich nachneutestamentlich in einzelnen Städten Gesamtgemeinden bildeten. Das ist die Situation, die bei Ignatius vorausgesetzt wird, aber noch nicht im Corpus Paulinum. An Orten mit mehreren Hausgemeinden bildeten die Episkopen den Rat der »Ältesten«, zu dem auch andere Respektspersonen in der Gemeinde hinzugezogen wurden, die den Titel πρεσβύτερος trugen, aber keine Lehrbefugnis hatten. Auch die Diakone waren zur Unterstützung der Episkopen in den Hausgemeinden verankert; ihre Aufgaben bleiben relativ unklar. Von diesem Verständnis aus kann C. Phil 1,1 ebenfalls gut erklären. Seine Situationsanalyse begründet aber auch, warum sich die Aussagen über Gemeindeleitung bei Paulus nicht direkt auf die nachneutestamentliche Gemeindewirklichkeit einer an einem Ort versammelten Gemeinde übertragen lässt.
Die einzige Autorität, die bei Paulus der ganzen Gemeinde gegenüber ausgeübt wird, ist die des Apostels. Aber auch er hat wie alle »Amtsträger« nur zwei Instrumente für die Ausübung von Leitung und Autorität, nämlich die des Vorbildes und der Überzeugung (persuasion). Er nützt sie in seinen Briefen auf eine sehr persönliche und der Situation angepasste Weise. Die Betonung der Lehre und der vorbildlichen Lebensführung in den Pastoralbriefen folgt dem gleichen Prinzip. Trotz der teilweise sehr sorgfältigen Beweisführung bleiben Fragen und Einwände gegen diese Rekonstruktion. Ich spreche drei unterschiedliche Ebenen an:
1. Historisch scheint fraglich, ob Gemeindeleitung in allen paulinischen Gemeinden so einlinig auf die Leitung der Hausgemeinden und das Bild des »Haushaltes« ausgerichtet ist. Die Argumentation des Paulus in den Korintherbriefen lässt sich aus dieser Sicht schwer nachvollziehen. Auch die Art, wie der Apostel seine Autorität ausübt, passt nur teilweise in dieses Bild. Dass C. die Pastoralbriefe gleichrangig in seine Untersuchung mit einbezieht, be­stimmt seine Sicht stärker, als er wahrhaben möchte – wobei er über die (fiktive?) Autorität eines Timotheus oder Titus kaum re­flektiert!
2. C. verspricht im Titel des Buches eine paulinische Theologie von Gemeindeleitung. Aber die Verknüpfung mit dem theologischen Denken des Paulus kommt zu kurz. Durch sie hätte die dialektische Art, in der Paulus seine Autorität ins Spiel bringt und Autorität in der Gemeinde fördert, sehr viel prägnanter herausgearbeitet werden können.
3. C. beschränkt sich in seiner Literaturauswahl fast ausschließlich auf Werke, die in englischer Sprache erschienen sind. Die Auseinandersetzung mit grundlegenden deutschsprachigen Arbeiten wie denen von W.-H. Ollrog oder J. Roloff wäre aber für seine Fragestellung hilfreich gewesen.
Trotz dieser Anfragen gibt die Arbeit von C. wichtige Einblicke in die Thematik und hilfreiche Impulse für die weitere Diskussion und ist deshalb sehr zu empfehlen.