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Ausgabe:

März/2009

Spalte:

302-304

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Boers, Hendrikus

Titel/Untertitel:

Christ in the Letters of Paul. In Place of Chris­tology.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2006. XII, 361 S. gr.8° = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 140. Lw. EUR 98,00. ISBN 978-3-11-018992-6.

Rezensent:

Christof Landmesser

Christus ist für die Botschaft des Paulus das Fundament. Das heilvolle Handeln Gottes lässt sich nach den paulinischen Briefen nicht von dieser Einsicht abgelöst betrachten. Dies muss auch zugestanden werden, wenn für die Texte des Paulus eine explizite christologische Lehre bestritten wird. Beide Aspekte bilden den Ausgangspunkt der Untersuchung von B.: Christus bilde einen wichtigen Faktor im Denken des Paulus (1), mit Christus verbinde Paulus allerdings keine theologische Idee (2), kein theologisches System und keine Lehre, eine paulinische Christologie lasse sich nicht rekonstruieren (6), vielmehr gewinne Christus für Paulus selbst und für seine Adressaten in besonderen Lebenssituationen eine je spezifische Bedeutung.
Die Untersuchung von B. hat zwei Teile. Im ersten Hauptteil rekonstruiert er die Bedeutung Christi für Paulus persönlich (8–106), im zweiten Hauptteil folgt die Erörterung der Bedeutung Christi für die Glaubenden (107–341). Mit einer knappen Abwägung der erarbeiteten Gesichtspunkte schließt die Untersuchung (342–352). Großes Gewicht legt B. auf eine genaue Kenntnisnahme der von ihm diskutierten Texte. Dazu bietet er immer wieder die griechischen Texte als ausführliche Zitate. Bei langen Zitaten wird so die Lektüre erschwert, wie etwa in der in fünf thematische Kolumnen aufgeteilten Darbietung von 1Kor 1–4 (117–134). Hilfreich sind dagegen die immer wieder von B. mit der Zitierung gebotenen Strukturen der Texte (z. B. zu Gal 3,6–14; 237).
In beiden Hauptteilen geht B. so vor, dass er von ihm für wichtig erachtete Texte analysiert und weitere, thematisch zuzuordnende Texte in sog. Exkursen genauer untersucht, um dann unter Beachtung anderer einschlägiger Briefstellen seine Thesen zu formulieren. – In technischer Hinsicht fällt das wenig übersichtliche Inhaltsverzeichnis auf; Stichwort- und Stellenverzeichnisse fehlen.
Die im ersten Teil entfaltete Bedeutung des Christus für Paulus hat nach B. ihre Grundlage in der Begegnung des Paulus mit Chris­tus (8). Nach Phil 3,2–11 relativierte die Christusbegegnung die Selbsteinschätzung des Paulus und seiner jüdischen Vergangenheit (8–12). In der Auseinandersetzung des Paulus mit Petrus im antiochenischen Konflikt (Gal 2,11–16) diene dem Paulus die von ihm erlebte Begegnung mit Christus zur Stützung seiner Verkündigung des Evangeliums gegenüber seinen Kontrahenten (vgl. etwa 17). Auch in einer ganz anderen Situation, wie Paulus sie in 1Kor 9,1 voraussetze, stütze sich dieser in der Verteidigung seines Apostolates auf die Begegnung mit Christus (21–25). In jedem Fall habe sich Christus als eine lebendige Realität für Paulus erwiesen, wobei je die Ereignisse von Tod, Auferstehung und Parusie des Christus wesentlich gewesen seien (31).
Die drei genannten Ereignisse würden von Paulus jedoch nicht in systematisierender Absicht abstrahiert, was freilich nicht bedeute, dass Christus in der Botschaft des Paulus eine nur funktionale Bedeutung habe (33; vgl. auch 56). Auch hier erscheint wieder die sich im gesamten Buch häufig wiederholende Behauptung, dass Paulus keine christologische Lehre entwickelt habe. Dies sieht B. bestätigt in seiner Interpretation von Röm 7 f. (36–57). Röm 7,7–25 liest B. als eine Beschreibung der gegenwärtigen Existenz des Paulus, aus der dieser in Röm 8 Schlüsse für die Leser des Briefes ziehe (56). An dieser Stelle der Untersuchung werden zwei ihrer wesentlichen Mängel deutlich. Zum einen werden gerade zu diesem schwierigen Komplex des Römerbriefes wichtige jüngere, philologisch gründliche Untersuchungen schlicht ignoriert (z. B. Hofius, Lichtenberger). Zum anderen werden begriffliche Unterbestimmtheiten deutlich, wenn ›dogmatische Wahrheiten‹ den ›Realitäten des neuen Lebens‹ entgegengesetzt werden oder wenn die Unterscheidung von fides quae creditur von der fides qua creditur abgelehnt wird zu Gunsten einer Bestimmung des Glaubens als einer Ergriffenheit durch die Realität des Christus (56). Worin der behauptete Gegensatz bestehen soll, bleibt völlig unklar, weil B. sich weder um die abgelehnte Unterscheidung noch um seine eigene Bestimmung in einer begrifflichen Näherbestimmung bemüht.
Auch der zweite Hauptteil wird bestimmt durch die durchaus systematische und nicht weiter begründete Vorentscheidung von B., dass in den Briefen des Paulus keine christologische Lehre zu finden sei. Dennoch hat auch nach B. Christus selbstverständlich eine große Bedeutung für die Glaubenden. Immerhin verweist Paulus – wie B. richtig erkennt – etwa in 1Kor 2,2 oder 1Kor 15 ausdrücklich auf Christus als das Thema seiner Verkündigung. Im Anschluss an seine ausführliche Paraphrase zu 1Kor 1,4–4,21 (112–155) stellt B. wie auch an anderen Stellen fest, dass für die Leser der Paulusbriefe Christus nicht aus einer direkten Begegnung mit ihnen an Bedeutung gewinne, wie dies für Paulus der Fall gewesen sei, vielmehr geschehe dies durch die Verkündigung des Paulus (154). Ein wichtiger Text zur Bedeutung des Christus für die Glaubenden ist nach B. 1Thess 5,1–11 (175–195). Hier rekonstruiert B. fünf Ebenen der Bedeutung des Christus für die Glaubenden: 1. die Tatsache des Todes Jesu, 2. der Tod Jesu als Geschehen ›für uns‹, 3. die zukünftige Erwartung des Heils (V. 9), 4. die Bedeutung des Todes Jesu, die darin bestehe, dass wir mit ihm leben (V. 10b), 5. die paränetische Ebene, mit der Paulus verdeutliche, dass seine christologischen Aussagen seine Paränese begründen sollen (zu diesen Ebenen vgl. auch die Zusammenfassung, 347). – Diese fünf Ebenen der christologischen Argumentation dienen B. als Maßstab der Betrachtung weiterer Texte, in denen die Bedeutung des Christus für die Glaubenden zu erkennen sei. – Eine weitere Entwicklung christologischer Gedanken erkennt B. in 2Kor 5,11–6,10 (213–234) sowie in Gal 3 (234–259). Auch hier – wie an weiteren Stellen der Paulusbriefe – erkennt er zumindest teilweise die in 1Thess 5,1–10 identifizierten Ebenen der christologischen Argumentation, nicht aber eine chris­tologische Fundierung seiner Verkündigung (vgl. auch 348–350).
B. versucht, den Eindruck zu vermeiden, dass Paulus eine chris­tologische Lehre entwickelt habe, ohne freilich zu klären, was er unter einer solchen verstanden haben will. Mit dieser These bleibt B. im Modus der Behauptung, eine argumentative Auseinandersetzung mit gegenteiligen oder sich um begriffliche Differenzierungen bemühenden Interpretationen findet sich allenfalls am Rande. B. gewinnt in seiner Untersuchung nicht die Einsicht, dass er sich mit der Bestreitung einer zumindest impliziten Christologie in den Paulusbriefen mehr Schwierigkeiten schafft, als er solche vermeidet. Sicher hat Paulus kein geschlossenes christologisches System entwickelt, auf das er je nach Situation zurückgreifen könnte. B. verdeckt freilich den inneren Zusammenhang der christologischen Aussagen in den Paulusbriefen und deren Entwicklung, wenn er nur auf deren situative Bedeutung abhebt. Damit bleibt die Funktion des Christus in der Botschaft des Paulus wesentlich unterbestimmt. Dass B. zu einzelnen Texten, die er ausführlich untersucht, schöne Detailbeobachtungen macht, bleibt unbenommen.